Essen. Nachdem drei Kinder aus einer Wohnung in Essen befreit wurden, sind Erzieher und Betreuer schockiert: Es habe keine Anzeichen für die Tat gegeben.
In dem spektakulären Fall der drei Kleinkinder, die am vergangenen Mittwoch (2. Juni) von Feuerwehr und Polizei aus einer Wohnung in Schonnebeck befreit werden mussten, äußert sich das Essener Jugendamt jetzt in bemerkenswerter Offenheit. Was den Kindern geschehen sei, könne man in keiner Weise relativieren, betont Jugendamtsleiter Carsten Bluhm. Er wolle jedoch auch den Blick auf das Schicksal lenken, das hinter sich hinter dem Ereignis verberge.
Feuerwehr befreite drei Kinder aus der Wohnung
Die offenbar überforderte Familie sei seit langem von verschiedenen Stellen betreut worden und habe die Hilfe freiwillig und zuverlässig angenommen. „Niemand hat damit gerechnet, dass es einen so dramatischen Einsatz bei einer Familie gibt, auf die so viele Menschen gucken – alle Beteiligten stehen unter Schock.“ Denn am vergangenen Mittwoch hatten Nachbarn die Feuerwehr gerufen, weil sie den auf dem Balkon ausgesperrten Dreijährigen entdeckt hatten. In der Wohnung fanden die Einsatzkräfte zwei weitere Kleinkinder (2 und 5): Das größere Mädchen war im Zimmer eingeschlossen, der Zweijährige auf einem Stuhl angeschnallt, der wiederum an der Heizung festgebunden war. Die Eltern waren nicht zu Hause.
„Wir sind den wachsamen Nachbarn unglaublich dankbar, dass sie dafür gesorgt haben, dass die Kinder so schnell befreit wurden“, sagt Bluhm. Soweit man die Geschehnisse rekonstruieren könne, seien die Kinder nach höchstens einer Stunde entdeckt worden. Zwei von ihnen seien jetzt in Pflegefamilien untergebracht, eins in einer Notaufnahme. Er wolle den Ermittlungen nicht vorgreifen und daher nicht darüber spekulieren, wer die Kinder gefesselt habe und ob es solche „Strafen“ schon früher gegeben habe.
Familie war für das Jugendamt ein weißes Blatt
Anders als einige Anwohner berichteten, habe es zuvor nur einen „kurzen Kontakt“ mit dem Jugendamt gegeben: Im Februar 2020 vermittelte man die Familie an eine Beratungsstelle im Stadtteil weiter; damals sei es im Kern um Mietschwierigkeiten gegangen. „Ansonsten war die Familie für uns bisher ein weißes Blatt“, sagt Bluhm.
Trotzdem sei sie gut eingebunden gewesen: Die Flüchtlingsberatung im Stadtteil habe den Eltern (32, 45 Jahre alt), die nicht aus Deutschland stammen, verschiedene Hilfsangebote vermittelt. „Fünf Institutionen hatten einen Blick auf die Kinder und die Mutter.“ Sie suchte offenbar Hilfe, weil die beiden jüngeren Kinder sehr „herausfordernd“ waren. Man kennt das etwa von Schreikindern, die scheinbar nicht zu beruhigen sind. In der betroffenen Familie ging es aber wohl auch um aggressives und destruktives Verhalten.
Obwohl die Eltern dem Jugendamt ausdrücklich erlaubt haben, über ihren Fall zu berichten, möchte Bluhm hier nicht zu sehr ins Detail gehen. Erstens aus Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte der Kinder, zweitens müsse man erst abschließend ermitteln, inwiefern das Verhalten der Kinder krankheitsbedingt sei – und inwiefern es durch die Erziehung geprägt sei.
Mutter suchte Hilfe und Beratung
Es gebe bei den zwei und drei Jahre alten Jungen jedenfalls eine längere „Diagnostik-Geschichte“: Die Mutter habe sich schon vor anderthalb Jahren an die Erziehungsberatung gewendet: „Dort heißt es, sie habe alle Termine absolut verlässlich wahrgenommen und sei sehr bemüht gewesen.“ Außerdem kümmerten sich ein Familiencoach und eine Ergotherapeutin um die Kinder, zweimal wöchentlich gab es ein Kommunikationstraining. Und eine Logopädin, die die Familie regelmäßig zu Hause besuchte, schildert die Wohnung als spartanisch eingerichtet, aber nicht verwahrlost. Dagegen hatten die Einsatzkräfte von Verwahrlosung gesprochen. Nachbarn erzählten, die Kinder seien fast immer in der Wohnung gewesen, hätten häufiger an die Scheibe geklopft.
Das Bild von den eingeschlossenen Kindern ist für Helfer und Betreuer schwer mit dem vereinbar, was sie erlebt haben. Alle Kinder hatten eine 45-Stunden-Betreuung, zwei in der Kita, das Jüngste bei der Tagesmutter. Sie seien dort auch regelmäßig gewesen, sagt Bluhm, der mit den Kitas gesprochen hat. „Beide Einrichtungen haben die Mutter völlig anders erlebt und bei den Kindern keinen Hinweis auf Verwahrlosung gesehen.“ Umso erschütterter hätten nun alle auf die jüngsten Ereignisse reagiert: „Alle überlegen, ob sie etwas anders hätten machen können.“
Es sei immer möglich, dass eine Stelle Warnsignale in einer Familie übersehe oder diese nicht (rechtzeitig) ans Jugendamt weiterleite, sagt Carsten Bluhm. Doch in diesem Fall hätten gleich ein halbes Dutzend Profis die Lage anders eingeschätzt: „Niemand hätte sich vorstellen können, dass diese Familie die Kinder anbindet oder aussperrt.“
Die Jungen, die einen „hohen Förderbedarf“ hatten, hätten die Mutter offenbar immer wieder an ihre Grenzen gebracht. Aber während viele Betroffene in solchen Situationen den Kontakt zu offiziellen Stellen scheuten, „hat sie sich Hilfe gesucht und versucht, Ratschläge umzusetzen“. Über den Vater wisse man weniger, er sei nicht so präsent gewesen. „Aber es wirkte, als sei die Familie auf einem guten Weg.“
Eine schnelle Rückkehr der Kinder in die Familie wird es nicht geben
Entsprechend schockiert seien nun auch die Eltern selbst, „nicht nur weil ihre Kinder weg sind, sondern auch über die Tat“. Es sei nicht auszuschließen, dass es dazu in einer schlimmen Ausnahmesituation gekommen sei, sagt Bluhm. Doch selbst wenn es kein erzieherisches Verhaltensmuster war, selbst wenn die Kinder eine gute Bindung zur Mutter hatten: „Eine kurzfristige Rückführung zu den Eltern wird es aller Voraussicht nach nicht geben.“ Dafür seien die Vorfälle zu gravierend, die Kinder zu klein.
Er glaube, dass man im „Schulterschluss mit den Eltern“ nach geeigneten Hilfsmaßnahmen suchen könne. Denkbar ist in solchen Fällen etwa, dass die Kinder in einem Heim leben und nur am Wochenende nach Hause kommen. Klar sei nur: „Wir müssen ein Sicherheitsnetz für sie spannen.“