Essen. Die Chefs der Kliniken Essen-Mitte nennen die geplante Krankenhausreform verheerend: Sie gefährde Kliniken – und die Versorgung der Patienten.

Im Mai 2021 trennten sich die Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) überraschend von ihrem Geschäftsführer Frank Mau. Der Schritt sorgte für Schlagzeilen, Unruhe im Haus und Personalrochaden. Anfängliche Vorwürfe gegen Mau ließ man später fallen, sprach von einer „einvernehmlichen Trennung“. In dieser turbulenten Zeit übernahm Prokurist Hans-Dieter Weigardt den Geschäftsführerposten. Der Direktor der Klinik für Gynäkologie und Gynäkologische Onkologie, Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas du Bois, wurde neuer Ärztlicher Direktor. Knapp zwei Jahre später sprechen wir mit dem Führungs-Duo über die Zukunft der KEM, zu der das Huyssensstift in Huttrop und die zwei evangelischen Kliniken in Steele und Werden gehören.

[In unserem lokalen Newsletter berichten wir jeden Abend aus Essen. Den Essen-Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen.]

Herr du Bois, Herr Weigardt: Wie erinnern Sie sich an Ihren Start mitten in einer Krise der KEM?

Hans-Dieter Weigardt: Wir hatten nur wenige Tage Bedenkzeit, das war schon spannend. Andererseits waren wir beide zuvor schon einige Jahre in zentralen Positionen im Haus tätig: Herr Professor du Bois als einer der erfolgreichsten Klinikdirektoren der KEM, ich als Finanzchef. Wir kannten das Unternehmen also sehr gut.

Du Bois: Es war zunächst nicht mein Plan, Ärztlicher Direktor zu werden, aber ich habe die Not der KEM erkannt und mich der Bitte nicht verschlossen. Ich habe mich dann mit Herrn Weigardt getroffen, und wir haben uns auf einen neuen Führungsstil verständigt: Bis dahin war alles auf einen Geschäftsführer zugeschnitten, er hatte alle Macht, traf die Entscheidungen. Das kann effizient sein, aber auch sehr willkürlich. Wir haben uns entschieden, auf Respekt, Transparenz, Offenheit und Teamwork zu setzen. Nicht nur im Führungsteam, zu dem auch Dr. Andreas Grundmeier als stellvertretender Ärztlicher Direktor gehört. Wir beziehen alle Abteilungsleiter ein, setzen auf die Schwarmintelligenz.

Führungskräfte verließen die Kliniken Essen-Mitte

Der Systemwechsel dürfte nicht jedem gefallen haben.

Du Bois: Natürlich gab es Konflikte und es sind einige Führungskräfte gegangen.

Weigardt: Es ist wieder Ruhe eingekehrt, produktive Ruhe. Wir sind heute sehr schnell entscheidungsfähig und gut aufgestellt. So haben wir bei insgesamt 2800 Mitarbeitern mehr Pflegekräfte als vor der Pandemie.

Wie ist das gelungen?

Du Bois: Wir haben einen 19-Punkte-Plan, insbesondere für die Attraktivität der KEM bei Pflegekräften umgesetzt: Dazu gehören Anreize wie das Dienst-E-Bike oder Zulagen für Kräfte, die Arbeitsschichten oder den Einsatzort wechseln, Umzugshilfen und mitarbeiterfreundliche Schichtarbeitsberechnungen. Zudem haben wir an der Kommunikation zwischen Ärzteschaft und Pflegepersonal gearbeitet: Unter Stress kann die Tonart im OP schon mal etwas harsch daherkommen. Dies darf aber nicht zu fehlender Wertschätzung führen. Lässt sich eine solche Ausnahmesituation nicht akut durch eine Entschuldigung befrieden, kann man sich jetzt an einen Ombudsmann wenden. Darüber hinaus wurde die Themen Respekt und Kooperation deutlich in den Vordergrund gerückt. Zusammengenommen hat das die grundsätzliche Zufriedenheit des Personals erhöht. Und wir arbeiten an weiteren Punkten.

