Bochum. Esther Münch hat sich im Ruhrgebiet fremd gefühlt. Sie war sich sicher, dass sie weggeht. Stattdessen erkennt sie ihre Heimat nun sogar am Geruch.

Es ist nicht leicht, lustig zu sein. Esther Münch macht das beruflich: Sie ist Kabarettistin. Seit 29 Jahren, 140 Auftritte im Jahr. Die Menschen lachen über sie. Aber die Bochumerin zweifelt: Bin ich gut genug? Solche Gedanken seien wohl typisch für Künstler. „Aber ich hatte das schon als Kind: Ich musste immer kämpfen, um stark zu sein“, sagt sie.

Wir treffen Esther Münch in Bochum in den Stadtteilen Linden und Dahlhausen für das Videoformat Wegbier. Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet spazieren mit uns durch ihre Stadt, zeigen uns besondere Orte und erzählen ihre Geschichte.

„Machst du mich ma ne gemischte Tüte“

Die Frau am Lindener Büdchen trägt einen grasgrünen Kittel und Kopftuch. Sie steht leicht vorgebeugt und kommt ihrem Gegenüber beim Sprechen sehr nah. „Refik, machst du mich ma ne gemischte Tüte“, ruft sie dem Kioskbesitzer zu. Dann winkt sie einem vorbeigehenden Mann zu. „Guten Morgen“, brüllt sie ihm hinterher. „Datt is mein Stadtteil“, sagt sie und lacht. Hier kennt sie jeden.

Esther Münch Wegbier
Die Putzfrau Waltraud (Wally) Ehlert ist die Paraderolle der Bochumer Kabarettistin Esther Münch.  © Hans & Franz Filmproduktion | Hans & Franz Filmproduktion

Esther Münch schlüpft als Putzfrau Waltraud (Wally) Ehlert in ihre Paraderolle. Die Figur sei für sie „golden“. „Sobald man diesen Kittel anzieht und das Kopftuch aufsetzt, darf man frech sein, darf unverschämt sein, darf Dinge direkt beim Namen nennen“, zählt sie auf. Weil die Figur der Putzfrau Wally so angelegt sei, schaue sie immer auf den Bodensatz der Gesellschaft.

„Im Ruhrgebiet gibt es noch Menschen, die so sind wie Wally“, erzählt die 65-Jährige. Der Kleidungsstil ihre Figur passe allerdings eher in die 70er Jahre. Damals hätten viele Frauen Kittel und Kopftuch bei der Arbeit getragen. Das habe sich heute geändert. Die Welt sei bunter geworden. „Das Schöne ist, dass ich mit den Programmen die Oma wie die Enkelin erreiche – die finden es alle komisch.“

Esther Münch findet Inspiration an der Bude

Viele Wörter, die die Wally benutzt, habe sie selbst nicht erfinden können. „Die sind mir an einer Bude geschenkt worden“, erzählt sie. Hier seien alle nah beieinander. Wenn die Handwerker sich Kaffee und Brötchen holen, Rentner ihre Zeitung kaufen und Schüler sich eine gemischte Tüte füllen lassen, steht Münch dabei und saugt auf. Sie hat ein kleines Notizbuch, in dem sie Wörter und Momente notiert.

Ihr Talent, Menschen zum Lachen zu bringen, sieht Münch zunächst nicht als Stärke, geschweige denn als Beruf. Schon als Kind ist sie der Klassenclown. „Ich habe Unsicherheiten und Nervosität schon immer hinter Spaß versteckt“, sagt sie.

Auf Wunsch ihrer Eltern studiert Münch „etwas Vernünftiges“: Lehramt. Ihr Studium finanziert sie mit Sozialarbeit. Sie gründet eine Familie. Das Referendariat traut sie sich mit kleinem Kind nicht zu, „zumal gleichzeitig meine Ehe in die Brüche ging.“ Sie arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, schreibt Bewerbungen, aber eine volle Stelle bekommt sie nicht. Also fragt sie sich: „Was kannst du alleine machen, was kreativ ist?“

Früher hasst der Sohn den Job seiner Mutter

An der Hochschule hat sie Improvisationstheater gespielt und Figuren auf der Straße ausprobiert. Die Rolle als Reinigungskraft kommt besonders gut an. „Gib ihr einen Namen, gib ihr ein Leben“, denkt sie sich. So wird Kabarett neben der Sozialarbeit zu ihrem Beruf. Leicht ist auch das nicht. „Als mein Sohn im Grundschulalter war, hat er gehasst, was ich mache.“ Sie habe ihm erklärt, dass sie sonst aber kein Lego kaufen könne.

Das ist lange her. Inzwischen ist Münch Großmutter. Im Oktober feiert sie mit ihrem 20. Solo-Bühnenprogramm Premiere.   

„Ich bilde mir ein, dass ich riechen kann, ob ich zu Hause bin oder nicht“, sagt Münch, während sie durch ihren Stadtteil Dahlhausen läuft. Hier endet die Straßenbahn 318 in der Fußgängerzone. Fachwerkhäuser stehen neben schieferverkleideter Kneipe, ein Blumenladen öffnet gegenüber der Sparkasse. Unbekannte haben einen gehäkelten Frosch und einen Tintenfisch auf Pollern platziert. Ein altes Fahrrad ist mit Kisten voller Petunien geschmückt. Bochum riecht ein bisschen nach Staub, aber auch nach Blumen und vor allem nach Lindenblüten, meint Münch.  

