Bochum. Jaroslava Sychova ist vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und bekam in Bochum ihre Zwillinge. Sie wollte schnell zurück. Doch sie ist noch da.
Die Welt von Jaroslava Sychova ist furchtbar klein geworden, seit sie im Ausland lebt. „Ich kann meinen Mann, meinen Vater, meine Freunde nicht treffen“, sagt die 24-jährige Ukrainerin und Mutter von Zwillingen, die in Deutschland geboren wurden: „Ich habe keine Perspektive. Welche Perspektive haben Flüchtlinge? Sie leben als Gemüse. Ich lebe als Gemüse.“
Jaroslava Sychova flieht im April 2022 aus dem ostukrainischen Charkiw, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, damals, als die Krankenhäuser der Stadt beschließen, Operationen und Entbindungen in die Keller zu verlegen. Wegen des Beschusses, der Bombardements. „Damals hat mein Mann beschlossen, dass ich gehen soll“, sagt Sychova.
„Ich hatte immer Angst, dass sie unterwegs zur Welt kommen“
Zwölf Tage ist sie unterwegs in den Westen, in den Frieden. Hochschwanger; mit Zug, Bus, Auto und der Hilfe wildfremder Menschen. Lemberg, Sambir, Przemysl, Krakau, Berlin. „Ich hatte immer Angst, dass sie unterwegs zur Welt kommen, irgendwo auf der Straße.“ Endstation Bochum, wo eine Tante schon lange lebt. Im April bekommt sie dort ihre beiden Jungs, im St. Elisabeth-Hospital des Katholischen Klinikums. Das Krankenhaus behandelt sie unentgeltlich und steht ihr auch danach noch bei. Es ist Mai. Sie fühlt: Sie wird bald wieder zuhause sein. Das herrschende Gerücht ist: Zum Jahrestag des Weltkriegsendes hören die Russen auf.
Jetzt ist es Februar. Ist es Winter. Jaroslava Sychova ist noch immer eine Vertriebene. So ist es ein merkwürdiges Gespräch beim Wiedersehen nach zehn Monaten. Denn sie ist eigentlich eine fröhliche, sehr lebendige Frau; in ihrer Mietwohnung in einem ersten Stock in Bochum-Wattenscheid springt sie hin und her zwischen dem Stuhl und der großen Spieldecke auf dem Boden, auf der die zehn Monate alten Alex und Ber entschlossen um Aufmerksamkeit krähen.
„Was kann ich hier machen? Putzen? Vielleicht bei der Post arbeiten?“
Eigentlich schlafen sie um diese Zeit, deshalb die Verabredung für mittags - aber natürlich schlafen sie jetzt nicht: Kinder! Doch einen Teil des mütterlichen Frondienstes nimmt Viktoria Sychova ihr gerade ab, die Mutter von Jaroslava, die Großmutter der Zwillinge: Sie ist ein paar Tage da, will die Enkel und die Tochter sehen, hilft - bevor sie zurück fährt nach Charkiw.
Merkwürdig an dem Gespräch ist, dass diese fröhlich wirkende Jaroslava dermaßen bittere Sätze sagt. „Ich verstehe nicht, wenn ein Präsident“ (gemeint ist Putin) „Krieg will, warum wir wieder von unten anfangen müssen.“ - „Die Russen können Urlaub machen, ins Ausland fahren, Freunde und Verwandte treffen. Wir sitzen in der Fremde.“ - „Was kann ich hier machen? Putzen? Vielleicht bei der Post arbeiten? Braucht man dafür ein Diplom?“
Die Vermieter, die katholischen Frauen und ein Ehepaar helfen
Dabei sind ihre alltäglichen Umstände gut. Das Vermieter-Ehepaar hilft ihr durch die deutsche Bürokratie von Stadt, Stadtwerken und Jobcenter, beim „Sozialdienst katholischer Frauen“ findet sie Unterstützung. Und ein Ehepaar, das von ihrem Schicksal gelesen hatte, schickt den Kindern zum Geburtstag und zur Weihnacht Geschenke. „Ich hatte nur einen Rucksack, jetzt habe ich wieder alles“, sagt Jaroslava Sychova, oder: „Wenn ich aus dem Haus komme, lächeln viele Menschen mich an.“
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Das Problem ist ein anderes. Gemüse hat keine Perspektive. Das Deutsch von Jaroslava Sychova ist inzwischen ordentlich, aber für ihre Qualifikation reicht es nicht. Die junge Frau hat zwei Uniabschlüsse, Öffentlichkeitsarbeit und Tourismus, und für beides braucht man exzellentes Deutsch - und das lernt man nicht in zehn Monaten. „Ich brauche Deutsch. Nicht alle verstehen hier Englisch“ sagt sie: „Ich weiß, ich möchte . . . vor allem möchte ich zurück . . . aber wenn ich noch bleibe, werde ich lernen und suchen.“ Sie meint: Arbeit. Qualifizierte Arbeit.
Dass sie zurückkehrt mit den kleinen Kindern, ist völlig undenkbar
In der Heimat explodieren weiter Raketen. Ihren Mann sieht sie seit April nur noch per Whatsapp. Jaroslava Sychova kann nicht zurück, völlig undenkbar mit den kleinen Kindern. Sie hadert mit der Aussicht, dass die Verhältnisse noch lange erzwingen könnten, dass Mutter und Kinder in Deutschland bleiben. Wenn Ber und Alex 2024 noch immer hier sind, werden sie eine Betreuung brauchen - und deutsch groß. „Ich möchte, dass sie in meiner Kultur groß werden. Ich möchte, dass ihre Muttersprache Ukrainisch ist.“ Eines der geschenkten Spielzeuge mit Tonspur auf der Spieldecke ist während des Gesprächs mehrfach angesprungen. Ein Kinderlied. Deutsch.
Nicht falsch verstehen. Jaroslava Sychova ist dankbar, hier so aufgenommen worden zu sein. „Alle, denen ich begegnet bin, haben mir geholfen.“ Aber „ich habe hier nicht meine Heimat“. Ihr letzter Satz zum Thema ist dieser: „Ich hoffe, dass ich bald mit meiner Bagage unten an einem Auto stehe und sagen kann: Danke und bye bye!“ Dann lebt sie wieder als Mensch.