Essen. Andere zittern vor der Krebs-OP, Rike Kuhlmann bittet den Arzt um ein Video. Sie zeigt es im Unterricht, klärt auf, was vor diesem Krebs schützt.

Im Frühjahr 2023 wird bei der Essenerin Rike Kuhlmann eine Krebsvorstufe im Gebärmutterhals entdeckt: Sie muss sich die Gebärmutter entfernen lassen. Andere Patientinnen stellen in dieser Lage angstvolle Fragen, die Lehrerin will im Aufklärungsgespräch wissen: „Kann die Operation gefilmt werden?“ Dr. Norbert Nosal, Chefarzt in der Frauenklinik des Elisabeth-Krankenhaus, macht es möglich und liefert ihr Unterrichtsmaterial in bester Bildqualität.

Essener Arzt filmte Operation für seine Patientin, die sie nun im Unterricht zeigt

„Die Schüler und Schülerinnen können jetzt in meinen Bauchraum gucken“, erzählt die 44-Jährige. Das klingt flapsig, hat aber einen ernsten Hintergrund: Schon mit 17 Jahren war aufgefallen, dass sie sich mit HP-Viren infiziert hat, die Gebärmutterhalskrebs verursachen können. Das Risiko ist hoch: Von 100 betroffenen Frauen müsse sich eine später eine Krebs-OP unterziehen, sagt Dr. Nosal. „Darum ist es so wichtig, zur Krebsvorsorge zu gehen.“

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Rike Kuhlmann hat den Vorsorgetermin Jahr für Jahr wahrgenommen: „Bis 2023 war immer alles in Ordnung.“ Dann gibt es einen auffälligen Befund, eine gründliche Diagnostik mit Gewebeentnahme im Elisabeth-Krankenhaus beginnt. „In dieser diagnostischen Phase rufen uns oft alarmierte Patientinnen an: ,Mein Frauenarzt hat gesagt, ich habe Krebs!‘“, berichtet Dr. Nosal. „Wir erklären dann, dass es sich um eine Krebsvorstufe handelt.“

„Die Schüler und Schülerinnen können jetzt in meinen Bauchraum gucken.“

Rike Kuhlmann, Lehrerin aus Essen, zeigt im Unterricht einen Film ihrer Krebs-Operation.

Rike Kuhlmann gerät nicht in Panik: „Ich wusste, was eine Krebsvorstufe ist. Ich war früher mal Krankenschwester.“ Eine solche Vorstufe kann sich zu Krebs entwickeln und muss daher gut beobachtet werden; in vielen Fällen sei aber keine Operation notwendig, sagt Nosal. Bei Rike Kuhlmann ist es ernster: „Es war die allerletzte Krebsvorstufe vor dem Krebs. Da empfehlen wir bei abgeschlossener Familienplanung immer lieber die Operation.“ Gebärmutter und Eileiter werden entfernt, die Eierstöcke erhalten.

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Seine Patientin überlegt nicht lange: „Ich habe keine Kinder, und wollte auch keine.“ Die vorsorgliche Entfernung der Gebärmutter empfindet sie als beruhigend: „Ich hatte sonst die Sorge, dass die Krebsvorstufe unbemerkt weiter in der Gebärmutter wächst.“ Der Eingriff gibt ihr Sicherheit. Mit dem Video möchte sie Aufklärungsarbeit leisten.

Lehrerin wirbt bei ihren Schülern und Schülerinnen für die HPV-Impfung

Rike Kuhlmann unterrichtet an einem Gymnasium in Castrop-Rauxel Kunst, Erdkunde – und Biologie. Da steht in der 6. Klasse Sexualerziehung auf dem Lehrplan, in der Oberstufe wird Krebs behandelt. Dabei möchte sie vermitteln, dass keine ihrer Schülerinnen mehr an Gebärmutterhalskrebs erkranken muss: Seit fast 20 Jahren gibt es mit der HPV-Impfung einen sehr wirksamen Schutz gegen diese Krebsart. Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt, Jungen und Mädchen zwischen neun und 14 Jahren zu impfen; möglichst vor dem ersten Geschlechtsverkehr: Denn HPV wird beim Sex übertragen. Ergänzend sollten Frauen die Früherkennungstermine beim Frauenarzt wahrnehmen.

HPV-Impfung für Mädchen und Jungen empfohlen

Humane Papillomviren (HPV) sind für verschiedene Krebsarten verantwortlich, allen voran für Gebärmutterhalskrebs. Aber auch Vulva- und Vaginalkrebs, Peniskrebs, Analkrebs sowie Mund- und Rachenkrebs kann durch HPV verursacht werden. Die HPV-Impfung verringert das Risiko, an diesen Krebsarten zu erkranken: Sie schützt den Geimpften und seine Sexualpartner.

