Mülheim. Eine 101-Jährige flüchtete unter Strapazen von Charkiw nach Mülheim. Sie weiß, was Krieg anrichtet. Sie hofft, dass sie noch mal Frieden erlebt.

Die Ukrainerin Tamara Butenko hätte sich niemals träumen lassen, dass sie ihren 101. Geburtstag in Deutschland feiern würde, wo sie noch nie in ihrem langen Leben war. An diesem Dienstag gab es für sie in Mülheim ein Familienfest. Sogar zwei Urenkel aus Israel waren angereist, elf und 14 Jahre alt – Tamara Butenko traf sie zum allerersten Mal. Sie stellt fest: „Das Unglück hat uns alle zusammengebracht.“

Vor knapp zwei Wochen flüchtete die 101-Jährige aus ihrer Heimatstadt Charkiw. Sie sagt: „In meinem schlimmsten Alptraum hätte ich nicht erwartet, dass der russische Präsident so etwas veranstaltet. Er muss völlig krank sein.“ Sie nennt Putin einen „Faschisten“, und eine Frau wie sie weiß, was sie da sagt.

101-Jährige kam bei Familienmitgliedern im Mülheimer Rumbachtal unter

Tamara Butenko ist eine Zeitzeugin des Zweiten Weltkrieges. Sie wurde am 22. März 1921 in Russland geboren, in der Region Kursk nahe der ukrainischen Grenze. Russisch ist ihre Muttersprache, im Gespräch übersetzt ihre Enkeltochter Olga Sirik. Die 101-Jährige ist an einem hübschen, sicheren Ort – im Garten des Restaurants Walkmühle, das Familie Sirik im Mülheimer Rumbachtal betreibt. Aber ihre Seele ist verletzt und immer wieder fließen Tränen.

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Walkmühlen-Wirt Sergio Sirik und seine Ehefrau Olga stammen aus der ostukrainischen Stadt Charkiw, die brutal beschossen wird. Seit Wochen bangen sie um Familienmitglieder, Bekannte und Freunde, die dort versuchen zu überleben, sie haben auch Verwandtschaft in Kiew. Viele müssen dort ausharren, die engsten Familienmitglieder konnten jedoch fliehen und in Mülheim privat untergebracht werden. Tamara Butenko machte sich gemeinsam mit ihrer Tochter und einer Enkelin auf die hochgefährliche Reise.

Bis zur letzten Sekunde gedacht, es wird nichts Schlimmes geschehen

Sie wollte erst nicht weg. Die Hundertjährige konnte nicht glauben, was in Charkiw geschah. „Meine Oma dachte wirklich, nur militärische Objekte würden angegriffen“, sagt Olga Sirik. „Sie hat bis zur letzten Sekunde geglaubt, es wird nichts Schlimmes passieren.“ Dann krachte am hellichten Tag eine Bombe in ihren Wohnblock. „Da hat sie verstanden, dass wirklich alles zerstört und vernichtet werden soll.“ Die alte Frau befand sich plötzlich wieder im Krieg und entschloss sich zur Flucht.

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Was Krieg bedeutet, hat Tamara Butenko ab 1941 erlebt, da war sie eine ganz junge Frau, unterrichtete als Lehrerin Geschichte, Physik und Deutsch. Sie wurde Krankenschwester – wie man im Feldlazarett Blutungen stillt, Gliedmaßen abbindet, Leben rettet, habe sie von den Soldaten selber gelernt, sagt die Hochbetagte. Vier Jahre lang bewegte sie sich dicht an der Front. Viele Verwundete habe sie eigenhändig vom Schlachtfeld gezogen, berichtet sie, und ihr erstes Kriegsjahr, in dem die Kampflinie immer weiter nach Osten rückte, sei die schlimmste Zeit in ihrem Leben gewesen.

Kriegsende 1945 war die schönste Zeit in ihrem Leben

Die schönste Zeit? „Das Ende des Krieges. Wir haben gefeiert, dass wir jetzt in Freiheit leben konnten, zurück konnten zu unseren Familien. Das war ein tolles Erlebnis, ein wunderschönes Gefühl.“ Momentan kann Tamara Butenko nur hoffen, dass sie noch einmal ein Kriegsende erleben darf.

