Gladbeck. Ob beim KOD, im Sozialamt oder Krankenhaus: Beschäftigte werden immer wieder tätlich angegriffen. So können sich Gladbecker dagegen wappnen.
Die Schreckensnachrichten reißen nicht ab. Fahrgast attackiert Busfahrer. Beschäftigte in Behörden werden beleidigt und angespuckt. Kräfte aus Polizei und Rettungsdienst müssen bei Einsätzen mit Behinderungen, Pöbeleien und Prügel rechnen. Die Spirale der Respektlosigkeit und Gewalt schraubt sich immer weiter empor. Verstörende und unglaubliche Spitze der Brutalität: Anfang Januar steht in Ibbenbüren ein 17-Jähriger unter Verdacht, seine Lehrerin erstochen zu haben. In Gladbeck nutzen Angehörige gefährdeter Berufsgruppen die Chance, sich gegen Angriffe zu wappnen. „Bius“ heißt das Zauberwort. Die Polizei erläutert, was es kann.
Hinter der Bezeichnung für das Angebot zur Gewaltprävention steckt der sperrige Titel „Berufsspezifisches Interventions- und Sicherheitstraining“. Dass dieses Programm ins Leben gerufen wurde, hatte einen Hintergrund, der immer noch aktuell ist – vielleicht heute mehr als im Jahr 2004. „Der Auslöser waren damals Probleme, die uns von der Vestischen gemeldet wurden. Es ging um massive Übergriffe“, berichtet Andreas Lesch, Sprecher im Polizeipräsidium Recklinghausen. Das Kommissariat für Kriminalprävention und Opferschutz biete mit Bius „ein wirkungsvolles Programm“, um sich vor Gewalt schützen zu können.
Bei der Vestischen, in der Stadtverwaltung Gladbeck und an Schulen wird Bius genutzt
Einsatzbereiche im Zuständigkeitsbereich des Präsidiums sind neben dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) Schulen, Arbeitsagenturen, der Kommunale Ordnungsdienst (KOD), Banken, Personal in Krankenhäusern sowie Ämtern, in denen Publikum zum Arbeitsalltag gehört, beispielsweise das Sozialamt. Seit dem Jahr 2005 laufe Bius mit Gladbecker Beteiligung, unter anderem machen Beschäftigte aus der Stadtverwaltung mit. Aus gutem Grund, wie auch Anna Langhof aus dem Presseamt weiß. Sie nennt als Beispiele für „Angriffsflächen“ ebenfalls den KOD, aber auch das Bürgeramt. Mit diesen Stellen, Schulen und der Vestischen „stehen wir in regelmäßigem Austausch“, bemerkt Lesch.
Der Polizei-Experte sagt: „Überall da, wo es Publikumsverkehr gibt, kann ein erhöhtes Gewalt-Risiko bestehen.“ Parkverstöße, Abschiebeverfahren, Bewilligungen und ähnliches – sind Anliegen emotional aufgeladen, kann’s schnell krachen. Psychische Gewalt, offenes und verstecktes Mobbing stellen brisante Faktoren in Schulen dar.
Bius basiert auf Lernmodulen. „Zunächst erfolgt eine Gefahrendiagnose“, erläutert Andreas Lesch. Weitere Inhalte sind unter anderem Früherkennung von brenzligen Situationen, Selbst- und Fremdschutztechniken, Hilfe leisten und organisieren, um nur einige Elemente zu nennen. „Der Baustein Kommunikation und Deeskalation ist ein großer Bereich“, sagt Lesch. Doch es stelle sich auch die Frage: „Wie geht man selbst mit einer Stress-Situation um? Die meisten Menschen haben einen Tunnelblick – flüchten oder bleiben?“ Die Polizeikräfte, die die Trainings durchführen, wissen die Antworten für verschiedene Szenarien.
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Die Fachleute beleuchten gleichfalls juristische Gesichtspunkte. Beispiel: Was bedeutet überhaupt Notwehr? Die Module, so Lesch, laufen ab wie Seminare, bei denen auch Wiederholungen möglich sind.
Und nicht alle Interessierte müssen an den Unterrichtseinheiten teilnehmen, um von dem Angebot zu profitieren. „Manche Schulen bilden Multiplikatoren aus, zum Beispiel an der Gladbecker Ingeborg-Drewitz-Gesamtschulen ist das so“, berichtet Lesch.
