Gladbeck. Gladbecker Pflegeeinrichtungen beobachten den Anstieg der Pflegebedürftigkeit in Deutschland mit Sorge. Das fordern sie vom Gesundheitsminister.

Der Pflege stehen schwierige Zeiten bevor. Zuletzt warnte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) vor einem rasanten Anstieg der Zahl an Pflegebedürftigen hierzulande. 50.000 neue Pflegebedürftige hatte die Regierung mit Blick auf den demografischen Wandel für das Jahr 2023 prognostiziert. Die Realität aber sieht anders, dramatischer aus: 360.000 Menschen in Deutschland wurden allein im vergangenen Jahr neu pflegebedürftig. Das Gesundheitsministerium rechnet – privat versicherte Pflegebedürftige einbezogen – mit aktuell 5,6 Millionen auf Hilfe angewiesene Menschen. Was bedeutet das für die Pflegeeinrichtungen in Gladbeck?

Ein Blick in die Alten- und Pflegebedarfsplanung von 2024 des Kreises Recklinghausen, die sich auf die Datenlage von 2021 beruft, bestätigt den aktuellen Trend, wobei erst langfristig die Folgen der Entwicklung spürbar werden könnten. Die prognostizierte Anzahl an stationär Pflegebedürftigen steigt im Kreis laut Bericht in den nächsten Jahrzehnten stetig an. Ähnlich sieht es auch in Gladbeck aus. Trifft die Prognose ein, könnte 2050 etwa jeder zehnte Mensch aus Gladbeck mindestens 80 Jahre sein.

Lage in Gladbeck: Gegenwärtig herrscht noch keine Not

„Gegenwärtig herrscht noch keine akute Not“, sagt jedoch Stadtsprecher David Hennig zum Thema Pflege in Gladbeck. Die Situation sei hier, im Gegensatz zu anderen Städten, noch relativ entspannt. „Wir sind gut aufgestellt“, so Hennig. Die weiteren Entwicklungen habe die Stadt aber im Blick, man stehe im engen Austausch mit den Pflegeeinrichtungen und Verbänden. Hennig stellt allerdings klar: „Die Stadt Gladbeck kann bei diesem Thema nur unterstützen, für den Bau von Pflegezentren sind private Investoren notwendig.“

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Denn sicher ist: Es werden auf lange Sicht defintiv mehr Pflegeeinrichtungen gebraucht. Laut Alten- und Pflegebedarfsplanung seien in Gladbeck bis 2040 zwei, bis 2050 vier neue Pflegeheime notwendig. „Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass die Errichtung neuer Pflegeeinrichtungen von der Planung bis zur tatsächlichen Inbetriebnahme teilweise mehrere Jahre dauert“, heißt es hierzu im Bericht. Schon jetzt seien daher Bestrebungen erforderlich, nach entsprechenden Lösungen für die Bedarfsdeckung zu suchen, auch wenn sich der Bedarf erst in einigen Jahren ergeben werde.

Caritas-Vorstand Wieland Kleinheisterkamp berichtet von einer angespannten Lage im Pflegesektor.
Caritas-Vorstand Wieland Kleinheisterkamp berichtet von einer angespannten Lage im Pflegesektor. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Caritas-Vorstand befürchtet zusätzliche Belastung der Krankenhäuser

Nachgefragt bei der Caritas, die in Gladbeck zwei Pflegeeinrichtungen betreibt und dazu ambulante Pflege leistet, trifft man auf sorgenvollere Blicke in Richtung Zukunft als etwa bei der Stadtverwaltung. „Wir erleben in Gladbeck die Auswirkungen der demografischen Entwicklung mit zunehmender Pflegebedürftigkeit und demenziellen Erkrankungen“, äußert sich Wieland Kleinheisterkamp, Vorstand der Caritas Gladbeck. Für ihn sei es keine Überraschung, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich höher sei, als vom Bundesministerium erwartet. „Hierzu gab es andere, realistischere Prognosen“, so Kleinheisterkamp.

In den beiden Senioreneinrichtungen der Caritas sei ein Anstieg der Nachfrage erkennbar, heißt es. Auch der ambulante Dienst stehe zunehmend unter Leistungsdruck, nicht nur bei der Caritas. „Im Bereich der ambulanten Pflege sehen wir derzeit, dass Pflegedienste aufgrund des Personalmangels und der schlechten finanziellen Rahmenbedingungen aufgeben“, sagt Kleinheisterkamp. Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen innerhalb der eigenen vier Wände sei daher nicht mehr sichergestellt. Das könnte die Krankenhäuser belasten, befürchtet der Gladbecker Caritas-Vorstand: „Nicht selten können Patienten nur aufgrund des Einsatzes ambulanter Pflegedienste frühzeitig in die private Häuslichkeit entlassen werden.“ Falle diese Option weg, müssten die Pflegebedürftigen länger in den Krankenhäusern bleiben, denn auch die stationäre Pflege kann den Bedarf nicht allein abdecken. „Das unterstreicht noch einmal die Bedeutung des ambulanten Sektors“, betont Kleinheisterkamp.

