Gladbeck. Der Gladbecker Hikmet Süner wollte seiner Familie im türkischen Erdbebengebiet helfen. Das hat der 45-Jährige vor Ort gesehen und erlebt.
Die Bilder der verzweifelten und beharrlichen Rettungsaktionen nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet haben sich ins Gedächtnis gebrannt, ebenso der Anblick der verwüsteten Städte und Dörfer. Aber was kommt jetzt? Die WAZ hat mit Hikmet Süner in Gladbeck gesprochen, der in die Katastrophenregion gefahren ist, um zu helfen. Kälte, Elend, Plünderungen hat er gesehen. Und die Erde rumort weiter, erschüttert immer wieder das Land.
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Wer das gewaltige Beben überlebt hat, steht in den meisten Fällen vor dem Nichts. Innerhalb von wenigen Minuten lagen Existenzen in Trümmern. Das musste auch die Familie von Hikmet Süner erleben. Dabei sei das Ausmaß der Katastrophe hier in Deutschland erst gar nicht erfassbar gewesen.
Der Gladbecker Hikmet Süner stellt fest: „Die Stadt ist weg!“
Süner: „Ich habe neun Geschwister, und wir wohnen fast alle an der Roßheidestraße. Kurz nach dem Erdbeben hat mich mein Bruder angerufen und gesagt: ,Komm’ mal ‘rüber. Ich glaube, wir haben ein Problem’.“ Wie groß dieses „Problem“ war und immer noch ist, lässt sich kaum in Worte fassen, so aufwühlend stellt(e) sich die Situation in der betroffenen Region dar.
Die Familie des Friseurmeisters Süner, der sich in Gladbeck über den Verein „Smile – das ist Dein Tag“ für schwerkranke Kinder engagiert, ist selbst betroffen, stammt aus „Hatay – das ist wie hier Nordrhein-Westfalen“ mit der Stadt Antakya. Die einstige antike Metropole Antiochia ist nach dem großen Beben so gut wie von der Landkarte getilgt. Schwer geschlagen auch die Gemeinde Defne: „Sie ist vergleichbar mit Gladbeck.“ Der 45-jährige Gladbecker bringt es auf den Punkt: „Es gibt kein Antakya mehr. Die Stadt ist weg!“ Durch die Naturkatastrophe zerstört und beschädigt seien sieben Wohnungen und drei Geschäfte seiner Angehörigen. Innerhalb weniger Wimpernschläge „wurde alles, was sich Menschen aufgebaut haben, vernichtet“.
Süner sagt: „Wir sind eine riesengroße Familie. Ich habe allein mehr als 90 Cousinen und Cousins. Darunter wurden einige verschüttet, auch ein Baby war dabei.“ Er weiß von Nachbarn vor Ort, die unter Trümmern lagen. Eine Mischung aus Trauer um die Toten, Wut und Anspannung liege über den meterhohen Schutthaufen, Betonbergen und auch den Zeltansammlungen, in denen Überlebende – man vermag es kaum anders zu sagen – hausen.
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Nach dem Anruf seines Bruders machte sich Süner auf den Weg in „seine Heimat“. „Ich habe vor Ort im Auto geschlafen. Nachts hat es gefroren, so dass man die Scheiben freikratzen musste.“ Aber sehr viel Hilfe habe er nicht leisten können. Über die Suppenküche Essen verteilen, sich als Übersetzer für die internationalen Retter anbieten: „Ich spreche Türkisch und Arabisch.“ Schnell musste der Gladbecker feststellen: „Wo Helfer waren, durfte man gar nichts machen.“ Doch, eines konnte Süner tun: „Ich habe Nachtwache gehalten, um noch stehende Gebäude vor Plünderern zu schützen.“ Onkel und Cousins hätten sogar mit Schrotgewehren Posten bezogen.
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„Das Schlimmste ist, dass es dort stockduster ist“, berichtet der 45-Jährige, „wir haben Autoreifen und Holzreste verbrannt.“ Diejenigen, die in der Region ausharren, warten laut Süner darauf, was nun die Regierung tut. Müssen Gebäude abgerissen werden, dürfen sie stehen bleiben? Wo werden Überlebende untergebracht? Was ist mit finanzieller Unterstützung? Eine Finanzspritze von 500 Euro, wie sie von der türkischen Regierung in Aussicht gestellt wurde, sei allenfalls „eine Akuthilfe zur kurzzeitigen Überbrückung“. „Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? Wann öffnen wieder Schulen? Was ist mit der gesundheitlichen Versorgung?“ Fragen über Fragen. Der Gladbecker meint: „Eine schreckliche Vorstellung, dass immer noch Menschen unter dem Schutt liegen. Sie werden mit den Trümmern auf den Müll geworfen.“
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Süner gibt einen Einblick in die Situation seiner Familie: „Wir haben Leute in der Sippe, die alles verloren haben und jetzt unter Planen leben. Andere sind geflüchtet, nach Ankara, Istanbul und in weitere Städte, um ihre Alten, Kinder und Frauen in Sicherheit zu bringen.“
Eine Ausreise nach Deutschland hört sich vielleicht als Ausweg gut an, ist jedoch in den Augen des Gladbeckers, Vater von fünf Kindern, oftmals nicht realistisch. „Was ist mit Menschen, die keinen Reisepass haben?“ Den benötige man doch, um nach Deutschland kommen zu dürfen. Nicht zu vergessen: Hierzulande lebende Verwandte müssen erst einmal die Kapazitäten haben, um Angehörige unterbringen und versorgen zu können. Außerdem lasse sich eine Großfamilie nicht so einfach auseinanderreißen. Auch wenn die Situation nach der Katastrophe noch so schwierig sei.
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Hikmet Süner weist darauf hin, dass die Menschen in der Katastrophenregion weiter Unterstützung benötigen. Wer spenden möchte: Bankverbindung, Smile – das ist dein Tag e.V., Stadtsparkasse Gladbeck, IBAN DE24424500400071023360.