Essen. Über 200 Kinder in Not musste der Essener Kinderschutzbund abweisen. Die Gewalt habe ein erschreckendes Maß erreicht, sagt der Oberbürgermeister.
Mit Wagnis ist das jüngste Projekt des Essener Kinderschutzbundes wohl noch zurückhaltend beschrieben: 4,5 Millionen Euro muss der Verein aus Eigenmitteln und Spenden aufbringen, um Grundstück, Baukosten und Erstausstattung des neuen Kinderschutzhauses in Altenessen zu finanzieren. „Der aktuelle Spendenstand beträgt 450.000 Euro“, sagt der Vorsitzende des Kinderschutzbundes Ulrich Spie beim symbolischen Spatenstich am Dienstag (23.7.). Das ist nur ein Zehntel der erforderlichen Summe, doch Spie spricht von einem Anfang, von einer Bestätigung für „die wichtigste und wertvollste Investition in unsere nächste Generation“.
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Namentlich geht es um die Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können, weil sie dort missbraucht, misshandelt und vernachlässigt werden. Und zwar, so betont Spie, mit einer Gewalt, dass viele von ihnen „kein Vertrauen mehr zu Erwachsenen aufbauen können“. Weil Pflegefamilien mit den traumatisierten Jungen und Mädchen häufig überfordert seien, müssten diese am Ende doch oft stationär untergebracht werden. Auch die ganz Kleinen, denen man, wenn irgend möglich, eine Heimunterbringung ersparen möchte.
Inobhutnahmen und Kindeswohlgefährdungen: Die Zahlen steigen seit Jahren
Nicht nur die Zahl der Inobhutnahmen und Kindeswohlgefährdungen steige seit Jahren, gleichzeitig seien die Opfer immer jünger, sagt Spie. Und: „Die Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen der Kinder, die bei uns aufgenommen werden, sind über alle Maße extrem.“ Die beiden bestehenden Kindernotaufnahmen „Spatzennest“ in Altenessen und „Kleine Spatzen“ in Borbeck mit ihren insgesamt 26 Plätzen geraten durch diese Entwicklung an ihre Grenzen. Denn viele der Kinder können nicht – wie vorgesehen – nach längstens einem halben Jahr zu Pflegeeltern oder in andere Einrichtungen weitervermittelt werden, sondern bleiben länger. Mit der fatalen Folge, dass zu wenig Plätze für akute Notfälle frei werden.
249 Anfragen haben den Kinderschutzbund allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres erreicht, aufnehmen konnten die Notaufnahmen nur 26 Kinder. Sprich: 223 musste man absagen. Vor 20 Jahren habe es im ganzen Jahr 50 Anfragen gegeben, erinnert Spie. Deswegen habe man damals das Spatzennest um ein zweites Haus ergänzt. Dass nun Handlungsbedarf besteht, wird also wohl niemand bestreiten. Längst sieht sich die Stadt gezwungen, Kinder in die ganze Republik zu vermitteln; bis zu 100 Anrufe mache man, um einen Platz zu finden, hat Jugendamtsleiter Carsten Bluhm im vergangenen Jahr berichtet.
Neues Kinderschutzhaus braucht Spenden
Die erste Kindernotaufnahme „Spatzennest“ mit sechs Plätzen eröffnete der Kinderschutzbund 1986 an der Altenessener Straße. 1998 zog das Spatzennest in einen größeren Neubau in Altenessen. 2017 wurde die Notaufnahme „Kleine Spatzen“ in Borbeck eröffnet. Beide Häuser haben insgesamt 26 Plätze für Kinder von zwei bis zwölf Jahren.
Im ersten Halbjahr 2024 nahmen die beiden Notaufnahmen 26 Kinder (16 Jungen, 10 Mädchen) neu auf. 223 Anfragen mussten abgelehnt werden. Insgesamt lebten dieses Jahr 49 Kinder in den Häusern. Rund die Hälfte bleibt länger als das maximal vorgesehene halbe Jahr.
Das neue Kinderschutzhaus an der Altenessener Straße soll in zwei Gruppen insgesamt bis zu 16 Plätze für Kinder von vier bis zwölf Jahren bieten, die Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung erlebt haben und voraussichtlich eine längere Verweildauer benötigen.
Die Zahl der Inobhutnahmen stieg in Essen von 677 Fällen im Jahr 2021 auf 716 Fälle im Folgejahr, darunter fielen 260 minderjährige Flüchtlinge, die allein eingereist sind. 2023 wurden in Essen 176 Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder bekannt.
Spendenkonto: Sparkasse Essen, IBAN: DE70 3605 0105 0000 2907 00, Stichwort: Neubau Kinderschutzhaus.
Wenn das neue Kinderschutzhaus an der Altenessener Straße erst steht, werden wieder mehr Vier- bis Zwölfjährige in Essen vermittelt werden. 16 Kinder sollen dort von einem multiprofessionellen Team betreut, begleitet und unterstützt werden. Kinder, die so traumatisiert sind, dass von vornherein klar ist, dass sie für eine längere Zeit bleiben werden. Oder, wie es Spie formuliert, „eine neue Heimat“ finden. Er hoffe auf den positiven Nebeneffekt, dass in den beiden anderen Notaufnahmen dann wieder schneller Plätze frei werden.
„Was Kindern angetan wird, verschlägt einem den Atem.“
Es handle sich bei dem neuen Schutzhaus um die größte Einzelinvestition des hiesigen Kinderschutzbundes seit 56 Jahren. Während der laufende Betrieb über eine Pflegesatzvereinbarung finanziert werden wird, muss der Verein die 4,5 Millionen Euro für den Bau des Hauses selbst aufbringen. Im vergangenen Jahr hat man die Spendenaktion begonnen, sieht sich nun durch die bislang eingeworbenen zehn Prozent zumindest zum symbolischen Spatenstich ermutigt – trotz hoher Baukosten, hoher Kreditzinsen und sinkender Spendenbereitschaft.
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Rückzugsort, an dem Spielen und Lachen möglich ist
Der Vorsitzende des Kinderschutzbunds hofft auf eine Eröffnung im Sommer 2026 und fühlt sich hier bestärkt durch die treuen Unterstützer, durch die Spitzen aus Politik und Stadtgesellschaft, die am Dienstagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein auf dem Baugrundstück versammelt sind. „Für dieses wichtige Projekt wären wir auch bei strömendem Regen gekommen“, versichert Oberbürgermeister Thomas Kufen, der den Kinderschutzbund als zuverlässigen Partner von Stadt und Jugendamt lobt.
Höchst selten sei er selbst mit einem Fall befasst und werfe einen Blick in die Akte. „Was Kindern angetan wird, verschlägt einem den Atem“, sagt der OB und fügt hinzu, es betreffe alle Schichten, alle Stadtteile, alle Kulturen. Wenn ein Kind aus seiner Familie genommen werde, geschehe das, um ihm ein sicheres Aufwachsen zu ermöglichen, es zu schützen und zu fördern. „In diesem schwierigen Abwägungsprozess stehen wir immer auf der Seite der Kinder.“ Das neue Kinderschutzhaus solle ein Rückzugsort werden, an dem sie wieder lernen können, was zu einer Kindheit gehören sollte: lachen, spielen und: „Erwachsene als Vorbild erleben.“
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