Mülheim. Die 101 Jahre alte Ukrainerin Tamara Butenko lebt seit Monaten als Geflüchtete in Mülheim. Welche Hoffnungen sie mit dem neuen Jahr verbindet.
Es ist ein Jahr zu Ende gegangen, das ihrer Heimat Krieg brachte, den zweiten, den Tamara Butenko in ihrem langen Leben miterleben muss. Die 101-Jährige war im Frühjahr gemeinsam mit ihrer Tochter und einer Enkelin aus dem schwer umkämpften Charkiw im Osten der Ukraine auf beschwerliche Weise nach Mülheim geflohen. Seitdem lebt die hochbetagte Dame bei ihrer Familie in der Walkmühle. Ob das neue Jahr ihrem Heimatland Frieden bringen wird?
Gerade in diesen Tagen kommen wieder besonders besorgniserregende Nachrichten aus der Heimat, nach wie vor wird Charkiw massiv von russischen Truppen angegriffen. In der Nacht seien wieder Hunderte Bomben gefallen. „Da wird die Infrastruktur komplett ruiniert“, beobachtet Tamara Butenko betroffen aus der Ferne. Was Putin damit bezwecken will? Die Zivilisten in die Knie zwingen? Verstehen könne sie diese Angriffe nicht.
Betreiber des Mülheimer Restaurants Walkmühle hat die Hochbetagte aufgenommen
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Erlebt hat die 101-Jährige sie am eigenen Leib, als russische Soldaten im Februar ihre Heimatstadt angriffen. „Da haben wir tagelang zunächst nur in der Diele gesessen, es gab keinen Bunker in der Nähe.“ Mittlerweile sei das Viertel, in dem Butenko, ihre Tochter und ihre Enkelin lebten, schwer zerstört. Sergio Sirik, Ehemann der Enkelin von Tamara Butenko und Betreiber des Restaurants Walkmühle, zeigt auf seinem Handy Fotos von brennenden Hochhäusern und verkohlten Ruinen, die mal Gebäude waren. „Meine Eltern haben in der Nähe gelebt“, sagt Sirik mit Blick auf die Bilder und erzählt: „Sie haben drei Wochen beinahe ohne Essen und Wasser in einem Bunker ausgeharrt, bevor sie hierhin gekommen sind.“
Der 46-Jährige lebt seit rund 20 Jahren in Deutschland, seine kleine Tochter hat die Großeltern regelmäßig in der Ukraine besucht. Auf die Ferien in der Datsche, dem Sommerhaus am See unweit von Charkiw, wird die Mülheimer Schülerin wohl auf unbestimmte Zeit verzichten müssen. Ihr Vater sagt: „Ich fürchte, wir werden das Land lange nicht besuchen können.“
Geflüchtete Ukrainerin will nach ihrer Rückkehr von ihrer Zeit in Deutschland berichten
Dabei sehnt sich Tamara Butenko, die 1921 in Kursk geboren wurde, das rund 250 Kilometer nördlich von Charkiw auf heute russischem Grund liegt, danach, zurückzukehren und den Ukrainern – gerade den Heranwachsenden – von ihren Erlebnissen zu berichten. Den Kindern und Jugendlichen zu erklären, dass Menschen eigentlich immer Brüder und Schwestern sind, dass es so viel mehr gibt als das Grauen des Krieges und dass man selbst danach friedlich und ehrenvoll miteinander leben kann.
Nichts anderes hat die rührige Dame nach dem Zweiten Weltkrieg getan, wo sie selbst an der Front als Krankenschwester geholfen hat, Erste Hilfe auf dem Schlachtfeld leistete. In Charkiw hat sie schließlich ein Museum eröffnet, das über den Krieg, vor allem aber über die Völkerverständigung informiert, mit einem Album, das von den Helden erzählt – auch eine ganze Reihe deutscher Soldaten stünden darin. Unzählige Schülerinnen und Schüler haben die Ausstellung in den vergangenen Jahrzehnten bereits besucht. Der Kontakt mit jungen Menschen, der Austausch mit ihnen, die stetige Neugier habe sie jung gehalten, sagt Butenko.
