Gladbeck. Horst Schumann war leitender Arzt der Tötungsanstalten Grafeneck und Pirna-Sonnenstein. Das Museum wirft einen Blick auf sein grausames Wirken.

Wenn jemand den Beruf eines Arztes ergreift, will er Menschen heilen und ihnen Gutes angedeihen lassen. Sollte man wenigstens meinen. Wer aber Dr. Horst Schumann während der Hitler-Zeit in die Hände geriet, war des Todes. Der Arzt, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs unbehelligt in Gladbeck praktizierte, ließ fast 20.000 Menschen töten. Er drehte sogar selbst den Gashahn auf. Eine Ausstellung im Museum in Wittringen wirft ein Licht auf das grausige Treiben des Mannes. Das Publikum erfährt auch neue, bislang nicht veröffentliche Informationen über dessen Flucht und die krimireife, spektakuläre Festnahme des Vergasungsarztes.

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„Vergessenen Opfern“ der sogenannten Euthanasie unter dem Regime der Nationalsozialisten ist diese Sonderschau gewidmet. Ganz vergessen sind jene Menschen in Gladbeck zwar nicht, immerhin gibt es eine Gedenkstätte in den Rathaus-Arkaden. Aber was die Opfer erlitten haben, all‘ die barbarischen Einzelheiten, dürften allgemein eher im Dunkeln liegen. Um es warnend vorwegzunehmen: Die Ausstellung ist streckenweise nichts für schwache Nerven. Exponate wie Briefe und Dokumente geben einen Einblick in die Vorgänge jener Zeit und ins Privatleben Schumanns.

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Allein das medizinische Gerät und Laborutensilien in den Vitrinen jagen Betrachtern eine Gänsehaut über den Körper. Okay, Skalpell und Harnröhrenbougies zur Erweiterung der Urethra sind auch heutzutage noch in Gebrauch, lassen einen dennoch schaudern. Erst recht die riesige „Original-Record-Spritze“.

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Aber wer sich in die Dias, Auschwitz-Dokumente und ausgestellten Beiträge vertieft, die Fotos der Opfer anschaut, ist sprachlos ob der entmenschten, erbarmungslosen Brutalität der Täter samt Umfeld. Wie Dr. Horst Schumann, der Vergasungsarzt. Seriös schaut er auf Bildern aus, harmlos. Dabei war er alles andere als das. Susanne Peters-Schildgen, Leiterin des Museums der Stadt Gladbeck: „Horst Schumann war leitender Arzt der Tötungsanstalten Grafeneck und Pirna-Sonnenstein. Er verantwortete die Ermordung von mehr als 15.000 Menschen.“

Spritzen und andere medizinische Utensilien sind in der Sonderausstellung im Gladbecker Museum ausgestellt.
Spritzen und andere medizinische Utensilien sind in der Sonderausstellung im Gladbecker Museum ausgestellt. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Geboren wurde Horst Schumann am 1. Mai 1906 in Halle an der Saale. Der Arztsohn studierte Medizin, heiratete, wurde Vater von drei Kindern, Assistenzarzt, Mitarbeiter im städtischen Gesundheitsamt Halle und Amtsarzt. So weit, so gut. Weitere Lebensstationen auf der Karriereleiter des ehrgeizigen Mediziners waren unter anderem: SA-Standartenarzt, stellvertretender Gauobmann des NS-Ärztebundes und Chefarzt der „Geheimen Staatspolizei“.

Der Gladbecker Manfred Samen hat recheriert

Manfred Samen, ein trefflicher Kenner Gladbecker Lokalhistorie und der Materie Schumann, hat umfangreiche Recherchen aufgenommen und – aus heutiger Sicht – Unglaubliches zutage gefördert. So erhielt Schumann im Winter 1939/1940 den Auftrag, die erste der „T4-Tötungsanstalten“, benannt nach der Organisationszentrale Tiergartenstraße 4 in Berlin, in der Behinderteneinrichtung Grafeneck zu installieren. Der seinerzeit 33-Jährige genoss den Ruf, politisch fester Gesinnung und damit unbedingt zuverlässig zu sein.

