Gladbeck. Generationen von Gladbeckern kennen Manfred Samen (89) als Lehrer. Er teilt nun erstmals erschütternde Kriegserlebnisse.
Er ist wohl einer der bekanntesten Männer in Gladbeck: Manfred Samen. Lehrer, Kenner der lokalen Geschichte, als Mitglied des Bündnisses für Courage aktiv gegen Rechtsextremismus – so kennen wir ihn. Im Gespräch mit dieser Zeitung erzählt er aber auch etwas, das er noch nie in seinem Leben jemandem anvertraut hat.
Auch interessant
In der Biografie des 89-Jährigen, der am 19. Mai einen runden Geburtstag feiert, mag ganz bestimmt die Wurzel seines umfassenden Engagements liegen: unermüdlicher Einsatz für die Stadt Gladbeck, für junge Leute, für Verfolgte und Ermordete während der Zeit des Nationalsozialismus‘.
Manfred Samen sitzt in seinem großen Sessel, der Blick fällt durch die großen Fenster auf den idyllischen Wittringer Wald. Der Gladbecker lässt seine Gäste bereitwillig teilhaben an seinem bewegten Leben.
Manfred Samen –ein waschechter Gladbecker
Ein waschechter Gladbecker ist er. Der bald 90-Jährige plaudert: „Ich bin 1935 geboren, vis-à-vis der Heilig-Kreuz-Kirche. Ich war eine Hausgeburt.“ Seit Jahrhunderten sei seine Familie in Gladbeck ansässig. Stichwort: Dieckmanns Hof, die Namensträger sind Samens Vorfahren. Groß geworden sei er im elterlichen Haus an der Bismarckstraße, heute Friedenstraße: mit Mutter Hanna, Vater Wilhelm und Bruder Gerd.
+++ Folgen Sie der WAZ Gladbeck auch auf Facebook! +++
„Bei Kriegsende 1945 war ich zehn Jahre alt“, sagt Samen, „im Juni bin ich noch ins Jungvolk aufgenommen worden. Ab zehn Jahre galt man automatisch als zugehörig.“ Die Begrüßung mit den zwei H, das war Alltag. „Als ich so acht, neun war, gab‘s beim Fangenspielen ganz abscheuliche Abzählreime.“ Darin sei es um jüdische Menschen gegangen, aber nicht nur. Samen hat die Reime noch im Kopf, möchte sie aber nicht zitieren.
In Bayern der erste Kontakt seines Lebens mit Amerikanern
Eine Zeitlang war der Junge Manfred in Bayern untergebracht. „Als bei Kriegsende die Amerikaner dort einzogen, habe ich die ersten Farbigen meines Lebens gesehen“, sagt Samen. Zunächst seien die einheimischen Kinder verunsichert gewesen, aber „als wir merkten, dass die Amerikaner sehr freundlich waren, haben wir Vertrauen gefasst“.
Auch interessant
Dann offenbart der 89-jährige Gladbecker Erlebnisse, „die er noch nie jemandem erzählt“ hat. Und die er bis heute nicht aus dem Kopf bekommt. „Das KZ Dachau wurde aufgelöst, und über Tage und Wochen schwärmten die ehemaligen Häftlinge aus“, berichtet Samen, „ich sehe noch immer ihre blau-grau-gestreifte Kleidung.“ Männer, keine Frauen, mit kahlrasierten Köpfen seien zu den Bauern in der Gegend gekommen. Die ehemaligen KZ-Insassen hätten um andere Kleidung gebeten. Samen weiß noch: „Sie wurden im Waschhaus gebadet und beköstigt. Dann zogen sie weiter. Der Bauer hat die KZ-Kleidung verbrannt.“
„Es fuhren keine Züge, nur manchmal leere Kohlen- oder geschlossene Viehwagen“
Ende 1945 kehrte Manfred Samen zurück nach Gladbeck – auf abenteuerlichen Wegen. „Es fuhren keine Züge, nur manchmal leere Kohlen- oder geschlossene Viehwagen.“ Er könne sich entsinnen, „dass wir von München aus in Richtung Aschaffenburg nachts in einem Gefangenenzug unterwegs waren“.
Auf abenteuerlichen Wegen zurück nach Gladbeck
Heute noch habe er dieses Bild vor Augen: die Dampflokomotive mit dem Lokführer und dem Heizer, der Kohle in den Feuerschlund schippte. Samen: „Irgendwann sind wir in Altenessen angekommen und über eine ganz schwankende Notbrücke nach Horst gelangt.“ (Instabile) Brücken, die machen ihm heute noch Angst, gesteht der 89-Jährige freimütig. Schließlich das Ziel: „Unter Mühen hatten wir es in einer fünftägigen Fahrt nach Gladbeck geschafft.“
Doch was war das für ein Gladbeck! Zerbombt, das Elternhaus beschädigt. „Wir konnten nicht wie in Bayern draußen barfuß gehen“, so Samen.