101-jährige Ukrainerin schreibt ihre Erfahrungen und Erlebnisse in Mülheim nieder
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„Während meiner Zeit hier in Deutschland habe ich schon eine Menge aufgeschrieben“, blickt Butenko auf das Museums-Projekt, das sie nach ihrer Heimkehr wieder aufleben lassen möchte. Wie gut sie in Deutschland aufgenommen worden sei, wie freundlich und friedlich die Menschen seien, wie fantastisch Denkmäler erhalten und die Natur gepflegt werde, wie gut das Gesundheitssystem organisiert sei, all das möchte sie ihre Landsleute wissen lassen. Und auch, dass Deutschland mit Mahnmalen und Stolpersteinen an die Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert, will sie zu Hause erzählen, und ihre Augen leuchten bei der Vorstellung. Beinahe scheint sie selbst etwas überrascht zu sein über die Sympathie, die sie für Deutschland entwickelt hat: „Aus dem Krieg damals hatte ich andere Gefühle.“
Sie ist begeistert davon, wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde. Dass ihrem Land das auch gelingen mag, ist ihr allergrößter Wunsch. Heute aber, zieht die 101-Jährige den Vergleich zum Bombardement vor beinahe 80 Jahren, sei ihre Heimatstadt noch mal deutlich mehr kaputt, „auch die Verletzungen sind andere“.
Bekannte aus Russland haben Kontakt zu Ukrainern in Mülheim abgebrochen
Trotz des unermesslichen Leids, das der Krieg über ihre Heimat gebracht hat, sagt Tamara Butenko, habe ihre Flucht auch Positives bewirkt: „Ich erlebe hier so viel Gutes. Die Familie ist zusammen, wir sehen uns jetzt öfter.“ Nicht alle allerdings haben einen guten Draht zueinander. Zu der Verwandtschaft in Russland, ihrem Geburtsland, sei der Kontakt gerade sehr abgekühlt. Das hat auch Sergio Sirik erfahren, der noch viele Kontakte in seine alte Heimatstadt Charkiw und auch ins benachbarte Russland hat. „Es gibt Leute dort, die haben am 23. Februar noch mit mir gesprochen, danach nicht mehr“, sagt der Mülheimer mit Blick auf den Kriegsausbruch und spricht von russischer Propaganda.
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Engen Kontakt hält er mit ehemaligen Studienkollegen – sie müssen in Charkiw kämpfen. Auf einem Video, das Sirik auf seinem Handy zeigt, sind drei bewaffnete Männer in Tarnanzügen zu sehen. „Das sind meine Freunde, sie stehen vor unserer ehemaligen Fakultät, die auch zerstört worden ist.“ Hinter den Männern ist ein dunkler Transporter zu sehen. „Das Auto haben wir besorgt und in die Ukraine gebracht, damit holen sie Verletzte von der Front“, sagt Sirik.
101-Jährige hat ihre Heimkehr nach Charkiw bereits vor Augen
Der Gastronom der Walkmühle und seine Familie wollten etwas tun gegen die Ohnmacht, die sie angesichts der Fernsehbilder kurz nach Ausbruch des Krieges verspürt haben, betont Sirik. Unermüdlich helfen sie seitdem, zahlreiche Hilfstransporte sind von Mülheim aus bereits in die Ukraine gefahren. Zurzeit sammeln die Helfenden Fenster, die dann in die Ukraine gebracht werden. Wiederaufbau sei das noch nicht, ordnet Sirik ein, sondern Nothilfe, damit die Menschen über den kalten Winter kommen.
Dass das neue Jahr Frieden für die Ukraine bringen wird, da ist Tamara Butenko eher skeptisch. Selbst wenn irgendwann der Bombenhagel vorbei ist, die Schüsse verhallt sind, wie viel Zeit wird dann noch vergehen, bis ihr Charkiw, diese Millionenstadt, wieder aufgebaut ist? Wann wird die hochbetagte Dame dort wieder leben können? Ratlos zuckt sie mit den Schultern, formuliert dann aber vehement ihren Wunsch, dessen Umsetzung sie rüstig bleiben lässt: „Ich will nach Hause.“
Hilfstransporte von Mülheim in die Ukraine
Die Angehörigen von Tamara Butenko – ihre Enkelin Olga Kovalenko und deren Mann Sergio Sirik, die in Mülheim das Restaurant Walkmühle betreiben - haben bereits seit Kriegsbeginn Dutzende Hilfslieferungen von Mülheim aus in die Ukraine geschickt und sich einem Hilfsverein angeschlossen: Opora, was übersetzt Unterstützung heißt.
Kurz vor Silvester ist ein großer Strom-Generator bei einem Waisenhaus in Charkiw angekommen, in dem auch kranke Kinder leben. Manche brauchen Geräte, die ihre Atmung unterstützen.
Unterstützung erfahre der Verein auch vom Rhein-Ruhr-Zentrum, schildert Sirik, dort können die Helfenden kostenlos ein großes Lager nutzen, um Hilfsgüter zu verwahren. Über Tamara Butenko sagt der Gastronom: „Die Oma ist für unsere Aktionen eine Art Talisman geworden.“ Informationen über den Hilfsverein: opora-ua.de