Shingal. Vor sechs Jahren wütete der Islamische Staat im Nordirak. Ein Neuanfang ist für die Opfer und Vertriebenen des Terrors weiter schwer.
15. August 2014, nachmittags. Die Schüsse sind verhallt, die Schreie verstummt. Kachi Amo Salo Awso öffnet langsam die Augen, seine Hände sind noch immer in den von der glühenden Augusthitze ausgetrockneten Boden gekrallt. Er blickt seinem toten Bruder ins Gesicht. Er aber lebt, es ist ein Wunder. Er stolpert los, rennt, weg aus der Hölle, zu der Kodscho geworden ist.
Nordirak, Region Shingal, im Dezember 2020. Die bleiche Wintersonne scheint auf das Gräberfeld vor der Schule in Kodscho. Herr Awso deutet auf einige der kleinen Tafeln: „Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder. Mein Bruder.“ Er zeigt auf eine andere Tafel, räuspert sich: „Meine Tochter. Lara hat nur zwei Monate gelebt.“
Jesiden: Hunderttausende leben immer noch als Flüchtlinge
Über 500 Tafeln ragen hier aus der Erde empor. Sie alle tragen die Namen von Menschen, die im August 2014 einem der schlimmsten Massaker des „Islamischen Staates“ (IS) zum Opfer fielen. Nun sollen die Toten aus den Massengräbern beerdigt werden.
Sechs Jahre, nachdem der IS den Fiebertraum eines Kalifats im Irak und in Syrien verwirklicht hat, zwei Jahre, nachdem dieses Reich des Terrors Geschichte ist, leben noch immer Hunderttausende Jesiden wie Kachi Amo Salo Awso als Flüchtlinge in der autonomen Region Kurdistan, rund 100 Kilometer entfernt von Shingal, ihrer Heimat.
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IS-Massaker: Noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert
Noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert, noch immer sind nicht alle Verschleppten zurück, noch immer liegen Dörfer und Städte in Trümmern. Neben der Schule hält Herr Awso vor einer Grube inne. „Hier haben sie unseren Scheich enthauptet.“ Er setzt sich auf einen roten Plastikstuhl, nestelt eine hellbraune Kladde hervor. Darin hat er akkurat das Grauen festgehalten, das bis heute sein Leben bestimmt.
Er erzählt von der Angst der 2000 Bewohner von Kodscho, als die Panzer und Pick-ups mit den schwarzen Fahnen in Sichtweite der Kleinstadt paradierten. Den Menschen war bewusst, wie groß der Hass der islamistischen Fanatiker auf sie ist. Jesiden gelten den Islamisten als Teufelsanbeter.
Krieg: Die Peschmerga ließen die Jesiden in Kodscho im Stich – Hunderte starben
Die kurdischen Peschmerga, die damals in Kodscho stationiert sind, versichern ihnen, sie würden sie schützen, lassen sie aber im Stich, als die Kämpfer des IS am 3. August 2014 kommen. Die Islamisten stellen die Jesiden vor die Wahl: Konvertieren oder sterben. Tagelang ziehen sich die Verhandlungen hin. Die Einwohner von Kodscho weigern sich. Es ist das Todesurteil für Hunderte Menschen.
Am 15. August trennen die Islamisten die Männer von den Frauen und Kindern. Die Männer werden in Gruppen von 40 oder 50 Menschen aufgeteilt. Kachi Amo Salo Awso wird mit seinen Brüdern an den Rand der Stadt geführt. Schüsse peitschen. Er hört das gellende „Allahu Akbar“, dann das Dröhnen eines Kampfjets. Kurze Zeit später öffnet er seine Augen. Die IS-Kämpfer sind verschwunden, wohl aus Angst vor dem Flugzeug, das über ihnen kreist. Er kann sich retten. Er ist einer von 19 Männern, die überleben.
Ältere und schwangere Frauen werden ermordet – der IS kann sie nicht gebrauchen
An diesem 15. August 2014 sterben in Kodscho mehr als 400 Männer. 1250 Frauen und Kinder werden verschleppt. 77 der älteren und schwangeren Frauen werden ermordet. Der IS kann sie nicht gebrauchen. Manche der Frauen aus Kodscho können in den Jahren danach aus der Geiselhaft des IS befreit werden. Unter ihnen ist Nadia Murad, die 2018 den Friedensnobelpreis erhält, weil sie sich gegen sexuelle Gewalt als Waffe in Kriegen einsetzt.
Im Dezember 2020 ist Kodscho eine Stadt in Trümmern. Herr Awso steht in der Ruine des Hauses, in dem er aufwuchs. Er sagt: „Ich verlange von der Weltgemeinschaft, dass die Leute zur Rechenschaft gezogen werden, die diese Massaker verübt haben.“ Viel Hoffnung hat er nicht: „Es gibt nur leere Versprechungen.“
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Massengräber mit den Opfern des IS wurden wieder geöffnet
Die irakische Regierung in Bagdad und die UN haben im vergangenen Jahr begonnen, die Massengräber zu öffnen, in denen der IS vor sechs Jahren seine Opfer verscharrt hat. Jetzt bekommen die Toten ihre Namen zurück, und die Angehörigen können sie zur letzten Ruhe betten. In den vergangenen Monaten haben sich manche Flüchtlinge zurück auf den Weg in die Heimat getraut, insbesondere in die Gebiete nördlich des Gebirgszugs, der die Region teilt.
Faruk Khalaf ist mit seiner Frau Hadia und den vier Kindern vor zwei Monaten zurück nach Borek gekommen. Herr Khalaf ist Bauer. In dem Flüchtlingscamp, in dem er mit seiner Familie fünf Jahre lang lebte, hat er in einem Gewächshaus gearbeitet, das ihm eine Hilfsorganisation zur Verfügung gestellt hatte. „Ich habe Geld gespart, sodass ich jetzt das Dach meines Hauses reparieren konnte.“
Kodscho: Awsos Heimatstadt ist leer, seine Familie hat er seit fünf Jahren nicht gesehen
Seine Frau ist froh, wieder zu Hause zu sein. „Es war eine schlimme Zeit“, sagt sie. Wie die Zukunft aussieht? Herr Khalaf ist unsicher: „Die Lage ist noch immer nicht stabil, die Regierung tut nichts für uns. Aber wir haben es im Camp nicht mehr ausgehalten.“ Die älteren Kinder gehen jetzt zur Schule. Seine Jüngste kennt das Dorf Borek nicht. Sie ist im Camp geboren worden. Er sagt auch: „Die Leute können die Vergangenheit nicht vergessen.“
Das gilt vor allem für Kachi Amo Salo Awso. Seine Frau und seine drei Kinder konnten aus der IS-Geiselhaft befreit werden. Sie sind jetzt in Deutschland, über ein Programm, das Baden-Württemberg für verschleppte Frauen aufgelegt hat. Er selbst darf nicht nach Deutschland. „Ich habe meine Familie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Das macht mich sehr traurig.“ Seine Heimatstadt Kodscho ist menschenleer. Sie ist ein Grab.
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