Nach 1945 arbeitete sie in Russland unter anderem als Lehrerin für Politik und Ökonomie, heiratete, bekam zwei Töchter. 1960 wurde sie in die Ukraine versetzt, nach Charkiw, und leitete dort ein Berufskolleg für Telekommunikation. In Charkiw richtete Tamara Butenko auch ein kleines militärhistorisches Museum ein, durch das sie Schulkinder führt. Erst kürzlich hat sie dort noch gearbeitet. „Sie hatte Pläne, das Museum weiterzuentwickeln“, berichtet Olga Sirik, „um Kindern Geschichte zu vermitteln.“ Diese Pläne müssen nun warten.

Gefährliche Flucht aus Charkiw: Zugstrecke wurde beschossen

Die Flucht nach Deutschland war bedrohlich und beschwerlich. Am 7. März seien die drei Frauen gestartet, berichtet Enkelin Olga Sirik, am 10. März erreichten sie Mülheim. Schlimm war vor allem die Fahrt mit dem Zug zur Stadt Lwiw nahe der Grenze zu Polen. 28 Stunden war der Zug unterwegs, „und er war brechend voll. Oma durfte wenigstens sitzen, aber meine Mutter und meine Schwester mussten die ganze Zeit stehen.“ In der Nähe von Kiew sei die Bahnstrecke von Flugzeugen beschossen worden. Die Leute sollten sich auf den Boden legen – bloß wie? Der Zug musste eine andere Strecke fahren. „Meine Oma ist kein Angsthase“, sagt Olga Sirik, „sie hat schon viel erlebt. Aber für meine Mutter und meine Schwester war es heftig.“

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Von der polnischen Grenze wurden die Frauen mit dem Auto abgeholt, fuhren noch mal 17, 18 Stunden. Doch die 101-Jährige hat die Strapazen offenbar relativ gut überstanden, sie wirkt wach und vital. Was ihr zu schaffen macht, ist das tiefe Entsetzen über den russischen Angriff: Im Zweiten Weltkrieg habe sie Russland befreit, meint Tamara Butenko, jetzt zerstören Russen ihr Haus, ihre Stadt, ihr Land.

Alles in der Ukraine zurückgelassen – bis auf eine kleine Tasche

Sie flüchtete nur mit einer kleinen Tasche, darin die nötigsten Papiere, und mit der Kleidung, die sie trug. Alles andere musste sie zurücklassen, was sie sehr traurig macht: alle Fotos, alle Erinnerungsstücke, alle Bilder von ihrem Ehemann, der schon 1968 verstarb.

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In ihrem Herzen sei aber kein Hass, versichert sie: „Soldaten handeln immer nur auf Befehl.“ Auch die Deutschen habe sie im Zweiten Weltkrieg nie gehasst: „Deutsche Soldaten waren sehr nett und haben russischen Kindern Schokolade geschenkt. Und die deutsche Bevölkerung hat im Krieg genauso gelitten wie wir.“

„Putin wird weitermachen, bis alles zerstört ist“

Russland habe sie immer geliebt, sie ist dort geboren, hat dort Verwandtschaft, spricht die Sprache. „Die Regierung ist Schuld. Die Leute werden mit reingezogen.“ Was Putin anrichtet, kann die 101-Jährige im Grunde immer noch nicht glauben: Er mache beide Länder kaputt, die Ukraine, aber auch Russland, wo die Wirtschaft leide, junge Leute keine Zukunft mehr hätten. Leider werde man Putin nicht mehr stoppen können, fürchtet die 101-Jährige: „Er hat sowieso schon alles verloren und wird weitermachen, bis alles zerstört ist – oder ihn jemand ausschaltet.“

Dennoch gibt Tamara Butenko die Hoffnung nicht auf und hält an ihrem einzigen Wunsch fest: dass ihre Lieben diesen Krieg überleben und sie zurück kann nach Charkiw. Nach Hause.

Junge Leute geben neue Kraft

Tamara Butenko hatte zwei Töchter, von denen eine leider bereits verstorben ist. Die andere, Olga Siriks Mutter, flüchtete mit ihr von Charkiw nach Mülheim. Außerdem gehören zur Familie sechs Enkel (eine Enkeltochter floh ebenfalls mit ihr) und mittlerweile vier Urenkelkinder.

Ihr hohes Alter erklärt die 101-Jährige damit, dass sie Zeit ihres Lebens immer junge Leute um sich herum hatte. Das gebe ihr auch in der jetzigen Situation die Energie und Kraft, weiterzumachen.