Bottrop-Kirchhellen. Vor 25 Jahren entstanden die ersten Pläne für das Neubaugebiet Schultenkamp. Hat Kirchhellen seine Identität als Dorf verloren? Ein Rückblick.
„Ein Weg durch die Geschichte“ hat der Heimatverein seine neue Ausstellung genannt. Hat Kirchhellen auf dem Weg durch seine Geschichte seine Identität als Dorf verloren? Wenn nicht, was macht den Dorfcharakter aus? Wenn ja, wann auf dem Zeitstrahl ist dieser Verlust passiert? Viele steile Thesen zu diesem Thema werden immer mal wieder diskutiert. Wir fragen drei Kirchhellener und einen Zugereisten.
Die Kirchhellen-Karte aus dem Jahr 1976 zeigt sehr gut, was es damals im Dorfkern gab und was nicht. Die Sandgrube ist damals nur ein kurzer Weg zwischen Schul- und Gartenstraße. Der Johann-Breuker-Platz ist noch der Bankenvorplatz. Das heutige Brauhaus, die frühere Bernd-Schnock-Sporthalle, ist noch eine Mehrzweckhalle.
Das Hallenbad an Ring ist schon da. Es wurde 1973 eingeweiht als letztes großes Neubauprojekt der Gemeinde Kirchhellen. Und: Zwischen Hackfurthstraße und Dorfheide erstrecken sich große Acker- und Brachflächen. Rund um den ehemaligen Hof Schulze-Oechtering entstand ab 2006 das größte Neubaugebiet Bottrop. Die neue Siedlung Schultenkamp/Dorfheide wird am Ende rund 600 neue Wohnungen umfassen. Zu viel? Zu groß? Die Meinungen sind geteilt.
Kirchhellener Neubaugebiet bringt junge, gutsituierte Familien nach Bottrop
Für Oberbürgermeister Bernd Tischler ist der Schultenkamp nach wie vor eine „Erfolgsgeschichte, weil das Neubaugebiet Neubürger nach Kirchhellen gebracht hat und weiter bringt, die wir gut gebrauchen können“: junge, gutsituierte Familien.
ln der Bezirkspolitik hat sich dagegen zu diesem Thema eine große Koalition gefunden, der es jetzt langsam reicht mit den Neubaugebieten. „Aus heutiger Sicht war der Schultenkamp zu groß“, sagt der Ehrenvorsitzende der SPD Kirchhellen, Willi Stratmann. „Wir reden immer noch vom Dorf, aber wir sind eigentlich keins mehr.“ Und: „Die Zeit großer Neubaugebiete muss vorbei sein“, sagt Hendrik Dierichs (CDU), der neue Bezirksbürgermeister. „Jetzt geht es darum, mit Augenmaß Lücken zu schließen. Wir dürfen unsere Infrastruktur nicht überfordern.“
+++ Wollen Sie keine Nachrichten mehr aus Bottrop verpassen? Dann abonnieren Sie hier unseren WhatsApp-Kanal
Das sind die fünf großen Kirchhellener Vereine
Ein Dorf ist Kirchhellen wirklich nicht mehr, sagt auch Peter Pawliczek, der Vorsitzende des Heimatvereins. „Wir sind im Grund eine Kleinstadt geworden. Aber eine, in der man sich wohlfühlt.“ Der dörfliche Charakter bleibt aus seiner Sicht erhalten in den Vereinsstrukturen. Fünf der größten Bottroper Vereine sind in Kirchhellen daheim: die TSG (2000 Mitglieder), der VfL Grafenwald (1300) der VfB Kirchhellen (1000), der Heimatverein (670) und die Kolpingsfamilie. Dazu kommen mehr als 100 Clubs, die alle drei Jahre zur Bauernolympiade antreten.
Aber diese Vereine spüren in unterschiedlicher Ausprägung das gleiche Problem. Ehrenamtliches Engagement ist keine Selbstverständlichkeit mehr im Dorf. Zu jeder Veranstaltung des Heimatvereins lädt der Vorsitzende Pawliczek ausdrücklich die Neubürger im Dorf ein - mit wechselndem Erfolg. „Es braucht Eigeninitiative, um sich zu engagieren“, sagt Pawliczek. Und die vermisst er zuweilen.
Dorfcharakter in Bottrop-Kirchhellen franst aus: „Überall fehlt der Nachwuchs“
Susanne Breit vom Schuhhaus Möller sieht das ähnlich. „Man kann sich noch aufeinander verlassen, das macht den Dorfcharakter aus.“ Aber es franst an den Rändern aus: „Überall fehlt der Nachwuchs“: In der Kirchengemeinde St. Johannes, in der sie sich engagiert; beim VfL, der in den vergangenen Jahren viel Kraft und Hirnschmalz in die Mitgliederwerbung investiert hat; in den vielen Chören Kirchhellens. Typisch Dorf geblieben sind für Susanne Breit Handel und Gewerbe in der Ortsmitte: „Wir haben noch sehr viele inhabergeführte Geschäfte.“
Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement vermisst auch der Feldhausener Rainer Vosbeck, der am Sonntag für den Heimatverein das Schnapszahl-Fest zum 111-jährigen Bestehen organisiert hat. „Natürlich gibt es positive Ausnahmen. Aber wenn wir Neubürger ansprechen mit der Bitte um Hilfe bei einer Veranstaltung, dann zücken sie die Geldbörse. Ich sage ihnen dann: Wir brauchen eure Kohle nicht! Anpacken sollt ihr, am Bierwagen oder am Grill.“
Und wie erlebt ein Zugereister die Dorfgemeinschaft? „Ich habe keinen Tag bereut, hierher gezogen zu sein“, sagt „Oppa Kurt“ Guske, lebenslänglicher Bottroper und seit 2007 Kirchhellener „Man wird überall gut angenommen. Die Leute hier sind aufgeschlossen. Man kommt mit jedem ins Gespräch.“
- Security-Boss soll Frau vergewaltigt und verletzt haben
- Giftiger Stoff ausgetreten: Sechs Personen verletzt
- Viele Einsen: So gut haben die Abiturienten abgeschnitten
- Kletterarena öffnet nicht mehr für Einzelbesucher
- Kirchhellens Super-Spielplatz kommt 2025
Eine unterhaltsame Randnotiz zum Thema Dorfentwicklung findet sich im WAZ-Archiv. Die Hochhäuser an der Freiligrath- und der Pater-Delp-Straße stammen aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren und sind Stein gewordene Zeichen des Wachstumswahns der Gemeinde Kirchhellen, die durch Größe um jeden Preis damals um Eigenständigkeit in der Kommunalreform kämpfte. Was nicht geholfen hat, wie die Kirchhellener seit 1976 wissen.
Gemeinde Kirchhellen mit großen Plänen für bis zu 50.000 Einwohner
Wer findet, dass Kirchhellen mit seinen 21.076 Einwohnern (Stand Ende 2023) seinen dörflichen Charakter verloren habe, der lasse sich folgende Stellungnahme der Gemeinde Kirchhellen aus dem Jahr 1973 auf der Zunge zergehen: „Die Gemeinde Kirchhellen hat heute ca. 15.000 Einwohner. Der Flächennutzungsplan weist eine Einwohnerentwicklung bis 1985 von 25.000 bis 30.000 Einwohnern aus. Der Gemeindeentwicklungsplan für die über 1985 hinausgehende Entwicklung weist eine Einwohnerzahl von ca. 40.000 bis 50.000 Einwohner aus.“
Gegen solche Wachstumspläne fällt selbst das Neubaugebiet Schultenkamp sehr überschaubar aus.