Essen. Sexueller Missbrauch ist oft schwer zu beweisen, meist steht Aussage gegen Aussage. Essener Kinderärzte weisen Wege, wie man Kinder schützen kann.
Sie sind die Veteranen im Kampf gegen Missbrauch und sie lernen in Zeiten, da Kinder über das Dark Net angeboten werden, immer noch dazu. Doch ihr Hauptziel sei bis heute unverändert: „Wir wollen, dass es aufhört“, sagt der pensionierte Kinderarzt Ulrich Kohns. Das gelte, seit die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern 1983 in Essen gegründet wurde.
Damals lenkten Vereine wie „Wildwasser“ und „Zartbitter“ die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema Kindesmissbrauch; forderten Hinsehen, Handeln und härtere Strafen gegen die Täter. Ein Forderungskatalog, der bis heute immer wieder auftaucht, wenn es etwa um Missbrauchsskandale wie die von Lügde oder Münster geht.
Auch Unschuldige landeten vor Gericht, nachdem man Kinder suggestiv befragt hatte
Doch so richtungsweisend und wichtig die Vereine waren und sind, sie gerieten zeitweilig auch in Negativschlagzeilen: So wurden in den 1990er Jahren unter Beteiligung einer – später entlassenen – Mitarbeiterin von „Wildwasser Worms“ sowie des – inzwischen aufgelösten – „Zartbitter Coesfeld“ Kinder suggestiv befragt, hanebüchene Sexkomplotte konstruiert und so auch Unschuldige vor Gericht gebracht. Mochten die Prozesse auch mit Freisprüchen enden, die öffentliche Hinrichtung der Betroffenen war da längst erfolgt. Die Vereine Zartbitter Köln und Münster distanzierten sich schon damals von der gleichnamigen Beratungsstelle in Coesfeld.
„Wir haben uns nie als Ermittler gesehen“, sagt Ulrich Kohns über die Ärztliche Beratungsstelle (ÄB) in Essen. Es gelte die Schweigepflicht und zunächst die Zusage, weder Polizei noch Jugendamt einzuschalten. „Wir wollen ja, dass die Leute überhaupt zu uns kommen. Nur dann können wir Hilfe etablieren.“ So wolle man körperliche, seelische oder sexuelle Gewalt beenden – oder besser verhindern.
„Unser erster Auftrag ist es, das Kind zu schützen“, sagt Ute Kalvelis. Und das sei in vielen Fällen gemeinsam mit der Familie möglich. Die Sozialwissenschaftlerin und Familientherapeutin fügt jedoch hinzu: „Wenn wir unseren Schutzauftrag für das Kind nicht wahrnehmen können, müssen wir weitere Schritte einleiten.“ Das sei nicht zwingend eine Anzeige, wohl aber der Gang zum Jugendamt.
„Auch wer nur ein komisches Bauchgefühl hat, kann sich gern an uns wenden“
Hilfe holen, das sollten nicht nur Familien, die drohen zum Tatort zu werden. Das gelte auch für all jene, die den Verdacht haben, dass einem Kind Leid angetan werde. Ute Kalvelis erzählt von der Erzieherin, „die ein komisches Bauchgefühl hat, weil ein dreijähriges Kind in der Puppenecke etwas gespielt hat, das zu explizit ist, um noch unter die alterstypischen Doktorspiele zu fallen“.
Wie so viele Ratsuchende erhofft sich die Erzieherin eine klare Aussage: Gibt es da einen Missbrauch oder nicht? Doch so eindeutig lasse sich das selten beantworten. Darum klopfe man erst ab, ob sich das Kind oft auffällig verhalte. „Dann raten wir der Erzieherin, das Gespräch mit den Eltern zu suchen, sie für eine Mitarbeit zu gewinnen.“ Wenn sich danach nichts ändere oder Gefahr im Verzug sei, solle sich die Erzieherin ans Jugendamt wenden.
Nicht immer gibt sichtbare Verletzungen
In vielen Fällen könne ein vorsichtiges Vorgehen gut begründet sein: Schließlich gehe es darum, dem Kind zu helfen. Gehe man vorschnell zur Polizei, stehe am Ende oft Aussage gegen Aussage. Oder das Kind sage aus Angst, die Familie zu zerstören, es habe sich die Vorfälle nur ausgedacht. Handfeste Beweise gebe es meist nicht, weiß Kinderarzt Kohns aus seiner Praxis. „Man sieht keine Verletzung, aber es gab die Grenzverletzung.“ Oder mehr.
