Mülheim. Über Familiengrundschulzentren erreicht Mülheim auch jene Menschen, die Schule sonst eher meiden. Frauen lernen Deutsch. Und gewinnen an Mut.

Es ist ein typisch deutsches Wort, eines, das aus vielen verschiedenen Wörtern zusammengesetzt ist: Familiengrundschulzentrum (FGZ). Man kann in etwa erahnen, wie schwierig es ist, solche Begriffe zu lernen, erst recht, wenn man jahrzehntelang in einer ganz anderen Sprache zu Hause war. So wie die rund zehn Frauen, die jeden Mittwoch im FGZ der Erich Kästner-Schule in Mülheim-Dümpten zusammenkommen. Sie sind es leid, dass die Sprache sie ausgrenzt. Sie wollen dazugehören und ihren Kindern besser helfen können. So haben sie sich auf den Weg gemacht, pauken Vokabeln und Grammatik und lernen gleichzeitig viel übers Leben.

Auch wenn die Worte zum Teil noch fehlen - die Botschaft an diesem Mittwochmorgen in dem gemütlichen Raum der Dümptener Schule ist unmissverständlich: Wir sind mutig, wir wollen uns öffnen und dranbleiben. Am Tisch bei Kaffee und Kuchen nimmt seit Monaten auch Indira regelmäßig Platz. Sie stammt aus Bosnien und ist vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Die Tochter (8) besucht die Grundschule.

Über die App „Schoolfox“, die Lehrkräfte für die Kommunikation mit Eltern nutzen, hat Indira erfahren, dass es im FGZ einen Deutschkurs in netter Atmosphäre gibt. Jetzt sitzt sie hier und freut sich über jedes neue Wort, jeden kleinen Austausch. „Ich möchte Deutsch lernen. Und ich möchte mit den Frauen zusammen sein.“ Im Idealfall würde es das Angebot sogar zweimal die Woche geben, sagt sie.

Teilnehmerinnen des Deutschkurses treffen sich „auch einfach mal so bei Hemmerle“ in Mülheim

Auch interessant

Indiras Mann arbeitet, auch sie will bald Geld verdienen. Arztbesuche, Schul- und Kitatermine, für all das ist sie schon jetzt verantwortlich. Am Erlernen der komplizierten Sprache führt kein Weg vorbei, in diesem vertrauten Kreis geht das zum Glück leichter. Hier hat sie Freundschaften geschlossen. „Wir treffen uns auch einfach mal so bei Hemmerle“, erzählt die 42-Jährige.

Indira aus Bosnien (r.) mit Bilge Akbulut (l.) und Tugce Gezici, die gemeinsam das FGZ an der Erich-Kästner-Schule in Mülheim-Dümpten leiten.
Indira aus Bosnien (r.) mit Bilge Akbulut (l.) und Tugce Gezici, die gemeinsam das FGZ an der Erich-Kästner-Schule in Mülheim-Dümpten leiten. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Rojin hat den A2-Deutschkurs bestanden, wartet nun sehnsüchtig auf die Ergebnisse des B1-Kurses. „Mir gefällt die Schule gut“, sagt die zweifache Mutter, die 2015 aus Syrien gekommen ist. Das Muttersein verbindet die Teilnehmerinnen eng: „Wir sprechen viel über unsere Kinder.“ Grinsend fügt sie hinzu: „Und unsere Männer.“ Bald, so hofft die 31-Jährige, findet sie eine Anstellung in einer Bäckerei - oder als Integrationshelferin. Sie möchte ihre Erfahrungen als Migrantin an Neuankömmlinge weitergeben.

Man merkt schnell: Das Angebot des FGZ zahlt sich aus

Man merkt schnell: Das Angebot des FGZ zahlt sich aus. Das bestätigt Shifaa (36) aus dem Irak: „Gestern beim Arzt habe ich viel verstanden.“ Alaa (29) aus Syrien ist vierfache Mutter und sieht in dem Treff „den ersten Schritt zum Integrationskurs“. Es sei hart, mit rudimentären Sprachkenntnissen zurechtzukommen. „Manchmal gerate ich in Situationen, in denen ich mich richtig schäme.“ Jihan (34) aus dem Irak kennt peinliche Situation auch zur Genüge. Im Krankenhaus, nach der Geburt ihres Kindes, hat sie die Wörter Tochter und Schwester durcheinandergebracht. Das führte zu einer ulkigen Verwechslung - und einer schallend lachenden Krankenschwester.

Alle an einem Tisch: die Organisatoren und die Teilnehmerinnen des Deutschkurses im FGZ der Erich Kästner-Schule in Mülheim.
Alle an einem Tisch: die Organisatoren und die Teilnehmerinnen des Deutschkurses im FGZ der Erich Kästner-Schule in Mülheim. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Lachen tut gut, auch hier in der Runde. Doch es gibt auch tieftraurige Momente. Diese miteinander auszuhalten, ist mindestens so wichtig, wie über Missverständnisse zu schmunzeln, finden die Frauen. Shifaa, die fünf Kinder hat, war im sechsten Monat schwanger, als der Islamische Staat (IS) über ihr Land herfiel. Der IS drang in das Leben der Jesiden ein, bedrohte sie aufs Schrecklichste. „Wir mussten fliehen.“ Bis heute sei es ihr unmöglich, ihren jüngeren Kindern von dem Grauen zu erzählen. „Nur die älteren wissen davon. Die verstehen das schon.“ Der Zehnjährigen aber, die sie damals unter dem Herzen trug, könne sie die Wahrheit noch nicht zumuten: „Dabei sagt sie immer wieder: Mama, ich bin jetzt alt genug. Bitte erkläre mir, warum du nach Deutschland gekommen bist.“

