Essen. Sie sind Kinder und Jugendliche und ganz allein: Über 300 unbegleitete Flüchtlinge leben in Essen. Nun sucht die Stadt ehrenamtliche Vormünder.

Die Zahl der geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern nach Essen kommen, steigt stark an und stellt die Stadt vor Herausforderungen. „322 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit hier“, sagt Jugendamtsleiter Carsten Bluhm: Auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms waren es 450, dann sank die Zahl bis unter 100. „Jetzt ist die Tendenz wieder steigend.“ Darum wolle man nun verstärkt Ehrenamtliche gewinnen, die sich als Vormünder und Paten um die jungen Menschen kümmern.

Neun Monate lang müssen junge Flüchtlinge in Essen auf einen Schulplatz warten

„322 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit hier“, sagt der Leiter des Essener Jugendamtes, Carsten Bluhm. Ihre Unterbringung, Beschulung und Betreuung stelle die Stadt vor große Herausforderungen.
„322 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit hier“, sagt der Leiter des Essener Jugendamtes, Carsten Bluhm. Ihre Unterbringung, Beschulung und Betreuung stelle die Stadt vor große Herausforderungen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wer noch nicht volljährig ist und allein hier ankommt, wird vom Jugendamt in Obhut genommen und betreut: Von der Suche nach einem Heimplatz bis zur Beschulung wird das immer schwieriger; etwa neun Monate beträgt die Wartezeit auf einen Schulplatz. Eine Hypothek für Spracherwerb und Integration.

Für jeden der Jugendlichen muss ein Vormund bestellt werden; jeder Vormund betreut 40 Mündel, mitunter mehr. Bisher übernehmen das überwiegend Mitarbeiter des Jugendamtes oder des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF). Vereinzelt hat der SkF schon Ehrenamtliche für das Amt eingesetzt. „Die bringen mehr Zeit mit und haben eine andere Art der Beziehung zu den Jugendlichen. Davon profitieren diese sehr“, sagt Kira Nienhaus, Teamleiterin beim SkF.

Vormundschaft ist ein anspruchsvolles Ehrenamt

„Wir haben ganz viel Herz für unsere Jugendlichen“, Kira Nienhaus, Teamleiterin bei Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Essen. Sie ermuntert Ehrenamtliche, als Pate oder Vormund junge Flüchtlinge zu begleiten.
„Wir haben ganz viel Herz für unsere Jugendlichen“, Kira Nienhaus, Teamleiterin bei Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Essen. Sie ermuntert Ehrenamtliche, als Pate oder Vormund junge Flüchtlinge zu begleiten. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Noch ist es eine Erfolgsgeschichte im Kleinformat, doch das soll sich ändern: Binnen eines Jahres hofft man, 30 ehrenamtliche Vormünder zu gewinnen, aktuell sind es zwei. „Man muss ehrlicherweise sagen, dass das kein Ehrenamt ist, bei dem man einfach sagen kann: Ich hab’ jetzt keine Zeit“, betont Nienhaus. Vormünder werden vom Amtsgericht bestellt und übernehmen Pflichtaufgaben für ihr Mündel. Die reichen von Gesundheitsfürsorge bis zu ausländerrechtlichen Fragen.

Info-Abend für Ehrenamtliche

Wer ehrenamtlicher Vormund oder Pate werden möchte, erfährt mehr über die Aufgabe bei einem Info-Abend beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), Dammannstraße 32 im Südostviertel, am Donnerstag, 23. November, um 18 Uhr. Um Anmeldung wird gebeten, telefonisch unter: 0201 319375-600 oder per Mail an: wegbegleitung@skf-essen.de

Die Ehrenamtlichen unterstützen Kinder und minderjährige Jugendliche, die als Flüchtlinge ohne Eltern nach Essen gekommnen sind. Als Paten und Vormünder helfen sie ihnen beim Ankommen. Dazu gehört die Suche nach Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten ebenso wie die Hilfe bei Formalitäten. In einem Podcast stellt der SkF die Aufgabe vor: https://open.spotify.com/episode/51lUg83XFkkl547rlnjVKR?si=L6qgmbJ6The7EY0eX42XUw

Die meisten Jugendlichen kommen laut Nienhaus aus Syrien und Afghanistan; ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten seien sehr unterschiedlich. Einige seien traumatisiert, bei anderen gehe es nur um die Erkundung der Stadt oder die Suche nach einem Sportverein. „Wir haben ganz viel Herz für unsere Jugendlichen.“

Ehrenamtliche können für die Jugendlichen Weichen stellen

Offenheit und Engagement sollten alle mitbringen, die sich für die Aufgabe interessieren. Pädagogische Kenntnisse, Basiswissen zu Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie zum Umgang mit Jugendamt, Amts- und Familiengericht vermittelt der SkF in einer Schulung. Danach werden die Ehrenamtlichen weiter begleitet: Es gibt eine monatliche Austauschrunde beim SkF; tauchen im Alltag Fragen auf, können sie sich an das SkF-Team wenden.

