Mülheim. Tamara Butenko ist 101 Jahre alt. Einen Krieg hat sie schon erlebt – und wie er endet. Trotzdem will sie zurück nach Charkiw in der Ukraine.

Tamara Butenko hat ein langes Leben, so lang ist es schon, dass „das Allerschönste“ in diesem Leben bald 80 Jahre zurückliegt: Das war das Ende des Krieges. Mit 100 Jahren musste Tamara Butenko erleben, dass ein neuer Krieg begann. Sie floh, lebt jetzt seit fast einem Jahr in Mülheim – und hat nur diesen einen Wunsch: Möge auch dieser Krieg enden, bald. „Ich kann kaum erwarten, dass ich nach Hause darf.“

Tamara Butenko hat keine Angst. Sie weiß, dass sie sicher ist in Mülheim bei ihrer Tochter, bei den Enkeln, die schon lange hier leben. Sie verfolgt alle Nachrichten von daheim und schont sich nie: „Ich möchte mich nicht vor der Wahrheit verstecken. Egal, wie weh das tut.“ Aber es tut weh. Sehr. Die inzwischen 101-Jährige ist jetzt oft traurig, sagt ihre Enkelin Olga Kovalenko. Die Oma denkt an ihre Schwester Galina in Kiew, an ihre andere Enkelin Katuscha, die Familie, die Kinder, die in Charkiw geblieben sind. In jener Stadt im Osten der Ukraine, die Russland früh angriff und seither immer wieder: Die Bilder von brandgeschatzten, zerbombten Häusern sind Symbol geworden für den Angriffskrieg, die Zahl der Flüchtlinge Aber-Legion.

Bald ein Jahr in Mülheim: Nach ihrer Flucht aus Charkiw lebt Tamara Butenko bei ihrer Enkelin in Mülheim.
Bald ein Jahr in Mülheim: Nach ihrer Flucht aus Charkiw lebt Tamara Butenko bei ihrer Enkelin in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Die besten Zeiten meines Lebens habe ich in der Ukraine verbracht“

Dieses Charkiw, in dem Tamara Butenkos Haus beschädigt ist, aber die Wohnung darin noch heil, soweit sie weiß: Sie nennt den Ort „Charkow“. Das ist der russische Name, und Russisch ist auch die Muttersprache der alten Frau. Sie ist in Kursk geboren, 1921, eine gebürtige Russin also, aber „die Ukraine ist meine zweite Heimat“. Hier arbeitete sie nach dem Krieg wieder als Lehrerin, leitete später ein Berufskolleg, hier bekam sie ihre Kinder. „Die besten Zeiten meines Lebens habe ich in der Ukraine verbracht, mein Mann und meine Mutter sind dort beerdigt.“

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Aber jetzt herrscht dort Krieg. Als am 24. Februar die ersten Bomben fielen, einen Monat vor ihrem 101. Geburtstag, da konnte Tamara Butenko es nicht glauben. „Meine Oma“, erzählte Enkelin Olga kurz nach deren Ankunft in Mülheim, „hat bis zur letzten Sekunde geglaubt, es wird nichts Schlimmes passieren.“ Die Familie harrte aus, die Großmutter tagelang in der Diele, ihre Kinder in einem Bunker, sie hatten kaum Wasser und nichts zu essen – bis eine Bombe in den Wohnblock krachte. „Da hat sie verstanden, dass wirklich alles zerstört und vernichtet werden soll.“ Tamara Butenko floh wie so viele: nur mit einer kleinen Tasche, in Zügen und Bussen, tagelang. Und lange waren überall, wo sie ankam, die Bomben schon da.