Das Huyssensstift an der Henricistraße in Huttrop: Hier sitzt die Leitung der Ev. Kliniken Essen-Mitte (KEM), zu der auch die zwei evangelischen Kliniken in Steele und Werden gehören.
Das Huyssensstift an der Henricistraße in Huttrop: Hier sitzt die Leitung der Ev. Kliniken Essen-Mitte (KEM), zu der auch die zwei evangelischen Kliniken in Steele und Werden gehören. © FUNKE Foto Services | Ulrich von Born

Das heißt, Sie haben keine offenen Stellen in der Pflege?

Du Bois: Doch, aber weniger als zuvor. Das Problem verschärft sich indes wieder, weil etliche Zeitarbeitsfirmen massiv Pflegekräfte von Krankenhäusern abwerben. Die rufen täglich bei uns an, bieten Fachkräften bis zu 800 Euro mehr Lohn plus Dienstwagen, und versprechen, dass sie nicht mehr am Wochenende arbeiten müssen. Wenn das verfängt, ruft der Vermittler eine halbe Stunde später in der Personalabteilung an und sagt: „Frau XY ist jetzt bei uns angestellt, arbeitet aber bei Ihnen weiter, wenn sie eine Fünf-Tage-Woche hat und Sie uns 2000 Euro mehr für den Einsatz zahlen.“ Das geht zulasten der anderen noch verbliebenen Kollegen, ist kostspielig für uns, zudem fließt Geld aus dem Gesundheitssystem ohne dass Mehrleistung entsteht.

„Wir haben uns auf einen neuen Führungsstil verständigt: Bis dahin war alles auf einen Geschäftsführer zugeschnitten, er hatte alle Macht, traf die Entscheidungen. Das kann effizient sein, aber auch sehr willkürlich“, sagt der Ärztliche Direktor der Ev. Kliniken Essen-Mitte, Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas du Bois.
„Wir haben uns auf einen neuen Führungsstil verständigt: Bis dahin war alles auf einen Geschäftsführer zugeschnitten, er hatte alle Macht, traf die Entscheidungen. Das kann effizient sein, aber auch sehr willkürlich“, sagt der Ärztliche Direktor der Ev. Kliniken Essen-Mitte, Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas du Bois. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wie decken Sie diese Kosten?

Du Bois: Wir versuchen, wenn es unumgänglich ist, diese so gering wie möglich zu halten und müssen es aus anderen Töpfen querfinanzieren, da wir für die Extrakosten keine Erlöse erhalten. Eigentlich müssten wir dazu Stellen und damit Leistungen kürzen, um das reinzuholen. Tatsächlich bringen wir dafür jährlich einen niedrigen siebenstelligen Betrag auf.

Weigardt: Das setzt uns enorm unter Druck, weil wir als freigemeinnütziger Träger, anders als andere Krankenhausträger im Wettbewerb, alles auch einnehmen müssen, was wir ausgeben. Schon die Pandemie hat zu einer Kostenexplosion geführt, zumal alle staatlichen Ausgleichsmechanismen im Gesundheitswesen nur verzögert greifen – bei der aktuellen Inflation ist das existenzbedrohend.

Klinik übt deutliche Kritik an der Krankenhausreform

Bund und Land wollen die Krankenhaus-Landschaft reformieren. Was bedeutet das für die KEM?

Du Bois: Das aktuelle Problem ist, dass wir es nicht mit einer Reform zu tun haben, sondern mit zweien, die einander widersprechen: Seit 2017 gibt es die Pläne von Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann. Ende 2022 hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seine Reform vorgestellt, die ein entgegengesetztes System vorsieht, das verheerende Konsequenzen für die Versorgungssituation in Deutschland hätte.

Wie sieht das aus?