Meist gingen die Täter nicht mit brutaler körperlicher Gewalt vor, „sondern erschleichen sich das Vertrauen eines emotional bedürftigen Kindes“, sagt Kohns. Wie bei dem Fünfjährigen, der der Mutter von den Übergriffen ihres Freundes erzählt hat. Und nun sitzt sie bei Ute Kalvelis und fragt: „Kann das sein?“ Kann das der Mann sein, mit dem der Junge so begeistert Fußball spielte? Und wenn ja: Wie konnte ich mein Kind mit diesem Mann allein lassen?
Der Freund der Mutter verlangte, dass die Zehnjährige auf seinem Schoß saß
Es gebe Mütter, die sich solche Fragen lieber gar nicht stellen. Andere brauchten das Gespräch, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wie die Mutter, die zu Kohns in die Praxis kam und fragte: „Ist es normal, dass meine zehnjährige Tochter beim Fernsehen immer auf dem Schoß meines Freundes sitzt?“ Weil er das so wolle, seine Hände zwischen ihren Beinen. Ein halbes Jahr hatte sie das angesehen, obwohl sie ein ungutes Gefühl hatte. Kohns kritisierte sie nicht für ihr Zögern, sondern bestärkte sie in ihrem Gefühl.
Als die Frau die fragwürdige Nähe der beiden unterband, protestierte nur ihr Freund. Die Frau trennte sich von dem Mann, den sie im Internet kennengelernt hatte. Also dort, wo laut Kohns regelmäßig Täter alleinerziehende Mütter suchen. „Ist der neue Partner auch noch wegen Pädophilie vorbestraft, gehen bei mir alle Alarmglocken los“, sagt Kalvelis.
Täter bekommen Zugriff auf das Kind ihrer Lebensgefährtin
So lange ein Verdacht noch diffus sei, könne sie der Frau nur raten, ihrem ihrem Kind zu glauben, ihm zu sagen: „Es ist gut, dass Du das erzählst.“ Kinder sollten ihre Gefühle und Grenzen benennen, Nein sagen können. Die Mutter sollte zumindest verhindern, dass der mögliche Täter mit dem Kind allein sei. Viele Frauen brächen solche Beziehungen ab, um ihr Kind keiner Gefahr auszusetzen. „Wenn das nicht geschieht, ist das auch für mich als Beraterin heftig.“
Denn das sind die Konstellationen, in denen ein Täter unter den Augen der Mutter Zugriff auf ein Kind bekommt, es womöglich Mittätern anbietet, die Taten filmt, verbreitet. Bittere Ironie: An Beweisen fehlt es in diesen Fällen nicht. Wird der Täter irgendwann als Beifang einer großangelegten Fahndung im Netz gefasst, fragt die perplexe Öffentlichkeit, wieso vorher niemand das Leid des Kindes gesehen hat. Doch dieses Leid hinterlasse nicht immer sichtbare Wunden, sagt Kohns.
Die Grundschülerin trug Pfefferspray bei sich – ein Hilferuf, der gehört wurde
Signale könnten plötzliche Verhaltensänderungen, Aggressionen, Depressionen, eine sexualisierte Sprache, Schulverweigerung oder schlechte Noten sein. „Nur kann man von diesen Auffälligkeiten nicht eindeutig auf einen sexuellen Übergriff schließen.“ Schwer missbrauchte Kinder würden oft unsichtbar, ergänzt Kalvelis: „Sie ziehen sich völlig zurück, sind in der Schule ganz still.“
Gehört wurde der Hilferuf einer Grundschülerin, die Pfefferspray mit sich trug und aufschrie, als im Spiel mit Gleichaltrigen ein anderes Kind ihre Brust berührte. Es stellte sich heraus, dass der Onkel das Mädchen missbrauchte. Der Onkel, bei dem Mutter und Tochter lebten.
Wer einen Verdacht hat, sollte Indizien notieren, Zeugen benennen
Was aber tun Menschen, die auffällige Beobachtungen machen, die warnen – und nicht gehört werden. Wie die Jobcenter-Mitarbeiterin im Fall Lügde, die vergeblich das übergriffige Verhalten des Haupttäters gegenüber seiner Pflegetochter meldete. Kohns und Kalvelis raten, solche Vorfälle zu protokollieren und möglichst Zeugen zu benennen. Sind die Indizien zu dünn, müsse man weitere sammeln. Finde man dann immer noch kein Gehör beim Jugendamt, könne sich jeder selbstständig an Polizei oder Familiengericht wenden. Oder an die Ärztliche Beratungsstelle. Dort gilt: „Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl.“