Tamara Butenko ist eine hochdekorierte Veteranin

„In meinem schlimmsten Alptraum“, hat sie damals gesagt, „hätte ich nicht erwartet, dass der russische Präsident so etwas veranstaltet. Er muss völlig krank sein.“ Nun, ein Jahr später, nennt sie die Situation zuhause „kompliziert“. Kein Strom, keine Heizung, und das bei Temperaturen bis minus zehn Grad, ihre Familie habe „ständig Angst um ihr Leben“. Und die alte Frau weiß sehr genau, wie das ist: Im Zweiten Weltkrieg war sie als Krankenschwester an der Front, sie versorgte Soldaten im Lazarett, zog viele selbst vom Schlachtfeld. Später hat man sie dafür geehrt, ein Foto aus dem Familienalbum zeigt die weißhaarige, aufrechte Frau als hochdekorierte Veteranin, lauter Orden auf der Strickjacke.

Hochdekorierte Veteranin: Im Zweiten Weltkrieg war die gelernte Lehrerin Tamara Butenko, hier mit Tochter und Enkelin, Krankenschwester an der Front.
Hochdekorierte Veteranin: Im Zweiten Weltkrieg war die gelernte Lehrerin Tamara Butenko, hier mit Tochter und Enkelin, Krankenschwester an der Front. © Sirik | privat

Aus jenen Zeiten erzählt Tamara Butenko gern. Nicht vom Krieg, von dem, was danach kam: wie die Menschen wieder friedlich miteinander lebten, wie die Völker sich wieder verstanden, weil sie doch eigentlich immer Brüder und Schwestern geblieben seien. In Charkiw gründete sie dafür ein eigenes kleines Museum, ungezählte Schüler sahen ihre Ausstellung, blätterten in Fotos von Kriegshelden – auch Deutsche sind darunter. Der Kontakt mit den jungen Menschen, der Austausch mit ihnen, die stetige Neugier haben sie jung gehalten, sagt Butenko.

Das Museum, „mein Herz und meine Seele“, steht noch, aber ob alles heil geblieben ist, heil bleibt, weiß sie nicht. Sie will dorthin zurück, es wieder aufbauen, wenn das nötig ist, und neue Geschichten erzählen: Von diesem neuen Krieg, wenn er erst vorbei ist. Aber auch von Deutschland, den netten Menschen, dem Sozialsystem, den Denkmälern, „diesem wunderschönen Land“. Von tollen Ärzten und dem leckeren Essen: Besonders gern mag Tamara Butenko Schnitzel mit Pommes. Beinahe scheint sie selbst überrascht von der Sympathie, die sie für Deutschland entwickelt hat, „aus dem Krieg hatte ich andere Gefühle“.

In den letzten Wochen ist Tamara Butenko oft traurig. Aber trotzdem entschlossen, bald nach Hause zurückzukehren.
In den letzten Wochen ist Tamara Butenko oft traurig. Aber trotzdem entschlossen, bald nach Hause zurückzukehren. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

„Putin wird alles zerstören“

Nun ist sie also 101 und plant für die Zukunft. Sagt, sie will sich künftig „nützlich machen“, etwa durch soziale Arbeit für Jugendliche. „Ich habe große Lust, nach Hause zu reisen.“ Weil sie dafür natürlich fit bleiben muss, liest sie viel, schreibt ihre Gedanken auf, löst Rätsel. Und spielt mit der Urenkelin. Nur ist es ja so: Ihre Heimatstadt ist deutlich mehr zerstört als 1945, „auch die Verletzungen sind andere“. Und Putin wird nicht aufhören, das hat Tamara Butenko schon vor einem Jahr gesagt: „Er hat sowieso schon alles verloren und wird weitermachen, bis alles zerstört ist.“

Und trotzdem: Tamara Butenko will nach Hause. Das sagt sie oft. Dass sie noch einmal erleben möchte, dass ein Krieg endet. All’ die Hilfe, die die Ukraine aus anderen Ländern bekomme, mache es „möglich, diesen Wahnsinn zu beenden. Ich bin ganz sicher, ich werde bald zuhause sein.“ Ob sie wirklich noch Hoffnung hat? „Die stirbt immer zuletzt, und meine nie.“ (mit kab/ale)

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