Gladbeck. Gladbecker Schüler werden beim Crash-Kurs der Polizei mit tödlichen Unfällen und schrecklichen Bildern konfrontiert. Das hilft ihnen später.

Wasser hilft. Und Weingummi, sagt Ulla. Sie weiß das aus Erfahrung. Der Crash-Kurs in der Mathias-Jakobs-Stadthalle am Donnerstag in Gladbeck ist nicht ihr erster. Als Notfallseelsorgerin ist sie mit Krisen vertraut, mit menschlichen Tragödien, und was die mit der Psyche machen. Der Crash-Kurs in der Stadthalle soll dafür sorgen, dass die Gladbecker Zehnt- und Elftklässler erst gar keine Notfallseelsorgerin brauchen – und ihre Eltern auch nicht.

Crash-Kurs, das ist ein Konzept der Polizei Recklinghausen. Kurz bevor sich die Jugendlichen selbst hinters Steuer klemmen dürfen, werden sie einmal ordentlich durchgeschüttelt. Manchmal vielleicht etwas zu sehr, dafür sind Ulla und ihre Kollegen da. Die Halbstarken wissen, was kommt. Durch die kalte Luft vor der Halle dröhnen das übliche juvenile Imponiergehabe. Aber heute mit einem anderen Unterton. Nervosität schwingt mit.

Gladbecker Schüler sollen keine Unfallfahrer werden

Drinnen singt der Graf von „Unheilig“ seinen Schlager „Geboren um zu leben“. Ziemlich auf den Kopf, die Polizei hält sich nicht mit Subtilitäten auf. Es ist noch gar nichts passiert, da wird das Murmeln leise und die Mienen werden finster, nur noch ein paar Einzelkämpfer hängen betont lässig in ihrem Stuhl. Der Rest wappnet sich für das, was kommen mag.

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Es kommt erstmal eine Diashow und Beethovens Fünfte. Dadadada. Bilder von Autowracks, bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert von Alkohol am Steuer, zu hoher Geschwindigkeit und der Fliehkraft. Dazu ein paar Fakten. Junge Fahrer, also zwischen 17 und 25, gibt es anteilig gar nicht so viele, aber sie verursachen 20 Prozent aller Unfälle. Kollektive Betretenheit, man sieht es in den entgleisten Gesichtern.

Schüler aus Gladbeck sind schockiert von Annas Geschichte

Ein Knall reißt die Jugendlichen aus dunklen Gedanken. Moderator Karsten Quante hat einen Ballon platzen lassen, wieder wenig subtil als Metapher für die Lebensträume der Schüler. Und die Nadel, mit der sie hinter dem Steuer ihren eigenen Ballon zerstechen könnten. Die Nadel, das kann zum Beispiel hohe Geschwindigkeit sein.

Polizistin Judith Holländer erzählt davon. Es ist die Geschichte von Anna, die damals am nächsten Tag 18 geworden wäre. Holländer weiß das, weil sie Annas Eltern sagen musste, dass ihre Tochter nicht mehr lebt. Im Wohnzimmer, zwischen Girlanden, Luftschlangen und hübsch eingepackten Geschenken.

Erzählt trocken vom Tod: Judith Holländer von der Polizei Recklinghausen erinnert an das Schicksal der fast 18-jährigen Anna.
Erzählt trocken vom Tod: Judith Holländer von der Polizei Recklinghausen erinnert an das Schicksal der fast 18-jährigen Anna. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Anna wurde auf dem Fahrrad erwischt. Von einem 21 Jahre alten Autofahrer, mit 120 statt 70 km/h. Judith Holländer und ihr Kollege finden das Fahrrad und dann Anna, ohne Puls und Atem. Damals ist Anna mit 17 Jahren im Rettungshubschrauber gestorben. In der Gegenwart verlässt die erste Schülerin den Saal, Ulla eilt hinterher und streichelt ihren Rücken.

Ein großer Unfall auf der B 224 in Gladbeck

Feuerwehrmann Martin Karpa erzählt von einem MANV. Ein Massenanfall von Verletzten. Und zeigt Bilder von den zerfetzten Autos, erinnert sich, wie er und seine Kollegen bewusstlosen Opfern Beatmungsschläuche in den Hals trieben. Wie eine Frau um Hilfe für ihre schwer verletzte Schwester fleht. Und daran, wie sie das Leben der Frau trotzdem nicht retten konnten. Weil ein junger Fahrer viel zu schnell über die Kreuzung fuhr.

Lebensträume retten: Karsten Quante will helfen, die Lebensträume der Gladbecker Schüler vor dem Platzen zu bewahren.
Lebensträume retten: Karsten Quante will helfen, die Lebensträume der Gladbecker Schüler vor dem Platzen zu bewahren. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

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Die Schüler schlagen die Hände vor dem Mund zusammen, doch der Crash-Kurs lässt nicht locker. Jetzt kommt Notarzt Klaus Limberg. Er denke oft an Benjamin, sagt er, damals war Benjamin 18 und stolzer Besitzer eines Motorrads. Heute ist Benjamin schon viel älter, aber das weiß er wahrscheinlich nicht. Schwer zu sagen, was im Wachkoma überhaupt zu ihm durchdringt. Ein kleiner Trost, dass er wegen seines Schädel-Hirn-Traumas vielleicht gar nicht gemerkt hat, wie er sich sein Bein, sein Becken und seine Wirbelsäule gebrochen hat. Klaus Limberg sagt, dass man die Delle im Bordstein heute noch sieht. In dem Bordstein, gegen den Benjamin viel zu schnell gefahren ist und der ihn 30 Meter durch die Luft geschleudert hat.

Die Musik schließt Emotionen auf

Kaplan Harald Hotop trifft schließlich den Ton. Beinahe erschreckend, wie nüchtern er von dem 18-Jährigen erzählt, der sein Auto um einen Baum gewickelt und sich und seine Freundin damit getötet hat. Nur, weil ihm die Fahrerin vor ihm zu langsam war. „Fahrt immer ein bisschen so, als könnte was schiefgehen“, rät er, und später noch: „Lass die Finger vom Handy. Sonst hören die Leute am anderen Ende der Leitung, wie du stirbst.“

Mit den neuen, tiefen Eindrücken sollen die Schüler noch mal ganz genau auf den Text von „Geboren um zu leben“ hören. Und wie so oft, die Musik als Schlüssel zum Herzen. Gleich aus mehreren bricht es heraus. Vielleicht Trauer um Bekannte, Freunde, Familie. Vielleicht tiefe Anteilnahme am Schicksal von Anna und Benjamin. Vor dem Saal wartet Ulla mit Weingummi.