„Die notwendige Reform kann nicht auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden.“

Wieland Kleinheisterkamp
Vorstand Caritas Gladbeck

Diakonie: Pflegebedürftige leiden unter Übernahmen aus Krankenhäusern

Auch das Diakonische Werk Gladbeck-Bottrop-Dorsten steht in engem Kontakt mit den Krankenhäusern der Region, die ihrerseits angesichts der hohen Auslastung auf die Pflegeheime der Diakonie zukommen. „In mehr als 90 Prozent der Fälle erleben wir Anfragen von Krankenhäusern mit der Bitte um die kurzfristige Übernahme von pflegebedürftigen Menschen“, berichtet Geschäftsbereichsleiterin Kerstin Schönlau. Die Pflegebedürftigen könnten nach einem Krankenhausaufenthalt nicht wieder nach Hause zurück und müssten anderweitig versorgt werden. Zunächst als Kurzzeitpflege, daraus ergebe sich jedoch sehr häufig eine Langzeitpflege.

Das Vinzenzheim ist eines von zwei Altenheimen, die von der Diakonie in Gladbeck geführt werden.
Das Vinzenzheim ist eines von zwei Altenheimen, die von der Diakonie in Gladbeck geführt werden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Bögeholz

Laut Schönlau wurde der Radius der anfragenden Krankenhäuser zuletzt größer, da stationäre Heimplätze vor Ort nicht mehr verfügbar seien. „Für Pflegebedürftige und Angehörige ist das schrecklich. Besuche sind unter Umständen nicht möglich, Betroffene bleiben allein in fremder Umgebung“, sagt die Geschäftsbereichsleiterin. Die Diakonie habe ihrerseits mit erschwerter Erreichbarkeit der zuständigen Ärzte oder der Beschaffung von Medikamenten zu kämpfen. „Außerdem wird die Idealvorstellung des Altenheims als letzte Lebensphase mit Teilhabe und Selbstgestaltung durch dieses System des Entlassmanagements unterwandert“, kritisiert Schönlau.

Verbände fordern vom Gesundheitsministerium rasche Reformen

Der Medizinische Dienst Westfalen-Lippe, der unter anderem als neutraler Gutachter im Pflegesektor tätig ist, nimmt ebenfalls Veränderungen in Gladbeck wahr. „Wir beobachten seit Jahren einen Anstieg bei den Pflegebegutachtungen und richten unsere Arbeit danach aus“, sagt Pressesprecher Olaf Plotke. Unter anderem biete der Dienst neue Begutachtungsformate an, etwa per Telefon. In diesem Jahr soll zudem eine Modellstudie zur Begutachtung per Video beginnen. So stelle sich der Dienst bereits jetzt auf einen weiteren Anstieg der Anträge ein. „Wir wollen, dass die Versicherten so schnell wie möglich die pflegerische Versorgung erhalten, die sie benötigen“, so Plotke. Aber: Der Anstieg an Pflegegutachten mache in diesem Fall keine Aussage über die Zahl der Pflegebedürftigen. „Grund ist vielmehr die Umstellung des dreistufigen Pflege-Systems auf die fünf Pflegegrade mit der letzten Reform“, sagt Plotke.

Caritas-Vorstand Kleinheisterkamp fordert ob der angespannten Lage eine umfassende strukturelle wie finanzielle Pflegereform, um die Versorgung pflegebedürftiger Menschen weiterhin sicherzustellen. Am besten so schnell wie möglich. „Die notwendige Reform kann nicht auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden“, so Kleinheisterkamp. Die Aussagen Lauterbachs habe man daher mit Sorge und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Der Gesundheitsminister hatte gegenüber dem RND angekündigt, dass eine Reform bis zur nächsten Bundestagswahl nicht möglich sei, denn dafür lägen die Ansichten noch zu weit auseinander.

Um die Versorgung pflegebedürftiger Menschen sicherzustellen, werden Reformen im Pflegesektor gefordert.
Um die Versorgung pflegebedürftiger Menschen sicherzustellen, werden Reformen im Pflegesektor gefordert. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Pflegesektor lobt Zusammenarbeit in Gladbeck

Diakonie-Geschäftsbereichsführerin Schönlau fordert wie die Caritas einen Kurswechsel in der Pflege. „Die ambulante und teilstationäre Versorgung ist nicht ausreichend bekannt, und ihre Refinanzierungsstrukturen sind kompliziert“, bemängelt sie. Tagespflegen als regelmäßige Entlastung für Angehörige würden bisher nur unzureichend genutzt, Pflegegelder nicht immer zweckgebunden ausgegeben.

Die Diakonie und Caritas setzen für die Zukunft auf einen engen Austausch innerhalb der Stadt Gladbeck, um gemeinsam nach Lösungen in der Pflege zu suchen. „Der regelmäßige Austausch in verschiedenen Gesprächsformaten innerhalb von Gladbeck ist hervorzuheben“, sagt Schönlau hierzu. Gemeinsam werde bereits an Optimierungsprozessen gearbeitet. „Die Rahmenbedingungen können wir als Wohlfahrtsverband jedoch nicht ändern. Das muss an anderer Stelle geschehen“, appelliert Kleinheisterkamp aus Perspektive des Caritas-Verbandes an das Gesundheitsministerium.

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