Horst Schumann unternahm auch medizinische Experimente

„Hier in Grafeneck wurde zum ersten Mal die Technologie der Massentötung praktiziert“, schreibt Manfred Samen in einem seiner Beiträge für die Publikation „Gladbeck unsere Stadt“.

Öffnungszeiten und weitere Infos

Die Sonderausstellung „Vergessene Opfer der NS-,Euthanasie‘ – Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940-1945“, die im Museum der Stadt Gladbeck an der Burgstraße 64 in Wittringen zu sehen ist, läuft noch bis zum 28. April. Bei der Schau handelt es sich um eine Kooperation mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein.

Das Gladbecker Museum ist dienstags bis sonntags zwischen 11 und 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.

Begleitend zur Sonderausstellung bietet das Museum etwa einstündige, geführte Rundgänge an. Kontakt und weitere Informationen: 02043/23029, museum@stadt-gladbeck.de, www.museum-gladbeck.de

Matthias Dudde hält am 11. April einen Vortrag über „NS-,Euthanasie‘ in Gladbeck – Täter und Opfer“. Beginn: 19 Uhr.

Um den „Umgang mit der Vergangenheit – Gedenken und Erinnern in Gladbeck“ geht‘s in einer Gesprächsrunde am 25. April ab 19 Uhr. Mit dabei sind unter anderem: Pfarrerin a.D. Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup, Vertreter des Gladbecker Bündnisses für Courage sowie Museumsleiterin Susanne Peters-Schildgen.

In den Anstalten seien seit dem Jahr 1939 Menschen per Fragebogen erfasst worden, die länger als fünf Jahre in einem Heim lebten, weiß Samen. Wer kriminell, schizophren, senil oder jüdisch war, konnte Schumann in die Fänge geraten. In Grafeneck war eine Remise zur Gaskammer umgebaut, es gab drei fahrbare Krematorien. Schumann persönlich holte in den jeweiligen Heilanstalten diejenigen ab, auf die der Tod in der Gaskammer wartete.

Nationalsozialisten sprachen von „unwertem Leben“ und „Ballastexistenzen“

Die Nationalsozialisten sprachen übrigens weniger von Euthanasie. Vielmehr hieß es Vernichtung „unwerten Lebens“ und „Aussonderung von Ballastexistenzen“. Der „Vergasungsspezialist“ Schumann wurde im Jahre 1940 als Direktor in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein berufen. Im Zeitraum von Juni 1940 bis Sommer 1941 wurden hier 13.720 Menschen ermordet. Hinzu kamen „Ballastexistenzen“. So wurden Häftlinge bezeichnet. Mehr als 1000 wurden im Sommer 1941 in Sonnenstein umgebracht.

Der Anstaltsarzt unterschrieb „Trostbriefe“ mit „Dr. Blume“

Nach der Verbrennung der Leichen wurden die Knochenreste zu -mehl gerieben, mit Asche in eine Urne gefüllt und den Angehörigen geschickt. Mehrere Sekretärinnen schrieben „Trostbriefe“ mit erfundenen Todesursachen an die Hinterbliebenen. Unterschrieben mit „Dr. Blume“, Schumanns Deckname.

Briefe und Dokumente geben Einblicke in Schumanns Leben.
Briefe und Dokumente geben Einblicke in Schumanns Leben. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Und hier lässt sich eine Verbindung zu Gladbeck ziehen. Denn drei Frauen aus der Ruhrgebietsstadt waren in der Anstalt Sonnenstein als Sekretärinnen beschäftigt – unter anderen Schumanns Geliebte und spätere Ehefrau Josefa geb. Pütz.

Horst Schumann heiratete seine Geliebte – eine Gladbeckerin

Der Name des SS-Lagerarztes Josef Mengele, der unmenschliche medizinische Experimente an Gefangenen im Lager Auschwitz durchführte, dürfte gemeinhin geläufig sein. Doch auch Horst Schumann führte Versuche durch. Sie hatten das Ziel, die Massensterilisation zu entwicklen, um Völker biologisch im Sinne der Nationalsozialisten zu vernichten. Schumann probte „die Wirksamkeit von Sterilisationen mittels Röntgenstrahlen“.

