Essen. Erste Geflüchtete aus der Ukraine haben im Ruhrgebiet Arbeit gefunden. Am Uniklinikum Essen helfen eine Ärztin und eine Psychologin Kindern.
Als Nina Betsko ihre Notfalltasche packt, am Tag bevor der Krieg beginnt, da legt sie Wintersachen hinein, bequeme Turnschuhe – und im letzten Moment ihr Stethoskop. „Das konnte ich nicht da lassen.“ Es ist der 23. Februar, vier Wochen wird sie noch ausharren, aber als sie nach Deutschland flieht, ist es immer noch kalt. Für ihre neue Arbeit am Uniklinikum Essen hat die 26-Jährige sich Sommerkleidung besorgen müssen, auch einen Kittel hat sie noch nicht. Aber die kranken Kinder kann die Kinderärztin untersuchen.
Den kleinen Ben auf Station K3 lenkt Nina Betsko mit einem Bienenpuzzle ab und sich selbst mit dem Kind. „Alles okay?“ Sie lachen und klatschen sich ab, einen Moment hat Ben nicht an seine Krankheit gedacht und Nina nicht an zuhause. „Ohne Arbeit zu sitzen, das macht mich nervös.“ Wie dankbar sie ist, dass sie arbeiten darf nur wenige Wochen nach ihrer Flucht, sie möchte das immer wieder sagen. Noch fehlen ein paar Unterlagen, die Klinik ist in Kontakt mit der Bezirksregierung, aber die Medizinerin hat schon einen Platz im Arztzimmer 138. „Ein bisschen gucken, meine Kenntnisse entwickeln“, sagt sie bescheiden. Und lernen, wie die Medikamente auf Deutsch heißen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ für Ukrainerinnen
Mehr als 40 Bewerbungen sind im Uniklinikum Essen schon eingegangen, die Geflüchteten aus der Ukraine wollten „unbedingt arbeiten“, heißt es auch von dort. Sie sind Ärztinnen und Pflegerinnen, bieten sich aber auch an für Reinigungsdienste oder Transport. Das Interesse hat nicht nur den Kaufmännischen Direktor Thorsten Kaatze „sehr positiv überrascht“. Man versuche, sagt Kaatze, Anstellungen für Flüchtlinge „in dem medizinischen Beruf möglich zu machen, in dem sie auch ausgebildet wurden“. Das sei ein wichtiger Baustein in der Unterstützung „und ermöglicht den Ukrainern, die ins Ruhrgebiet geflüchtet sind, Hilfe zur Selbsthilfe“.
Nina Betsko vermittelte ihre Gastfamilie aus Kettwig an das Krankenhaus, es leben dort Freunde ihrer Schwiegereltern, sie kam über Polen ins Revier. Eltern, Ehemann und Oma blieben zurück, das Dorf der Großmutter ist besetzt, dauernd gibt es Explosionen – „schrecklich“, sagt die 26-Jährige. „Mein Mann hat gesagt, ich muss nach Deutschland.“ Eigentlich hatte sie das schon früher gewollt, an einer Klinik hospitieren, mehr lernen über Kinder-Onkologie. „Ich habe nur allgemeine Pädiatrie studiert.“ Aber dann war erst Corona und dann Krieg, aus Wollen wurde Müssen.
Für Geschichten aus dem Krieg braucht die Ärztin ihr Wörterbuch
An ihrem privaten Krankenhaus in Kiew brauchen sie Nina gerade nicht. Sie helfen dort jetzt kostenlos Verletzten, sorgen für psychologische Betreuung. Die Kinder, die sie sonst behandelte, seien weg: „Es gibt nicht mehr viele Kinder in der Ukraine“, so viele sind mit ihren Müttern geflohen. Nina Betsko weiß, sie kann zurück, aber wann wird das sein? „Ich bin kein Kriegsexperte, ich weiß nicht, was kommt.“ Sie glaubt, sie ist „nicht sicher“ in diesem Kiew, dessen deutsche Schreibweise ihr wehtut. „Kiew“, so schreiben das auch die Russen, die sonst so zurückhaltende junge Frau beugt sich über den Tisch und buchstabiert den ukrainischen Namen: „Kyjiw“.
Nina Betsko spricht fließend Deutsch, aber wenn sie von der Ukraine spricht, braucht sie das Wörterbuch. „Raketen“ muss sie nachgucken, „Luftalarm“ und das Geräusch, das Fenster machen, wenn in der Nähe die Bomben explodieren. Wörter, die vom Krieg erzählen, hat die Kinderärztin in der Schule nicht gelernt.
Psychologin: Ukrainische Kinder sind oft traurig
Yuliia Latunenko kann noch fast gar kein Deutsch und auch wenig Englisch, aber sie wird in Essen unbedingt gebraucht. Die Psychologin betreut die krebskranken ukrainischen Kinder und ihre Familien, die das Universitätsklinikum aufgenommen hat. Im alten Schwesternwohnheim tröstet sie, lindert das Heimweh und die Angst. Und vergisst dabei, dass ihre eigenen Sorgen doch dieselben sind. „Die Kinder sind oft traurig“, sagt die 54-Jährige, die mit ihrem russischen Mann und drei Katzen nach Essen kam – zu einer Frau, die einst in ihrer Internet-Sprechstunde Rat gesucht hatte.
Nur, wenn man sie fragt, erzählt die erfahrene Psychologin von sich: von ihrer Sehnsucht nach der Familie, nach der 80-jährigen Mutter, die nur 15 Kilometer von besetztem Gebiet wohnt. Von ihrer Angst zu erfahren, dass ihr Haus nicht mehr steht. „Ich habe dort niemanden mehr, den ich fragen kann.“ Von den Kastanien, die gerade blühen in Kiew. „Es ist jetzt so schön dort.“ Nina Betsko neben ihr muss tief Luft holen, bevor sie übersetzt. „Ich verstehe es.“ Sie alle wollten nach Hause, aber, sie wiederholt den Satz, dreimal, viermal: „Es ist nicht sicher dort.“
Und dann schütteln sie sich kurz, beide, es ist auch eine Chance für sie, in Deutschland zu sein. „So wertvoll für mich“, sagt Nina Betsko. Und wenn erst die Kinder zurückgehen in die Heimat, dann können sie auch gehen. Und dort „den Menschen helfen“, wie es der Plan war.
>>INFO: UKRAINISCHE FLÜCHTLINGE DÜRFEN ARBEITEN
Geflüchtete aus der Ukraine, die einen Aufenthaltstitel haben, dürfen damit sofort anfangen zu arbeiten. Das ist in Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes so festgelegt. Häufig stockt jedoch das Verfahren, weil Termine bei den Ausländerbehörden rar sind, Dokumente fehlen und Abschlüsse nicht rasch genug anerkannt werden können. Auch steht vielen Ukrainerinnen und Ukrainern im Weg, dass sie kein oder nicht genug Deutsch sprechen.
Auf der anderen Seite stehen Arbeitgeber, die händeringend Personal suchen. Zwei private Unternehmer haben deshalb schon im März das Portal jobaidukraine.com gegründet. Laut Mitbegründer Marcus Dieckmann sind bislang schon an die 3000 Vorstellungsgespräche vermittelt worden. Allein in den Großstädten des Ruhrgebiets wurden zu Anfang der 21. Kalenderwoche 361 Jobs angeboten – von der Kellnerin bis zum Chemieingenieur, vom Physiotherapeuten bis zur Webdesignerin.