Im besten Fall ist die Freude, einen jungen Menschen zu begleiten, so groß, dass der Kontakt über die Volljährigkeit hinaus bestehen bleibt. Das gilt als einer der Pluspunkte gegenüber der Amtsvormundschaft, die mit dem 18. Geburtstag endet. Die Ehrenamtlichen könnten etwa bei der Suche nach einer Ausbildung Weichen stellen, „weil sie super viel Vitamin B haben“, wie Kira Nienhaus sagt. Sprich: Sie sind in der Stadtgesellschaft vernetzt, die für die Neuankömmlinge noch fremd ist.

Abschiebung droht den minderjährigen Flüchtlingen nicht

Junge Flüchtlinge hätten gute Bleibeperspektiven und könnten die Fachkräfte von Morgen sein, sagt der Geschäftsführer des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF), Björn Enno Hermans. Man müsse sich fragen: „Wie können wir es schaffen, ihnen Chancen zu eröffnen?“
Junge Flüchtlinge hätten gute Bleibeperspektiven und könnten die Fachkräfte von Morgen sein, sagt der Geschäftsführer des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF), Björn Enno Hermans. Man müsse sich fragen: „Wie können wir es schaffen, ihnen Chancen zu eröffnen?“ © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Auch erste Studien bestätigten die gute Arbeit ehrenamtlicher Vormünder, denen der Gesetzgeber seit Anfang 2023 klaren Vorrang einräume: „Das Vormundschaftsgesetz sieht genau das vor“, sagt SkF-Geschäftsführer Björn Enno Hermans.

Einen Widerspruch zur aktuellen Diskussion um die Begrenzung der Zuwanderung und verstärkte Abschiebungen sehe er nicht. Minderjährige, die ohne Eltern herkommen, würden nicht abgeschoben und hätten oft gute Bleibeperspektiven, insbesondere wenn sie sich gut integrierten. Sie könnten die Fachkräfte von morgen sein. Hier frage sich nur: „Wie können wir es schaffen, ihnen Chancen zu eröffnen?“

Infoabend für angehende Paten und Vormünder am 23. November

Das Jugendamt schöpfe alle Möglichkeiten aus, damit die Flüchtlinge hier Fuß fassen, ergänzt Bluhm. „Die Begleitung durch die Jugendhilfe kann über das 18. Lebensjahr hinaus verlängert werden, oft bis zum 21. Lebensjahr.“ Mitunter läuft die Hilfe noch länger. „Es macht ja keinen Sinn, so viel in sie zu investieren und das dann abzubrechen, wenn es in die Ausbildung geht.“

Ehrenamtliche Vormünder auch für Pflegekinder

Auch Kinder, die in Heimen oder bei Pflegefamilien leben, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers bevorzugt ehrenamtliche Vormünder bekommen. Bei Pflegekindern könnten oft die Pflegeeltern selbst die Vormundschaft erhalten. Für Kinder in Heimen kämen auch Ehrenamtliche ohne familiären Bezug in Frage. Anders als bei den minderjährigen Flüchtlingen haben Stadt und Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) hier keine Erfahrungswerte.

Neben Vormündern sucht die Stadt außerdem dringend Pflegeeltern. In Essen leben aktuell mehr als 700 Kinder in Pflegefamilien. Die meisten werden vom Jugendamt betreut, 63 betreut der SkF (Stand: Oktober 2023).

Mit dem SkF habe die Stadt einen erfahrenen Partner, der seit 2015 unbegleitete Flüchtlinge betreue, sagt Bluhm. In der Stadtgesellschaft habe sich die Willkommenskultur seither leider abgeschwächt. Dennoch gebe es noch viel Engagement, meint Hermans, er hoffe daher auf Menschen, „die sich zutrauen diese so wichtige Aufgabe zu übernehmen“. Am Donnerstag, 23. November, sind Neugierige zum Infoabend eingeladen. Dann wird auch die Aufgabe der Paten vorgestellt: Auch sie begleiten junge Menschen, haben aber weniger Verpflichtungen als die Vormünder.

71 Kinder unter 15 Jahren sind ohne Eltern nach Essen gekommen

Paten und Vormünder, die der SkF schon betreut, erleben die Aufgabe bei allen Herausforderungen als bereichernd. Weitere werden gesucht: Nahm das Jugendamt 2022 188 Flüchtlinge in Obhut, waren es dieses Jahr bereits 266. Und: 71 von ihnen waren noch keine 15 Jahre alt – und hatten schon Abschied von zu Hause und Flucht hinter sich.

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