Witten. Friederike Groß-Böcker hat eine Tochter mit Handicap, Roland Sauer eine behinderte Schwester. Ein Gespräch über Pläne, Träume und Wittener Honig.
Bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand hatte Dieter König, der ehemalige Geschäftsführer der Wittener Lebenshilfe, die Gäste mit italienischen Schlagern begeistert. Ob seine Nachfolger das Unternehmen ebenso schwungvoll leiten, werden sie erst noch unter Beweis stellen. Friederike Groß-Böcker (45) und Roland Sauer (43) bilden die neue Doppelspitze. Erstmals gehört damit eine Frau zur Geschäftsführung. Gemeinsam will sich das Duo für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung einsetzen.
Frau Groß-Böcker, Sie sind ganz neu bei der Lebenshilfe. Herr Sauer, Sie kennen den Laden schon lange. Wie sind Sie beide hier gelandet? Welche Verbindung haben Sie zu Witten?
Friederike Groß-Böcker: Ich bin eine Ruhrgebietspflanze, gebürtig aus Dortmund, wo ich auch lebe. Aber meine Schwiegereltern wohnen in Witten. Deshalb liegt mir die Stadt nah. Und weil meine elfjährige Tochter Lotta eine geistige Beeinträchtigung hat, liegt mir die Lebenshilfe sehr am Herzen. Ich habe BWL studiert, hatte eine Steuerberatungskanzlei mit meinem Vater, war freiberufliche Unternehmensberaterin und lange im Vorstand des Dortmunder Frauenzentrums. Bei der Lebenshilfe werden meine Schwerpunkte in den Bereichen Finanzen, Personal und Organisation liegen.
Roland Sauer: Ich bin Wittener, genauer: Bommeraner, mit Leib und Seele. Und das wird auch immer so bleiben. Meine Schwester ist acht Jahre älter als ich und schwerst mehrfach behindert. Deshalb kenne ich die Lebenshilfe schon, seit ich denken kann. Sie hat meine Schwester vom Kindergarten über die Werkstatt bis zum Leben im Wohnheim immer begleitet. Ich wollte mal Tischler werden, habe Holztechnik studiert und in der Großindustrie gearbeitet. Aber eigentlich habe ich schon beim Zivildienst in den Von-Bodelschwinghschen Anstalten in Breckerfeld gemerkt, dass mir diese Arbeit mit beeinträchtigten Menschen Spaß macht. 2011 habe ich bei der Lebenshilfe in Witten angefangen, war zum Beispiel Gruppen- und Werkstattleiter. Seit 1. Januar 2023 habe ich die Geschäftsführung schon gemeinsam mit Dr. König gemacht. Ich werde mich vor allem mit Technik, Ressourcen und Qualitätsmanagement befassen.
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Was ist Ihnen besonders wichtig?
Groß-Böcker: Beeinträchtigte Menschen sollen mit der Lebenshilfe einen Partner haben, der sie das ganze Leben begleitet. Gerade aktuell: Was kann man diesen Menschen anbieten, wenn sie in Rente gehen. Das können etwa tagesstrukturierende Maßnahmen sein oder Aufgaben, die sie erfüllen - damit sie nicht in ein Loch fallen. Überhaupt müssen wir noch mehr auf den einzelnen Menschen schauen. Welche Unterstützung braucht er oder sie, welche Fähigkeiten sind da? Da sieht das Bundesteilhabegesetz einen Perspektivwechsel vor.
Welche Projekte planen Sie nun gemeinsam?
Groß-Böcker: Im Herbst werden wir im neuen Gesundheitszentrum an der Pferdebachstraße ein Autismus-Therapie-Zentrum eröffnen. Es richtet sich vor allem an Kinder nach dem Grundschulalter. Da gibt es großen Bedarf. Bald wollen wir ein Büro für „Leichte Sprache“ eröffnen. Demnächst stellt die Lebenshilfe selbst Honig her. Eventuell starten wir auch ein neues Bauprojekt. Doch dazu kann ich noch nicht mehr sagen.
Ihre ersten Eindrücke von der Lebenshilfe? Herr Sauer, Sie müssen da länger zurückdenken...
Sauer: Ich kann mich noch gut an meinen ersten Tag erinnern, an die exrem große Vertrautheit. Es war - wegen meiner Schwester - fast ein Gefühl von Zuhause. Ich mag die Menschlichkeit, die einem hier entgegenschlägt, und die gnadenlose Ehrlichkeit derjenigen, die wir unterstützen.
Groß-Böcker: Es ist großartig, wie sinnstiftend unsere Arbeit ist. Das merke ich jeden Tag. Als betroffene Mutter ist das gut investierte Arbeitszeit. Außerdem haben wir ein bombiges Mitarbeiterteam.
Was unterscheidet die Wittener von anderen Lebenshilfen?
Groß-Bröcker: Wir haben eine große Werkstatt mit verschiedenen Bereichen, das haben nicht viele.
Sauer: Und wir sind beide betroffen. Wir haben immer beide Blickwinkel vor Augen, also wie man die betriebswirtschaftliche Sicht mit der technischen und menschlichen Seite vereinbart. Und als Doppelspitze schauen wir immer zu zweit auf die gleiche Sache. Wir haben zwar jeder ein eigenes Büro, arbeiten aber wirklich eng miteinander. Die Tür dazwischen ist nur symbolisch da.
Von der Kita bis zur Werkstatt
Die Lebenshilfe Witten, 1960 als Elterninitiative gegründet, bietet Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung Begleitung auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben.
Zur Lebenshilfe Witten gehören etwa die beiden Frühförder-Stellen in Heven und Annen, vier integrative Kitas (Helenenberg, Blumenwiese, Schatzkiste, Wannen), die Werkstatt mit einer Gärtnerei, zwei Wohnstätten, ambulant betreutes Wohnen, Tagesstrukturgruppen und der Familienunterstützende Dienst.
In den insgesamt 18 Einrichtungen sind 550 Mitarbeitende tätig, die in Witten 850 Klientinnen und Klienten betreuen und unterstützen. Allein 400 Menschen mit Beinträchtigung arbeiten in der Werkstatt an der Dortmunder Straße.
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften?
Groß-Böcker: Stabile Finanzierungen. Und dass unsere Menschen von der Gesellschaft gesehen werden. Wir bringen Leistung auf die Straße. In der Werkstatt produzieren wir für namhafte Industriekunden.
Sauer: Ich wünsche mir mehr Toleranz in der Gesellschaft - Stichwort Inklusion. Wenn man die Lebenshilfe-Welt verlässt, wird es schwierig. Komische Blicke kriegen unsere Menschen dann immer. Klar, wer sonst nicht mit beeinträchtigten Menschen zu tun hat, hat vielleicht Berührungsängste. Dabei muss man einfach nur offen und normal auf sie zugehen. Alles andere merken die sofort.
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