Kevelaer. Marina Marynchuk ist eine von 61 ukrainischen Lehrkräften, die an Schulen in NRW unterrichten. Warum die Flüchtlingskinder ihre Hilfe brauchen.

Dobre passt immer, das ist Ukrainisch für „gut“. Dobre, wie der zehnjährige Grigori das Wort „Schrank“ schon aussprechen kann, mit gerolltem R. Dobre als Antwort auf Danils Frage: „Wie geht es dirrr?“ Allerdings müsste man da „sehr gut“ sagen, findet Marina Marynchuk: „Gut“, erklärt sie den Kindern auf Ukrainisch, klinge in ihren Ohren eher wie „so lala“. Auch für die St. Antonius-Grundschule in Kevelaer ist es mehr als „dobre“, dass die Lehrerin aus Kiew nun zum Kollegium gehört. Das Land NRW hat Marina Marynchuk angestellt, als eine von bislang 61 Lehrkräften, die nach Deutschland geflüchtet sind. „Ein Aufatmen“, sagt Schulleiter Andreas Berndt.

Heute hat Frau Marynchuk allen etwas mitgebracht, das „Bildwörterbuch für Kinder und Eltern Ukrainisch Deutsch“. Es gibt lauter Zeichnungen darin, von A wie Ampel bis Z wie Zeitung, auf dem Titel ein Marienkäfer und ein Roggenbrot (?), und bald dahinter eine Seite voller Möbel: „Der Tisch“, sagt Marina Marynchuk mit sehr gedehntem I; die 41-Jährige hat Deutsch einst in der Schule gelernt, zweite Fremdsprache, aber „das ist so lange her“. Sie geht gerade selbst noch einmal zur Schule, jeden Morgen erst Deutsch für Große, dann eilt sie zur Grundschule: Deutsch für Kleine.

Mehr Integrationshilfe als Unterricht: Die ukrainische Lehrerin Marina Marynchuk aus Kiew lernt selbst noch Deutsch.
Mehr Integrationshilfe als Unterricht: Die ukrainische Lehrerin Marina Marynchuk aus Kiew lernt selbst noch Deutsch. © Funke Foto Service | Kai Kitschenberg

Die Kinder mögen nicht über den Krieg reden

Ganz vorn im neuen Übungsheft steht eine Familie zusammen: „der Vater, die Mutter, die Kinder“. Aber das stimmt so nicht, nicht für diese 17 ukrainischen Schülerinnen und Schüler an St. Antonius. Ihr „bat’ko“, der Papa, musste daheim bleiben, viele Väter sind an der Front, die kleine Maria kam sogar nur mit ihrer Oma und auch Marina Marynchuk selbst ohne ihren Mann. „Wir vermissen sie sehr“, sagt die Lehrerin, da sind die Kinder schon hinaus und sehen ihre Tränen nicht. Sie mögen nicht über den Krieg reden, weiß Marynchuk, eine Neunjährige spricht gar nicht, „sie sind so schüchtern“.

Für Schulleiter Berndt ist es deshalb „ein Riesengewinn“, dass er die ukrainische Kollegin anstellen durfte, für zehn Stunden nur und erstmal bis Januar, aber immerhin. Studierte Logopädin ist sie, in der Ukraine ist das ein pädagogischer Beruf. Eine „enorme Erleichterung“ sei es für die Schule gewesen, dass die Flüchtlingskinder „endlich bekannte Klänge“ hören und sie verstehen. Dass nun jemand da ist, der Elternbriefe übersetzt und Dinge erklären kann „auf dem kurzen Weg“. Es sei kein echtes Unterrichten, sagt Marina Marynchuk bescheiden, „ich helfe ihnen, sich zu integrieren“. Willkommensklassen für ausländische Kinder gibt es in Kevelaer nicht mehr, das hat Berndt ab 2015 mit den syrischen Kindern gelernt: „Das hat mit Integration wenig zu tun.“ Sie haben die kleinen Ukrainer also verteilt, von der ersten bis zur vierten Klasse. Marina Marynchuk springt hin und her, sie hätte zwar gern trotzdem einen eigenen Raum, aber im „Blauen Haus“ auf dem Schulgelände wohnen nun auch zwei ukrainische Familien.

