Essen. Ein Deutschkurs ist viel mehr als nur ein Kurs. Hier wird getröstet und versöhnt und gestritten, wer den Krieg angefangen hat. Ein Besuch.
Ein Deutschkurs ist nicht nur ein Kurs. Er ist so viel mehr für zehntausende, ja hunderttausende Ukrainerinnen, die nun notgedrungen die Sprache lernen müssen. „Seit Kriegsbeginn“, sagt Kristina und sucht nach Worten … „unser Leben hat sich umkreisen“ – „umgedreht“, korrigiert die Lehrerin.
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„Mein Bruder ist in Mariupol, Asovstal, geblieben“, sagt Kristina auf Nachfrage. „Er ist gestorben, aber nicht ...“, sie schaut im Übersetzer nach: „nicht begraben“. Als die Krim 2014 annektiert wurde, habe man der Mutter die Arbeit als Englischlehrerin verboten, sagt Kristina. Bruder und Schwester zogen nach Kiew. „Ich war wie eine Mutter für ihn.“ Als der Bruder volljährig wurde, meldete er sich sofort freiwillig für den Donbass, ein gutes Jahr später war er tot. Seine Leiche ist noch nicht identifiziert, auf diese Nachricht wartet Kristina jeden Tag. Die 34-Jährige lebt nun in Essen mit ihrer Tochter und ihrer Schwester, seit sieben Monaten besucht die Journalistin einen Integrationskurs beim Nestor Bildungsinstitut.
Kristina sagt: „Mein Vater ist russisch und lebt in Russland, meine Mutter ist ukrainisch.“ Die Lehrerin sagt: „Und Kristina ist Kristina.“
Die Lehrerin ist auch Psychologin – und Detektivin
Morin Smolé ist selbst Russin: „Ich wusste gar nicht, wie ich in die Augen von Kristina schauen sollte. Das ist psychisch, seelisch und moralisch schwer, denn ich bin sehr gerne Russin.“ Jeden Tag in den letzten sieben Monaten habe sie erst einmal ihre Schülerinnen und Schüler beruhigen müssen. „Sie gucken jeden Tag Nachrichten aus dem Krieg – und ich als Russin. Aber aufstehen, Krönchen richten, weitermachen.“
„Die erste Zeit war ich vorsichtig, weil sie eine russische Lehrerin ist“, sagt eine Schülerin nach langem Zögern. „Aber später habe ich vergessen, dass sie jemand aus Russland ist.“
„Der Lehrer ist kein Lehrer, er ist Psychologe“, sagt eine andere. „Assistent“, ruft die nächste. „Deutsch Bürokratie Brief. Halb Jahr warten auf nächsten Termin.“ – „Detektivin!“ Am Vortag hat Kristina vergessen, wo ihr Auto stand, war einfach durch den Wind. „Sie kam ganz weiß in den Unterricht, wir haben die Polizei angerufen und die Stadt Essen, aber abgeschleppt war der Wagen nicht“, sagt Morin Smolé. – „Bürgermeister angerufen“, witzelt eine. – „Nach dem Unterricht sind wir dann herumgefahren, bis wir den Wagen gefunden hatten.“
„Nicht alle Tassen … im Schrank?“, die Frage nach der richtigen Redewendung ist kein Witz auf Kosten von Kristina. Die Geste dazu umschließt alle im Klassenzimmer. „Wir Lehrer sind zum Teil überfordert“, sagt Morin Smolé. „Ich bin selbst mittlerweile durcheinander und übermüdet. Sehr viele haben psychische Probleme. Manche greifen in dieser Phase zu häufig zum Alkohol.“ Auch das spricht Smolé an. „Und bei einem dieser Gespräche sagt eine junge Frau plötzlich: Sie sind wie eine Mutter für mich.“
„Was sind Anhänger?“
Und so versuchen sie zu lernen. 600 Unterrichtsstunden Deutsch haben sie bereits hinter sich, nun sind sie am Ende der hundert Einheiten Orientierung „Leben in Deutschland“ angelangt. Die Stunde beginnt mit dem gegenseitigen Vorlesen von 300 Prüfungsfragen und -antworten: „Der Krieg dauert von Neunzighundert, nein Neunzehnhundertneununddreißig ...“ Aber die wahren Fragen sind: „Was sind Anhänger?“ – Morin Smolé erklärt es mit einem Witz: „Wir alle sind Anhänger von Andrii – er baut eine Diktatur auf.“
Sie haben „Sonnenallee“ geschaut und die „heute-Show“, haben Marlene Dietrich gehört und natürlich: „Rammstein“, sagt Olena. Ihre Tochter hat mit neun Jahren einen Test geschrieben, in dem sie besser abgeschnitten hat als einige deutsche Klassenkameraden. „Für mich deutsche Sprache schwer“, erklärt Svetlana, die dreifach studierte Juristin, Psychologin, Ökonomin. „Ich habe drei Kinder klein, habe nicht freie Zeit lesen deutsch, lernen deutsch. Aber danke meinem Kurs, danke Deutschland.“
Genügend Plätze in Deutschkursen?