Und dessen entsinnt er sich auch noch gut: „Die Oma hat berichtet, was die Nazis mit den Juden gemacht haben, und von jüdischen Nachbarn erzählt. Meine Großmutter und meine Mutter hatten guten Kontakt zu ihnen.“
Die Bereitwilligkeit, über die Geschehnisse während des deutschen Nationalsozialismus zu sprechen, ist nach Samens Einschätzung allerdings eine Ausnahme gewesen. „Nach dem Krieg wollte niemand etwas damit zu tun haben. In meiner Schulzeit wurde das Thema überhaupt nicht behandelt.“
„Einer hat in Bottrop in der Pogromnacht eigenhändig Fenster eingeschlagen und Juden verfolgt“
Was auch daran liegen mag, wer vor den Klassen stand und unterrichtete. Manche seiner Lehrer seien SS- oder aktive NSDAP-Mitglieder gewesen. Das sei nachweisbar gewesen. „Einer hat in Bottrop in der Pogromnacht eigenhändig Fenster eingeschlagen und Juden verfolgt“, führt Samen beispielhaft an.
Per Postkarte wurde der Tod des Vaters mitgeteilt
Aber in der Not wurden Lehrkräfte eingestellt, die man in anderen Zeiten nie und nimmer auch nur in Betracht gezogen hätte. Da ging es keineswegs allein um „Vorbelastete“. Männer waren im Krieg gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.
Auch interessant
Die Stimmung nach Kriegsende bedrückte die Bevölkerung, doch die Menschen in Gladbeck spuckten in die Hände, räumten die Trümmer weg und bauten neu auf. Für Manfred Samen kam eine persönliche Angst hinzu: „Das Schlimme in meiner Familie war, dass wir nicht wussten, wo mein Vater geblieben war.“ War der Soldat ums Leben gekommen? Oder noch am Leben, jedoch in Kriegsgefangenschaft?
Eines Tages habe der Postbote der Familie „eilig eine offene Karte“ übergeben. Darauf die Schreckensnachricht. Manfred Samens Vater sei gefallen.
Zum Glück für die Familie stellte sich später heraus, dass er doch überlebt hatte. „Mein Vater war Verwaltungsbeamter. Er wurde entnazifiziert und als Mitläufer eingestuft, erhielt rückwirkend Pension“, erklärt Manfred Samen.
Der 89-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass seine Erlebnisse ihn geprägt haben. Diese schlimmen Erfahrungen bewegten ihn dazu, sich im Gladbecker Bündnis für Courage, das gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus kämpft, zu engagieren. 30 Jahre war Manfred Samen Lehrer am Ratsgymnasium, hat Generationen junger Menschen unterrichtet.
- Neueröffnung. Junges Ehepaar eröffnet ersten Kinderbuchladen in Gladbeck
- Prozess. Hasch und Drogen in Wohnung: Stiefvater ruft Polizei
- Immobilien. Wohnquartier Schulstraße: Bauträger startet mit Vermarktung
- Innenstadt. Post: In Gladbeck öffnet eine neue Hauptstelle
- Für Familien. Dornröschen bis Hotzenplotz: 40 Jahre Märchenkiste Gladbeck
- Gericht. Gladbeck: Kinderpornografie auf fast 6000 Dateien gefunden
- Blaulicht. Polizei fahndet nach Frauen: Gladbeckerin (84) im Bus Opfer
- Gastronomie. Gastro: Schloss Wittringen setzt auf ungewöhnliche Kellner
- Wahlkampf. Schlechter demokratischer Stil? Bürgermeisterin wehrt sich
„Meine Fächer waren Sozial- und Erziehungswissenschaft. Vorher habe ich ein volles Theologiestudium absolviert. Ein Schwerpunkt war dabei Kirchengeschichte“, erläutert Samen. Der katholisch Getaufte sagt, zunächst habe sein Berufswunsch gen Pfarrer tendiert. Er entschied sich denn doch für eine Laufbahn als Lehrer.
[Gladbeck-Newsletter: hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook | Hier gibt‘s die aktuellen Gladbeck-Nachrichten einmal am Tag bei WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehrartikel | Alle Artikel aus Gladbeck]
Der Kontakt zur Jugend war für Manfred Samen, der mit seiner Frau Ursula drei Kinder hat, gegeben. Und damit die Chance, auf den Nachwuchs beruflich und privat Einfluss zu nehmen, damit Fremdenhass und anderen extremen Entwicklungen schon frühzeitig der Nährboden entzogen wird.