Flucht aus Kiew nur mit Schuhen – weil sie glaubten, zu Fuß fliehen müssten

Bildwörterbuch Ukrainisch-Deutsch: Mit diesem Heft lernen die geflüchteten Kinder die neue Sprache.
Bildwörterbuch Ukrainisch-Deutsch: Mit diesem Heft lernen die geflüchteten Kinder die neue Sprache. © Funke Foto Services | Kai Kitschenberg

Ihr eigener Sohn Lev (8) geht auch in Mamas neue Schule, er fragt jetzt nicht mehr so oft, wann sie wieder nach Hause fahren. Er geht schwimmen, auf den Spielplatz, jemand hat ihm ein Cello geliehen, dass er wieder üben kann wie in Kiew. „Die Kinder sind immer beschäftigt“, sagt Marina Marynchuk dankbar. Und sie können mithalten, in Englisch oder Mathe seien sie weiter als ihre deutschen Mitschüler. Anfangs hatte sie Lev noch erzählt, dass sie bloß Urlaub machen. Aber wie sollte er das glauben, wo sie doch reisten nur mit einem Rucksack voller Dokumente, etwas zu essen und – Schuhen: „Ich dachte“, erklärt seine Mutter, „dass wir zu Fuß fliehen müssten.“

Als am 24. Februar über Kiew die ersten Sirenen heulten, wusste die Familie Marynchuk nicht, was zu tun war. „Was machen Menschen in einer solchen Situation?“ Sie packten diesen einen Rucksack und versuchten, aus der Stadt zu kommen, aber es war zu voll. Später brauchten sie zwei Tage bis nach Lwiw im Westen und glaubten immer noch, „dass nichts Schlimmes passiert mit unserem Land“. Zwei Wochen wohnten sie in einem Hostel, zehn Personen und ihre Haustiere in einem Zimmer. Erst „als die Russen anfingen, grausam zu töten und zu vergewaltigen, wusste ich, ich muss weg“. Marina nahm ihre Tochter Margareta, 14, ihren Sohn, ihre Mutter und die Tochter eines befreundeten Paares, die beide Militärs sind, sie brauchten drei Tage über Polen nach Köln. Und wusste, sie sind zu viele: „Fünf Personen, aber wen sollte ich zurücklassen?“

Für die Lehrerin ist der Job an der Schule eine Aufgabe

Den Kontakt zum Niederrhein knüpfte eine mit einem Deutschen verheiratete Freundin, eine Familie in Kevelaer nahm das Quintett auf, Nachbarn und Verwandte schenkten Kleidung, Möbel, Zeit. Ihre Gastgeber nennt Marina Marynchuk nun „unsere Familie“, die Stadt mit ihren hübschen Häusern und den vielen Blumen „ein Märchen“ und dass sie Andreas Berndt traf, „unser Karma“. Ihre Anstellung an der St. Antonius-Schule ist für die 41-Jährige eine Aufgabe, „das, was ich tun kann, um den Krieg zu beenden“. Sie kann ja auch nichts anderes machen: „Wir können nicht auf Pause drücken, wir müssen weiterleben.“ Also hilft sie den Kindern sich einzurichten, sie glaubt, dass es für länger sein wird: „Wir müssen die Sprache lernen und die Kultur. Wir wissen nicht, wie es weitergeht, aber es wird dauern.“

Für den Moment hat die Lehrerin das Gefühl, dass sie helfen kann. Ein gutes Gefühl, ein sehr gutes: „Duzhe dobre.“ Marina Marynchuk sieht „ihren“ Kindern in die Augen: „Und ich weiß, sie brauchen mich.“

>>INFO: GEFLÜCHTETE AN DEN NRW-SCHULEN

Das Land NRW hat bisher 61 ukrainische Lehrkräfte eingestellt, wie es bereits im Mai mitgeteilt hat. Ob seither noch weitere hinzugekommen sind, lässt das Schulministerium offen. Weitere 185 Geflüchtete hatten bis Anfang Mai konkretes Interesse an einer Einstellung bekundet. einer Einstellung bekundet. Unter ihnen sind auch Pädagogen, die ausreichend Deutsch sprechen, um Fachunterricht geben zu können. Zusätzlich unterstützen 1.200 Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter die Schulen, indem sie freiwillig die Zahl ihrer Unterrichtsstunden erhöht haben.

Die Zahl der ukrainischen Kinder, die in Nordrhein-Westfalen beschult werden, war bis Anfang Juni auf 23.629 gestiegen. Ende März, einen Monat nach Kriegsbeginn, waren es noch 6.200 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine gewesen.