Du Bois: Im Modell Laumann gibt es 64 Leistungsbereiche, immer orientiert unmittelbar am Patienten: Will zum Beispiel ein Krankenhaus Brustkrebs behandeln, müssen dort sämtliche Disziplinen, Strukturen und Fachleute für eine optimale Therapie von Brustkrebs vorhanden sein. Mit unserem zertifizierten Brustkrebszentrum hätten wir in diesem Beispiel alle Bedingungen erfüllt. Herr Lauterbach geht dagegen nur vom gesamten Klinikstandort aus: Er will alle Krankenhäuser in drei Level von I. Grundversorgung bis III. Maximalversorgung aufteilen. Brustkrebs dürften nur noch Krankenhäuser mit Level II oder III behandeln.

Level II steht für Regel- und Schwerpunktversorgung – darunter müssten die KEM doch fallen?

Du Bois: Bei Lauterbach leider nein: Für Level II braucht man eine Geburtshilfe und eine Stroke-Unit, auch wenn beides gar nichts mit Behandlung von Krebserkrankungen zu tun hat.

Wer dürfte in Essen noch Brustkrebspatientinnen aufnehmen?

Du Bois: Nur die Uniklinik, die aktuell weniger als 300 Brustkrebspatientinnen im Jahr behandelt, bei uns sind es zum Vergleich über 1200. Wo die dann hingehen sollen, ist ungewiss: Von den zwölf größten Brustkrebszentren in NRW würden bei strikter Anwendung des Lauterbach-Modells künftig zehn nicht weiter existieren. Das würde zu einer massiven Versorgungslücke führen.

Lauterbachs Pläne würden die Versorgung der Patienten komplett vor die Wand fahren, sagt der Klinikchef

Trifft das auch andere Bereiche?

Weigardt: Allerdings: So dürften in NRW nur noch 35 Krankenhäuser Krebspatienten behandeln, alle anderen müssten medizinisch qualifizierte Onkologien schließen. Um Bauchspeicheldrüsen-OPs anzubieten, braucht man einen Hubschrauberlandeplatz. Der Zusammenhang erschließt sich nicht nur uns nicht. Die Bedingungen für Level II sind total unpraktikabel. 90 Prozent der Krankenhäuser würden als Level I, Grundversorgung, eingestuft; in Essen alle außer der Uniklinik.

Müssten sich die KEM breiter aufstellen, zum Beispiel wieder einen Kreißsaal einrichten?

Weigardt: Das wäre ziemlich absurd: In Essen hat sich die Zahl der Geburtskliniken zuletzt von vier auf zwei halbiert. Wir spezialisieren uns bewusst in anderen Bereichen wie Onkologie, Altersmedizin und psychischer Gesundheit. Wir haben unser Profil geschärft und orientieren uns dabei seit anderthalb Jahren an den Kriterien von NRW-Gesundheitsminister Laumann, die gut durchdacht und patientennah sind.

Du Bois: Unsere Form der christlichen Nächstenliebe ist, in wichtigen, aber ausgewählten Bereichen das Bestmögliche für Patienten zu geben. Diese Bereiche bauen wir weiter aus, um etwa in der Krebsmedizin nicht nur den Patienten, sondern auch seine Familie in den Blick zu nehmen. Andere Bereiche, die wir nicht als unseren Schwerpunkt betrachten, wie zum Beispiel die Kardiologie, sind wir bereit abzugeben. Aber: Wir sehen nicht tatenlos zu, wie die Versorgung der Patienten komplett vor die Wand gefahren wird.

Essener Krankenhäuser sprechen über Protest gegen die Reform

Die Krankenhausgesellschaft NRW hat gewarnt, dass Lauterbachs Reform „rigorose Einschnitte“ für die Patienten zur Folge hätte. Warum hört man noch nichts von Essens Krankenhausträgern?

Du Bois: Hinter den Kulissen gibt es bereits gemeinsame Gespräche mit den anderen freigemeinnützigen Trägern. Wir sind untereinander und mit Trägern in Mülheim und Oberhausen sowie mit Dachverbänden im Austausch.