HP-Viren infizieren sowohl Frauen als auch Männer, oft schon beim ersten Sexualkontakt. Auch eine Übertragung über Mikroverletzungen der Haut und Schleimhäute ist möglich. Kondome schützen nicht zuverlässig gegen HPV.

Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt die HPV-Impfung seit 2007 für Mädchen, seit 2018 auch für Jungen. Beide sollen im Alter von 9 bis 14 Jahren zweimal im Abstand von mindestens fünf Monaten geimpft werden. Versäumte Impfungen sollten vor dem 18. Geburtstag nachgeholt werden. Impfen können Kinder- und Jugendärzte, Urologen, Frauenärzte sowie Fachärzte der Allgemein- oder Inneren Medizin.

Die Idee, die Schüler mit Bildern von der OP aufzuklären, begeistert auch Dr. Nosal. Bei dem minimalinvasiven Eingriff schaut er ohnehin auf einen Monitor, der digitale Bilder liefert. Auch Fotos werden während der Operation gemacht. Und: Eine Filmaufnahme, die auf einem USB-Stick gespeichert wird, ist möglich. „Ich konnte Frau Kuhlmann eine Stunde Videomaterial in die Hand drücken, ungeschnitten.“ Mehr Transparenz kann wohl kein Operateur bieten. Nosal gibt seiner fachkundigen Patientin noch ein paar Hinweise zu Aussehen und Farbe der Organe.

Kinder finden es interessant, dass es in dem Film um die Operation ihrer Lehrerin geht

„Selbst die Kinder haben manches erkannt, die Eierstöcke gesehen, die Leber entdeckt“, erzählt Kuhlmann. Nur einzelne Schüler wollten den Film lieber nicht sehen, die anderen hätten es interessant gefunden, dass es um ihre Lehrerin geht. „Die wissen ja, dass Krebs tödlich sein kann.“ Und Gebärmutterhalskrebs ist die dritthäufigste krebsbedingte Todesursache bei Frauen weltweit. Mit dem Film transportiere Rike Kuhlmann auch die Botschaft, „dass das nicht nötig ist, wenn man geimpft ist“, sagt Dr. Claudio Finetti, der die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Elisabeth-Krankenhaus leitet.

Die Botschaft verfange, bestätigt Kuhlmann: So sei einigen Mädchen in der Oberstufe aufgefallen, dass sie den abschließenden HPV-Impftermin versäumt hatten. In der sechsten habe ein Kind zu Hause gesagt: „Ich möchte diese Impfung.“ Da die von der Stiko empfohlen ist, klären Kinder- und Jugendärzte darüber auf und impfen auch, sagt Finetti. Doch wer den Kinderarzt erst gar nicht aufsucht, erfahre oft nicht von der Impfung. Auch halte sich noch das Gerücht, dass die nur für Mädchen gedacht sei. Dabei schützt sie auch vor anderen Krebsarten und wird daher seit 2018 auch für Jungen empfohlen.

Dr. Claudio Finetti, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Essener Elisabeth-Krankenhauses.

„Wir sagen den Eltern dann, was fehlt.“

Dr. Claudio Finetti, Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Elisabeth-Krankenhaus in Essen, prüft mit seinem Team bei jedem der jungen Patienten den Impfstatus. Vielen Eltern sei etwa nicht bewusst, dass eine HPV-Impfung sehr wirksam vor verschiedenen Krebsarten schütze.

Doch nur 30 Prozent der Jungen werden geimpft. Bei den Mädchen liege der Anteil mit gut 50 Prozent immer noch zu niedrig, sagt Dr: Nosal. „70 bis 80 Prozent Durchgeimpfte wären nötig, damit es in ein paar Jahren keinen Gebärmutterhalskrebs mehr bei uns gibt.“ Das Team der Kinderklinik prüfe bei jedem neu aufgenommenen Patienten den Impfstatus, ergänzt Dr. Finetti: „Wir sagen den Eltern dann, was fehlt.“

Der Kampf gegen Krebs wird auch im Klassenzimmer ausgefochten

Die beiden Mediziner freuen sich, in Rike Kuhlmann eine Mitstreiterin gefunden haben. „Es kommt ja sonst selten vor, dass Kinder ihren Eltern sagen: Ich will die Impfung“, sagt Nosal. „Wir haben hier erstmalig den Zusammenhang zwischen einer Impfung und der Vermeidung einer schweren Krebserkrankung.“ Zu verdanken sei deren Entwicklung auch dem gebürtigen Gelsenkirchener Prof. Dr. Harald zur Hausen: Er wurde 2008 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet, weil er erkannt hatte, dass Gebärmutterhalskrebs durch Virusinfektionen ausgelöst wird. 

Der Kampf gegen den Krebs wird auch in Zukunft in ihrem Klassenzimmer ausgefochten, verspricht Rike Kuhlmann: „Den Film werden sich jetzt Generationen ansehen.“

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