Kabarettistin hat „dicke Wurzeln“ im Ruhrgebiet entwickelt

Als Kind fühlte sie sich fremd – in der Stadt wie in der Familie. Sie sei ein sehr lebhaftes und damit anstrengendes Kind gewesen und habe irgendwie nicht reingepasst. Sie war sich sicher, dass sie das Ruhrgebiet verlässt. Passiert sei das aber nie. „Ich habe hier dicke Wurzeln entwickelt und lebe wirklich sehr gerne hier.“

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Vom Betreiber des Anadolu Lebensmittel-Ladens nahe der Straßenbahn-Endstation hat sie die Telefonnummer. „Meinen türkischen Dealer“ nennt sie ihn. Sie ordert überreife Aprikosen vom Großmarkt, um Marmelade zu kochen. Im Laden gebe es die besten Gurken, scharfe und milde Köfte oder Sesamkringel.

Rechte hetzen im Internet gegen Künstlerin

Wann immer möglich, backt und kocht die 65-Jährige. „Heile kochen“, nennt sie das. Sie brauche das als Ausgleich, weil sie die aktuelle Zeit als sehr herausfordernd empfinde. „Wir haben einen riesigen Rechtsruck, das macht mir Sorge“, sagt Münch. Sie bezieht nicht nur als Wally, sondern auch als Esther Münch Stellung. „Meine Mutter hat Angst, dass mir das Auto zerstört wird oder die Hunde vergiftet werden“, sagt sie. Sie selbst fürchte sich nicht, auch wenn schon seit mehreren Jahren Rechte im Internet gegen sie hetzen. „Wenn die Menschen nach dem Programm zu mir kommen und sagen: Ich finde Sie ja immer lustig, aber ich denke dann noch Tage darüber nach – dann habe ich mein Ziel erreicht.“

Esther Münch Wegbier
Traum für „in zehn Jahren“: Im historischen Bahnhof Dahlhausen würde Esther Münch gern einen Kiosk betreiben. Sie könnte sich vorstellen, Soleier und Frikadellen zu verkaufen. © Hans & Franz Filmproduktion | Hans & Franz Filmproduktion

Einen Traum oder wie sie selbst sagt „eine Spinnerei für so in zehn Jahren“ hat Münch auch: Für den denkmalgeschützten Bahnhof Dahlhausen hat sie einen Schlüssel. Die Stadt Bochum sucht seit längerem einen Pächter für das historische Gebäude. Kulturschaffende dürfen den großen Wartebereich für Veranstaltungen nutzen. In der Ecke steht ein bewegbarer, hölzerner Kasten, der früher eine Buchhandlung war. „Mein Traum ist es, daraus einen Kiosk zu machen“, sagt sie. Dann will sie typische Pott-Speisen anbieten: Soleier und Frikadellen.

Auf ein Wegbier – Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet

Zehn Frauen, zwei Getränke, ein Weg: Im neuen Video-Format Wegbier trifft sich Anne Krum, Chefredakteurin Digital, in zehn Folgen mit Frauen aus dem Ruhrgebiet. Sie starten am Kiosk. Mit einem Getränk in der Hand gehen sie zu prägenden Orten oder Lieblingsplätzen. Auf dem Weg erzählen die Frauen ihre Geschichten. Was treibt sie an, was um?

Kampfsportlerin Mandy Böhm trinkt in der ersten Folge (ab 13. September) kein Bier, aber Kaffee. Beim Streifzug durch Gelsenkirchen erzählt sie, warum sie zwar nicht so aussieht, sie sich selbst aber für ein „Monster“ hält.

In der zweiten Folge erzählt Sängerin Marie Wegener, warum sie trotz Morddrohung und Hassnachrichten an ihrem Traum arbeitet: auf großen Bühnen zu stehen mit ihrer eigenen Musik.

Die Kabarettistin Esther Münch hat ihre Heimat derartig lieben gelernt, dass sie fest davon überzeugt ist, ihre Heimat riechen zu können. In der dritten Folge führt sie durch ihre Heimat Bochum.

In der vierten Folge berichtet die frühere Spitzensportlerin und Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wie sie auf den Straßen von Duisburg das Kicken erlernte und warum ihre Mutter dagegen war, dass sie im Verein spielt. Sie erzählt auch, wie sie durch ihre Erkrankung ihren Job nicht mehr machen konnte.

In der fünften Folge erzählt Fernsehmoderatorin und Autoverkäuferin Panagiota Petridou, dass sie ihre Menschenkenntnis vor allem in der Kneipe ihrer Eltern gewonnen hat. Mutter und Vater sind als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Nordrhein-Westfalen gekommen.

In der sechsten Folge stellt Jasmin Wolz ihren Alltag als Feuerwehrfrau in Bochum vor. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen, die diesen Job ergreifen. Sie berichtet, dass sie als Jugendliche „das Männer-Ding“ Feuerwehr abstoßend fand und wie sie nun ihren Traumjob gefunden hat.

In der siebten Folge gesteht Oberärztin Dagny Holle-Lee: „Das Ruhrgebiet war am Anfang ein Schock“. Wie sie als eine der Top-Spezialistinnen für Kopfschmerzen ihre Medizin aus Essen heraus betreibt, erzählt sie im Video.

Die seit ihrer Geburt blinde Sängerin Cassandra Mae aus Duisburg erreicht Millionen mit ihrer Musik. Selbst der indische Premier ist ein Fan.

„Ich habe relativ vielen Menschen geholfen zu kündigen,“ sagt Britta Cornelißen. Sie arbeitet als Female Empowerment Coach und setzt sich für einen Mutterschutz für alle ein. Aufgewachsen ist sie in Gladbeck.

In der zehnten Folge: DJ Rubiga Murugesapillai.

Die Folgen erscheinen wochenweise neu auf unserer Wegbier-Formatseite.