„Die Rückmeldungen lauten unisono von allen Teilnehmern: Sie fühlen sich sicherer“
Der Erfolg von Bius sei schwierig zu messen. Doch eines könne die Polizei sagen: „Die Rückmeldungen lauten unisono von allen Teilnehmern: Sie fühlen sich sicherer.“ Das liegt mit Sicherheit daran, dass die Inhalte praxisorientiert und umsetzbar sind. „Der Baustein ,Selbstschutztechnik’ ist relativ einfach und schnell zu lernen“, so der Polizeisprecher. Ein sehr wichtiger Punkt in Augen der Fachleute: die Notfallkommunikation. „Wie kann ich mir selber im Ernstfall Hilfe organisieren?“
Stichwort „Organisation“: Bius ist als ein Bestandteil in einem großen Maßnahmepaket zu sehen. Wirksam können beispielsweise zudem handfeste Änderungen am Arbeitsplatz sein. Wie ist ein Büro eingerichtet? Existieren Engstellen? Sitzen Beschäftigte mit dem Rücken zur Tür, und nicht – wie es besser wäre – mit den Augen zur Tür? Und auch im Freien ist der Blick geschärft. Sind öffentliche Räume hell ausgeleuchtet – oder eben nicht?
Die Präventionsvorkehrungen sind je nach Zielgruppe angepasst konzipiert. Lesch führt beispielhaft die Vestische an. „Eigentlich wegen Corona wurde Plexiglas zum Schutz für Busfahrer installiert – eine relativ einfache Veränderung mit einem großen Plus für die Sicherheit.“
Angriffe bei der Vestischen
„Jeder Fall ist einer zu viel“, sagt Christoph van Bürk über tätliche Angriffe auf das Personal am Steuer, das die Vestische Straßenbahnen GmbH im Einsatz hat. Die Fahrzeuge des Verkehrsunternehmens rollen auch auf Gladbecker Asphalt. Der Sprecher der Vestischen meint: „Gemessen an den 40 bis 60 Millionen Fahrten, die wir leisten, sind derartige Vorfälle selten.“Aber es gibt sie trotz aller Präventionsmaßnahmen immer noch. Christoph van Bürk schaut auf die Statistik: „Im Jahr 2009 haben wir neun tätliche Angriffe registriert; 2005 waren es nur zwei.“ Eine Steigerung sei in den späteren Jahren festzustellen. Wurden 2016 vier Vorfälle statistisch erfasst, schnellte die Zahl im Folgejahr auf 15.Der Sprecher sagt: „2018 haben wir elf tätliche Angriffe verzeichnet, Ende des Jahres haben wir Präventionsteams eingeführt.“ Weitere Vergleichszahlen: 2019 gab’s in den Fahrzeugen der Vestischen zwölf Attacken sowie 2020 fünf und 2021 sieben derartige Fälle. In den letztgenannten Jahren, so Christoph van Bürk, „sind weniger Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren“. Grund: die Corona-Pandemie.
Christopoh van Bürk, Sprecher im Verkehrsunternehmen, erzählt: „Eingeführt haben wir Bius, weil es Anfang der 2000er Jahre vermehrt Übergriffe auf Beschäftigte gab, teilweise mit der Folge, dass Opfer fahruntauglich waren und nicht mehr Dienst leisten konnten. Mittlerweile gehört das Programm als fester Bestandteil zur Weiterbildung.“ Auch für Personal von Fremdfirmen. „Ungefähr 900 Fahrerinnen und Fahrer wurden inzwischen geschult“, bilanziert Christoph van Bürk.
Und das Resultat? Der Unternehmenssprecher antwortet: „Wenn wir einen Erfolgsmesser anlegen wollen: Die Zahl der Dienstausfälle in Folge eines Übergriffs ist zurückgegangen.“ Das Training führe dazu, „dass unsere Fahrer angemessen reagieren können zum eigenen Schutz und zum Schutz der Fahrgäste.“ Das subjektive Sicherheitsgefühl sei gestiegen.
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Dazu tragen nach van Bürks Einschätzung jedoch ebenfalls weitere Schritte bei: „Wir haben ein ganzes Sicherheitspaket.“ Darin stecken der kontrollierte Vordereinstieg, Videoüberwachung und Schutzscheiben in Bussen sowie Präventionsteams. Kommt Bius dazu, fühlen sich viele Beschäftigte für kritische Situationen gerüstet.
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Dieser Bericht ist erstmals Anfang Februar 2023 in der WAZ Gladbeck erschienen. Aus aktuellem Anlass wird der Artikel noch einmal veröffentlicht. Das Bundeskriminalamt (BKA) zeichnet ein derzeitiges Lagebild. Gewalttaten gegen Einsatzkräfte, beispielsweise der Polizei, haben im vergangenen Jahr weiter zugenommen und sogar einen neuen Rekordwert erreicht.
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