Bochum. Schwanger flieht eine Frau aus der Ukraine. In Bochum bringt sie Zwillinge zur Welt. „Ich hatte Angst, dass sie auf der Straße zur Welt kommen.“

Der eine blond, der andere braun, echte Zwillinge also, der eine sieht aus wie die Mama, der andere ganz der Papa: passt. Die beiden Babys teilen sich ein Kinderbettchen und machen diese typischen plötzlichen Greifbewegungen von Säuglingen, die träumen, dass sie greifen. Auf den türkisfarbenen Schlafsäckchen der beiden Jungen steht: „Willkommen im Leben.“ Doch selbstverständlich war das nicht. Nein, gar nicht.

Denn im Bauch ihrer hoch schwangeren Mutter Jaroslava Sychowa haben die zwei auf der Flucht vor dem Krieg rund 2400 Kilometer zurückgelegt. Aus dem ostukrainischen Charkiw ins westdeutsche Bochum, in Zügen, in Bussen und in den Autos wildfremder Helfer. „Ich hatte Angst, dass sie unterwegs zur Welt kommen, auf der Straße“, sagt Sychowa.

„Du musst jetzt pressen, press’ mal mit“

Die Zwilling Ber (links) und Alex: drei Tage alt und weit gereist.
Die Zwilling Ber (links) und Alex: drei Tage alt und weit gereist. © FFS | Kai Kitschenberg

Lembeck, Sambir, Przemysl. Krakau. Berlin. Ruhrgebiet, wo eine Tante wohnt. Jetzt sitzt die 24-Jährige im Stillzimmer des St. Elisabeth-Hospitals des Katholischen Klinikums Bochum und sagt, sie sei natürlich bedrückt wegen der Lage zuhause. Sie zähle sich aber auch zu den Glücklichen „wegen die Unterstützung hier und weil die Menschen so nett sind“.

Ber und Alex, gerade drei Tage alt, schlafen weiter. Beide über drei Kilo schwer, um die 50 Zentimeter lang, alles dran, wie man so schreibt. Als ihre Geburt beginnt in jener Nacht, hält die Ärztin Eirini Koumpous der Gebärenden von Frau zu Frau die Hand und spricht ihr auf russisch zu: „Du musst jetzt pressen, press’ mal mit.“ Eine Sprache der Heimat, wie das hilft. Koumpous spricht seit ihrem Studium in St. Petersburg Russisch, sie übersetzt auch dieses Gespräch. Sie ist eine in der Sowjetrepublik Georgien geborene Griechin, aber das würde jetzt wirklich zu weit führen.

Die Geräusche der Artillerie halten sie zunächst für Feuerwerk

Peter Kern, der Chefarzt der Gynäkologie, holt die beiden Kinder schließlich mit einem Kaiserschnitt. 22.21 Uhr, 22.22 Uhr. So schnell geht das. So lang war es vorher. Den Lärm des Kriegsbeginns im Februar an der 40 Minuten entfernten Grenze zu Russland hielt die Familie zunächst für ein Feuerwerk. Sie waren doch glücklich, sie studierte Werbung und Tourismus, er besaß ein Antiquariat, gemeinsam erwarteten sie ihr erstes Kind. Nein, dass es sogar zwei würden!

Jedenfalls ist ihnen schnell klar geworden: kein Feuerwerk, sondern Artillerie. Zwölf Tage sind sie da noch in Charkiw geblieben, zuhause, bis Krankenhäuser dort begannen, zum Schutz vor Beschuss Patienten, Operationen und, ja, auch Entbindungen in die Keller zu verlegen. „Da hat mein Mann entschieden, dass ich gehen soll.“

Ein Grenzer zieht sie vor, ein fremder Fahrer nimmt sie mit

Der Chefarzt der Gynäkologie am St. Elisabeth-Hospital, Dr. Peter Kern, hat die Zwillinge mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht.
Der Chefarzt der Gynäkologie am St. Elisabeth-Hospital, Dr. Peter Kern, hat die Zwillinge mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht. © FFS | Kai Kitschenberg

Weg aus dem Kriegsgebiet trotz des Risikos, unterwegs beschossen, angegriffen oder ausgeraubt zu werden. Mit zwei verwandten Frauen und einem größeren Kind reist Jaroslava Sychowa westwärts und erlebt als dickbauchige Schwangere immer wieder Hilfe: den polnischen Grenzer, der sie vorzieht. Den fremden Fahrer aus Deutschland, der sie mitnimmt. Das Klinikum schließlich, das sie gratis aufnimmt.

Ihr Mann ist in Charkiw. Er dürfte auch nicht fort. Er will auch nicht fort. Es geht ihm gut. „Er ist völlig begeistert, er wollte immer Jungs“, sagt Jaroslava. Sie telefonieren täglich, mehrmals täglich, und längst hat er im Chat Bilder seiner Kinder bekommen. Seine Frau in Bochum will aber keine gemeinsamen Bilder von sich mit ihm zeigen. Schließlich ist Krieg. Wer weiß.

„Die ganze Verantwortung lastet auf meinen Schultern“

Alex und Ber schlafen weiter. Vertriebene vor ihrer Geburt, aber dabei soll es nicht bleiben. „Es ist ja nicht nur, sie zu stillen und zu wickeln“, sagt die 24-jährige Mutter: „Die ganze Verantwortung lastet auf meinen Schultern.“ Und das im Ausland. Nein, sie wird zurückgehen. Hofft, dass der Krieg bald endet. Oder auch sonst: „Wenn in der Ukraine keine Bomben mehr fallen, kehre ich zurück.“ Das Klinikum will für den Transport sorgen. Wenn . . .

Auch Jaroslava Sychowa kennt das Gerücht, Russland werde den Krieg am 9. Mai 2022 für beendet erklären. Das ist der russische Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, der dort mit einer Militärparade groß gefeiert wird. Er wurde auch in Kiew wegen der gemeinsamen Vergangenheit in der Sowjetunion immer begangen, trug zwischenzeitlich aber mehr die Züge eines Volksfestes. Daran wird noch viele Jahre nicht zu denken sein. Hat mich gefreut, Frau Sychowa. Ber, Alex, passt auf euch auf.