Ruhrgebiet. Die Stimmung ist aufgeheizt zwischen Russen und Ukrainern in NRW. Zu Gewalt kommt es jedoch eher selten – bei zufälligem Aufeinandertreffen.
1058 Straftaten mit Kriegsbezug – das klingt viel. Doch tatsächlich schätzen die Behörden die Sicherheitslage in NRW im Zusammenhang mit dem russischen Angriff als eher entspannt ein. Seit Beginn des Krieges hat die Polizei im Land 185 Gewaltdelikte und 76 sexuelle Übergriffe, die mit dem Konflikt zu tun haben, registriert und in einem Lagebild zusammengefasst. Der Rest verteilt sich auf verschiedene Straftaten. Der mutmaßliche Sabotageakt gegen die Bahn in Herne ist hier noch nicht berücksichtigt.
Besonders betroffen sind Personen, die sich „als Befürworter russischer oder ukrainischer Interessen zu erkennen geben“, manchmal auch nur aus Tätersicht, erklärt das NRW-Innenministerium. Für diese Gruppe bestehe „grundsätzlich ein erhöhtes Risiko, Opfer von Straftaten zu werden, insbesondere von Beleidigungen und Sachbeschädigungen bis hin zu Bedrohungen“. Jedoch liegen dem Landeskriminalamt keine Erkenntnisse zu systematischen Einschüchterungsversuchen vor. Die Gewaltdelikte seien bei zufälligen Begegnungen begangen worden.
Große Demo, keine Straftaten
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Es dürfte von vielen als Provokation empfunden werden, wenn 800 Menschen – darunter Russen, Querdenker, Pazifisten – „Gegen Krieg und Waffenlieferungen an die Ukraine“ demonstrieren und dabei lautstark auch für Putin, wie Anfang September in Köln geschehen. Es gab Gegendemonstranten, man beschimpfte sich gegenseitig als Faschisten – und doch meldete die Polizei: keine Zwischenfälle.
Besonders bei Versammlungslagen ergebe sich „ein abstraktes Spannungsfeld“, erklärt nun das Innenministerium zum Lagebild. Die überwiegende Zahl der dort zusammengefassten Delikte habe aber keinen Bezug zu Demonstrationen, Kundgebungen oder Mahnwachen. In fast allen Fällen seien Versammlungen „friedlich und störungsfrei verlaufen“, so Ministeriumssprecher Markus Niesczery. Dies zeige, „dass das Konfliktpotenzial zwar existent ist, jedoch bislang in NRW nicht zu massenhaften Gewalttaten oder Rechtsbrüchen führt“.
Das bestätigt Mykola Pavlyk, Pfarrer der ukrainischen Gemeinde von Essen, Bochum, Düsseldorf, Krefeld und Köln. „Ich bin selbst erstaunt“, sagt Pavlyk, „in Anbetracht dessen, wie viele Menschen angekommen sind und was gerade passiert, ist die Lage wirklich ruhig.“ Es habe ein paar Schmierereien gegeben, das Z-Symbol natürlich. Darüber hinaus „habe ich in der Gemeinde bisher keine Berührung gehabt mit Straftaten, die in Deutschland passiert sind und mit dem Krieg zu tun haben“, erklärt Pavlyk. „Und ich bin auch als Seelsorger in Gefängnissen unterwegs.“
“Freunde sind wir nicht“
Kontakte mit Russen gäbe es nur selten, so der Pfarrer. „Einzelne waren da und haben geholfen – kritisch wenige, man kann sie an einer Hand abzählen, aber die immerhin waren da.“ Ansonsten erlebt Mykola Pavlyk ein Verstummen der russischen Community. Viele russischsprachige Ukrainer gehörten vor dem Krieg wie selbstverständlich dazu, nun schwiegen die meisten Vereine und Gemeinden. Viele Russen scheinen sich „zurückgezogen“ zu haben, glaubt Pavlyk. „Freunde sind wir nicht. Aber ich habe sehr viel mehr Konflikte erwartet.“
Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in NRW zählt zu den Vereinen, die sich gegen den Krieg positionieren und engagieren. Gerade in der Anfangsphase des Krieges waren Russen und Russlanddeutsche vermehrt Anfeindungen ausgesetzt. Ein Supermarkt für russische Spezialitäten in Oberhausen war im März mit Steinwürfen gegen Scheiben und Schmierereien demoliert worden. Mittlerweile ist es ruhig geworden. „Mir sind keine Fälle von Bedrohung oder Gewalt bekannt“, sagt der Vorsitzende Dietmar Schulmeister.
Die Angst vor russischen Agenten
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Er besucht ukrainische und russische Veranstaltungen – fühlen sich die Teilnehmer bedroht in Deutschland? „Bei den Ukrainern ist die Bedrohungslage eine andere. Dort geht es ums Überleben“, sagt Schulmeister. Die Russischsprachigen seien Einschüchterungsversuchen des russischen Staates ausgesetzt. „Sie wissen, dass sie fotografiert werden. Wer hingeht, zeigt sich.“
Seit Beginn des Krieges richteten sich „etwa dreimal so viele Straftaten“ gegen die ukrainische im Vergleich zur russischen Seite, heißt es aus dem Innenministerium. Etwa ein Viertel der Taten war politisch nicht zuzuordnen. Schaut man nur auf die Gewaltdelikte, wurden 48 von russischen Sympathisanten begangen, 33 von ukrainischen – der Rest, also der überwiegende Teil, war unbestimmter Natur.
Das trifft auch auf die 76 Sexualdelikte mit 95 Opfern zu. Dabei handelt es sich fast immer um geflüchtete Frauen. So stehen in Düsseldorf zwei Männer vor Gericht, die eine Ukrainerin in Düsseldorf vergewaltigt haben sollen, auch die Angeklagten sind Flüchtlinge, ein Tunesier, der in der Ukraine studierte, und ein Nigerianer. Von einer politischen Motivation ist bei diesem wie bei den anderen Fällen nicht auszugehen. Die Sexualdelikte tauchen im Lagebild auf, weil hier die „Vulnerabilität einer Opfergruppe im Vordergrund steht“, so das Innenministerium.
Neben den Sachbeschädigungen macht Propaganda das Gros der erfassten Delikte aus, zumeist wird das „Z“-Symbol gesprüht. Zum Beispiel in einem Tunnel und auf eine Garagenwand in Herten.