Es mangele an Plätzen in Deutschkursen (und in der Kinderbetreuung), hatte vor kurzem der Chef des Jobcenters Oberhausen bemängelt. Darum stocke die berufliche Eingliederung. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) beträgt die mittlere Wartezeit auf einen Platz im Integrationskurs 4,1 Wochen für das Gesamtjahr 2022, zuletzt sei ein leichter Anstieg zu verzeichnen gewesen. Bei den Volkshochschulen in NRW allerdings liegen die Wartezeiten auf einen Integrationskurs bei rund zehn Wochen, erklärt Verbandssprecherin Simone Kaucher. Tendenz: zunehmend. Das gelte auch für das Ruhrgebiet. Das Bamf rechnet damit, dass sich die Lage im Frühjahr wieder leicht entspannt: dann werden viele stark besuchte Kurse enden.
Die Träger hätten seit April 2022 ihre Kapazitäten für Integrationskurse verdreifacht. „Allein in den Monaten September, Oktober und November hatten wir mit 120.000 neuen Teilnehmenden mehr als im gesamten Vorjahr“ (104.000), so eine Sprecherin des Bamf. Obwohl bundesweit ausreichend Plätze zur Verfügung stünden, stießen regional einige Kursträger „zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen“. Dies gelte vor allem für den ländlichen Raum.
Schwieriger ist die Situation bei den Erstorientierungskursen, die man als Vorbereitung auf einen Integrationskurs verstehen kann. Das BAMF hatte das Angebot 2022 ausgeweitet, die Mittel nun jedoch wieder gekürzt. Für den Malteser Hilfsdienst in NRW etwa bedeutet dies: Von 18 Standorten wird die Hälfte geschlossen. Dadurch entfällt dieses Angebot für beinahe 400 Menschen allein beim Malteser Hilfsdienst.
Nationalismus hindert am Lernen
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„Deutsch ist hässliche Sprache“, sagt eine Anna mit Nachdruck. „Das finde ich gar nicht“, sagt die andere Anna, eine Pianistin mit musikalischem Sprachverständnis. Von 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern haben 22 durchgehalten. Einige werden nach der Prüfung wohl mit einem Kurs vom Niveau B1 weitermachen, sie sprechen in ganzen korrekten Sätzen. Andere sind noch auf A2, vielleicht A1. „Ich gefalle mich?“ – „Es gefällt mir.“
Der Krieg hat auch die ein oder andere Teilnehmerin zu nationalistischen Bemerkungen verleitet. „Ich verstehe das sehr gut, aber ich bin gegen Nationalismus, egal aus welchem Land“, sagt Morin Smolé. Im Hauptberuf ist sie Künstlerin. „Ich komponiere Klavierstücke und singe auf deutsch, französisch und russisch.“ Politische Äußerungen zu vermeiden, mussten alle lernen, denn auch zwischen den Kursteilnehmern gehen die Ansichten auseinander – je nachdem, aus welcher Region sie kommen.
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„Ich wohne in Donezk“, sagt Oksana. Für sie dauert der Krieg bereits neun Jahre. in dieser Zeit wurden ihr vier Mal die Fenster zerschossen und zerbombt. Doch als sie erzählt, widersprechen ihr andere Teilnehmer, reden plötzlich auf sie ein: „Es ist kein Bürgerkrieg, es ist ein Krieg zwischen zwei Ländern“, sagen Olena und Kristina. Und es sei ganz klar, wer ihn begonnen habe. – „Es ist ein Krieg der Oligarchen“, sagt Oksana und meint damit offenbar auch die ukrainische Seite.
Nach der Stunde wird Olena sagen, dass der Angriffskrieg ein Fakt sei und keine Frage von Meinung. Die Krankenschwester wirkt eher resigniert als angriffslustig. Auch Oksana will noch einmal ihre Sicht darlegen: Sie sei oft an ukrainischen Kontrollpunkten schikaniert worden. Der Mechaniker Andrii verweist auf die Korruption, auch er kommt aus dem Donbass. Vor dem Krieg haben sich die beiden wohl eher russisch gefühlt – aber das ist eben kompliziert. Zu kompliziert eigentlich für einen Deutschkurs.