„Ich bin für die Frauen wie eine Freundin“

Emma Röfke hilft in der Traurigkeit. Die Honorarkraft ist hier als Deutschlehrerin eingesetzt, aber nicht nur: „Ich bin für die Frauen wie eine Freundin. Wir teilen fast alles, haben keine Tabuthemen.“ Sie will die Migrantinnen „stärker machen und mutiger“. Vor vielen Jahren ist sie selbst aus dem Ausland hergekommen, weiß, wie sich ein Neuanfang anfühlt und ein radikaler Kulturwechsel. In ihrem Fall war der Anlass allerdings ein schöner: „Ich habe in Tunesien einen Mülheimer kennengelernt - meinen Mann.“

Emma Röfke unterrichtet Deutsch in Mülheim und ist für viele der Frauen „wie eine Freundin“.
Emma Röfke unterrichtet Deutsch in Mülheim und ist für viele der Frauen „wie eine Freundin“. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Röfke spricht Arabisch, das hilft. Sie arbeitet als Dolmetscherin, bringt sich in der Stadt auch an anderer Stelle ein: etwa als Dozentin in der Katholischen Familienbildungsstätte oder im MUT-Café. Für den Kurs an der Kästner-Schule wurden A2-Übungsbücher angeschafft, „wir lesen darin, machen Übungen und es gibt Hausaufgaben“. Die umtriebige Lehrerin hofft, dass die Frauen bei ihr auch lernen, „sich selbst zu behaupten und darauf zu vertrauen, dass sie Dinge auch ohne ihre Männer gut können“. Sie stößt Verabredungen an, hat eine Whatsapp-Gruppe ins Leben gerufen, die bei der Kontaktaufnahme hilft.

„Wir wissen, dass viele Mütter ihre Kinder gern besser unterstützen würden, aber nicht wissen wie“

Für Erzieherin Tugce Gezici (30) und Sozialarbeiterin Bilge Akbulut (28), die das 2021 eingerichtete FGZ koordinieren, ist Röfke ein Glücksfall. Zu den Zielen dieser Zentren gehört es ja, mit Familien in Kontakt zu treten, die Schule sonst eher meiden, ihnen hilfreiche Angebote zu unterbreiten und verlässliche Beziehungen zum Benefit aller zu entwickeln. Die Leiterinnen kennen die Nöte im Stadtteil, „wir wissen, dass viele Mütter ihre Kinder gern besser unterstützen würden, aber unsicher sind wie“, so Gezici. Gemeinsam mit Röfke gelinge es, „dass anfangs oft sehr schüchterne Frauen im Laufe der Zeit aufblühen“.

Die Schule profitiere ebenfalls von der Öffnung in den Stadtteil hinein, findet Phyllis Maxein (35), Fachdienstleiterin bei der Caritas, die in Mülheim fünf FGZ betreibt. „Dadurch ist die Schule positiv belegt, man geht gern dorthin.“ Maxein wünscht sich „eine Verstetigung“ der Zentren. Aktuell sei die Finanzierung, die unter anderem über die Leonhard-Stinnes-Stiftung läuft, nur bis 2026 gesichert, „für alle Beteiligten wäre es ein anderes Gefühl, wäre der Projektzeitraum deutlich länger“.

Haben viele Ideen, wie Integration gelingen kann: (v.l.) Phyllis Maxein, Bilge Akbulut und Tugce Gezici.
Haben viele Ideen, wie Integration gelingen kann: (v.l.) Phyllis Maxein, Bilge Akbulut und Tugce Gezici. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

„Die Schule steht voll hinter uns“

Jedes der acht Mülheimer Familiengrundschulzentren ist anders aufgestellt. In Dümpten ist das Angebot sehr bunt: Neben dem Deutschkurs sind oder waren schon „Nähkurs, Elterncafé, Koch-AG, mehrsprachiges Vorlesen, Basteln, Yoga-AG und Selbstverteidigung für Vater und Sohn“ im Programm. Man lädt ins Erzählzelt ein, es werden Ausflüge unternommen, Feste gefeiert, oft gemeinsam mit der Schule. „Die steht sowieso voll hinter uns“, freuen sich Gezici und Akbulut.

Das Team orientiert sich an den Wünschen der Mütter und Väter. „Zum Teil leiten Eltern auch Gruppen“, erzählt Akbulut, „dann bleiben wir im Hintergrund.“ Auch so etwas kann Menschen stark machen - und glücklich. Eine, die das FGZ auf keinen Fall mehr missen möchte, ist Tharani (34). Vor bald zehn Jahren ist sie aus Sri Lanka gekommen, hat irgendwann einen ersten Sprachkurs gemacht, dann aus Zeitnot aufgehört. Dass sie jetzt zu dem knappen Dutzend Frauen gehört, die mittwochs zusammenkommen, ist wunderbar. Tharani, die mit ihrem Mann an der Nordstraße den Kiosk führt, ist sicher: „Bald kann ich besser mit den Kunden reden.“

Bildung in Mülheim - Lesen Sie auch:

Bleiben Sie in Mülheim auf dem Laufenden!

>> Alle Nachrichten aus Mülheim lesen Sie hier. +++ Abonnieren Sie kostenlos unseren Newsletter per Mail oder Whatsapp! +++ Hier kommen Sie zu unseren Schwerpunktseiten Wohnen, Gastronomie, Handel/Einkaufen und Blaulicht. +++ Zu unserem Freizeitkalender geht es hier. Legen Sie sich doch einen Favoriten-Link an, um kein Event zu verpassen! +++ Lokale Nachrichten direkt auf dem Smartphone: Laden Sie sich unsere News-App herunter (Android-VersionApple-Version).