Schumann wohnte im Hause seiner Schwiegereltern Moltkestraße 58
Manfred Samen - Kenner der Gladbecker Geschichte

Nach Kriegsende dürfte es den Beziehungen seiner Frau in der Gladbecker Gesellschaft zu verdanken sein, dass Schumann sich etablieren und untertauchen konnte. Manfred Samen: „Dr. Schumann fasste in Gladbeck schnell Fuß, da die Familie seiner Frau mit einer verzweigten Verwandtschaft recht bekannt war und einen guten Ruf hatte. Schumann wohnte im Hause seiner Schwiegereltern Moltkestraße 58 (heute Uhlandstraße) in einer Dreizimmerwohnung.“

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Der Stadtmedizinalrat Dr. Heinrich Francke griff dem einstigen „Tötungsdirektor“ unter die Arme, der schließlich eine eigene Praxis an der Friedrichstraße eröffnete. Gefördert mit einem Flüchtlingskredit der Sparkasse Gladbeck. Später betrieb Schumann eine Praxis in Zweckel neben dem Solbad im Eingangsbereich der Zeche Zweckel.

Stern-Fotograf macht den KZ-Arzt ausfindig

Geraume Zeit lebte der Massenmörder im weißen Kittel ungehindert in der Stadt. „Er hat sich mit den Jahren immer sicherer gefühlt“, erzählt Museumschefin Susanne Peters-Schildgen. Innenministerium und Landeskriminalamt setzen 2000 Mark bzw. 500 Mark für die Ergreifung des Euthanasiearztes aus. Der Antrag auf Ausstellung eines Sportangelscheines brachte die Behörden im Jahre 1951 auf Schumanns Spur, doch er konnte fliehen. Dank eines „Beziehungsgeflechts zwischen Alt-Nazis in Gladbeck und Schlamperei“, urteilt Samen.

Er hat sich mit den Jahren immer sicherer gefühlt
Susanne Peters-Schildgen - Leiterin des Museums in Gladbeck

Schumann gelangte nach Japan, Ägypten und in den Sudan. Die Gladbecker Museumschefin: „Im Rahmen der Ausstellungsrecherchen konnte ich Kontakt zu dem ehemaligen Stern-Fotografen Michael Friedel knüpfen, der mir eine abenteuerliche Geschichte über die Auffindung des Euthanasie- und KZ-Arztes Horst Schumann in Ghana und dessen Auslieferung nach Deutschland erzählt hat.“ Der mittlerweile über 80-Jährige habe seinerzeit Schumann in dem westafrikanischen Staat „gesucht, erkannt und gefunden“ und die deutsche Regierung informiert – ein Thema in der Gladbecker Ausstellung.

Von der Auslieferung im Jahre 1966 existieren Fotos. „Schumann wurde aus dem Gefängnis abgeholt, Michael Friedel hat im Flugzeug neben dem KZ-Arzt gesessen“, so Peters-Schildgen. Damit fand nach 15 Jahren die Flucht ein Ende.

Vom Fenster aus überprüfte ich den Vergasungsvorgang
Dr. Horst Schumann - NS-Tötungsarzt

Manfred Samen zitiert Schumanns Aussage im Jahr 1968 vor dem Untersuchungsrichter: „Vom Warteraum aus gingen in der Regel die Kranken ruhig in den sogenannten Duschraum. Dieser wurde sodann hermetisch abgeschlossen, und ich ließ vom Arztzimmer aus das Kohlenmonoxydgas einströmen. Vom Fenster aus überprüfte ich den Vergasungsvorgang und stellte nach einigen Minuten die Gaszufuhr ab.“

Unfassbar. Und auch das dürfte schwer zu verdauen sein. Horst Schumann wurde vor Gericht gestellt, aber: Der Prozess wurde krankheitsdingt abgebrochen. Der „Tötungsdirektor“ starb 1983 in Frankfurt am Main.