Duisburg. Nationaltrainerin zu sein ist für Martina Voss-Tecklenburg „das Größte“. Mit ihrer Erkrankung verliert sie den Job: „Es war wie ein Stecker ziehen.“

Die Stollen der Fußballschuhe klackern auf dem Bordstein. Das Mädchen, das damals manche für einen Jungen halten, liebt dieses Geräusch. So wie den Sport: „Ich wollte einfach nur Fußball spielen“, sagt Martina Voss-Tecklenburg.

Irgendetwas zum Kicken findet sie immer: einen Stein, ein Stück Kohle, einen richtigen Ball. Die Tore sind Teppichstangen zwischen den Reihen der Mietshäuser in Duisburg-Meiderich. Die Kinder nennen ihre Mannschaften nach den Straßen, in denen sie leben. Voss-Tecklenburg spielt für die Bronkhorststraße. Im Team zu sein, reicht ihr nicht: „Ich wollte als erste gewählt werden.“

Wir treffen die ehemalige Spitzensportlerin und frühere Trainerin der Frauen-Nationalmannschaft am Kiosk Toto in Duisburg. Im Videoformat „Wegbier“ zeigen uns zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet die Orte, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Unterwegs erzählen sie ihre Geschichte.

Als Schülerin hat Voss-Tecklenburg an diesem Büdchen für 50 Pfennig Wassereis gekauft. Wenige hundert Meter weiter steht das Haus, in dessen Obergeschoss ihre Eltern bis heute leben. Der Vater arbeitet in den 70er Jahren im nahen Thyssen-Werk in Wechselschicht. Fünf Geschwister teilen sich zwei Zimmer. „Es war eine total glückliche Kindheit“, sagt sie. In der Familie habe es klare Regeln gegeben, aber auch viel Freiraum.

Martina Voss-Tecklenburg: „Ich war eine Straßenfußballerin“

Voss-Tecklenburg ist ständig draußen: „Ich war eine Straßenfußballerin.“ Auf dem benachbarten Hof der Hauptschule spielt sie gegen Jungen und Mädchen, egal wie alt oder wie groß sie sind. „Da musste ich mich durchsetzen“, erinnert sie sich.

Mit elf Jahren erkennt ein Trainer im Schwimmbad ihr Talent für Fußball. Doch ihre Mutter will nicht, dass sie im Verein spielt. „Fußball ist nichts für Mädchen“, sagt sie. Sie sei zu klein und zart. Was könnten die Nachbarn sagen, sorgt sich die Mutter.

Für ihre Mutter habe es das Bild eines fußballspielenden Mädchens nicht gegeben, erinnert sich Martina Voss-Tecklenburg (links).
Für ihre Mutter habe es das Bild eines fußballspielenden Mädchens nicht gegeben, erinnert sich Martina Voss-Tecklenburg (links). © Hans & Franz Film und TV-Produktion | Hans & Franz Film und TV-Produktion

Ein Sportlehrer ihres Gymnasiums fährt Voss-Tecklenburg ein paar Jahre später heimlich zum Probetraining des KBC Duisburg. Sie ist 15 Jahre alt, als ihre Mutter zustimmt und sie im Frühjahr 1983 ihr erstes Spiel bestreitet. Von da an stürmt sie von Erfolg zu Erfolg: Noch im Sommer 1983 wird sie Pokalsiegerin. 1984 ist sie Nationalspielerin, 17 Jahre lang. Sie wird mehrmals Deutsche Meisterin und Europameisterin, spielt 1996 bei den Olympischen Spielen.

Mit 26 Jahren bekommt Voss-Tecklenburg eine Tochter, die sie allein großzieht. Ihre Familie unterstützt sie. Sechs Wochen nach der Geburt steht sie wieder auf dem Platz. Sie sei auch einfach ein bisschen verrückt gewesen, sagt Voss-Tecklenburg und lacht.

Weil professionelle Strukturen für Frauen fehlen, gestaltet Voss-Tecklenburg den Aufbau mit.  „Ich war eine Pionierin“, blickt Voss-Tecklenburg zurück. Die Bundesliga entsteht erst 1990, die Europapokal-Premiere steigt noch mal elf Jahre später. Auch Spielerinnen auf höchstem Niveau haben einen Job, weil sie kein oder nur wenig Geld verdienen. . „Wir waren Profis von unserer Einstellung her“, sagt sie.

Die Trainingsbedingungen seien schlechter als bei den Männern gewesen. „Wir hatten die gleiche Liebe und Leidenschaft und vielleicht sogar noch ein Stückchen mehr, weil wir viel mehr investieren mussten, um auch Fußball spielen zu dürfen.“

An der Sportschule Wedau Trainerlizenzen erworben

An der Sportschule Wedau hat die 56-Jährige vor vielen Jahren Trainerlizenzen erworben. Viele Lehrgänge und Talentsichtungen finden auf dem Gelände statt. Heute laufen Gruppen von jungen Männern in Sportkleidung und mit Stollenschuhen über den Pflasterweg hin zu den frisch gemähten Trainingsplätzen. Sie blicken Voss-Tecklenburg hinterher und tuscheln. An der Sportschule als Verbandssportlehrerin zu arbeiten, sei ein großes Privileg gewesen. „Es gibt nichts Schöneres, als die jungen Menschen hier auf dem Fußballplatz zu sehen, mit ihren leuchtenden Augen“, schwärmt sie.

Auf dem Trainingsgelände der Sportschule Wedau tritt Martina Voss-Tecklenburg wieder gegen den Ball. Hier hat sie als Verbandssportlehrerin in der Talentsichtung gearbeitet.
Auf dem Trainingsgelände der Sportschule Wedau tritt Martina Voss-Tecklenburg wieder gegen den Ball. Hier hat sie als Verbandssportlehrerin in der Talentsichtung gearbeitet.

„Es ist das Größte, als Bundestrainerin in deinem Land zu arbeiten“

Als Trainerin gewinnt sie 2009 mit dem FCR 2001 Duisburg die Champions League und arbeitet für die Schweizer Frauen-Nationalmannschaft. Dann kommt der Anruf aus Deutschland. „Es ist das Größte, wenn du Bundestrainerin in deinem Land sein darfst.“ Sie überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Frauenfußball nun bekommt. Den zweiten Platz bei der Europameisterschaft 2022 feiern die Deutschen euphorisch. Solche Erfolge müsse man einordnen können. Viele Menschen seien daran beteiligt – genauso wie an einem Misserfolg. „Aber dann hältst du als Trainer den Kopf oft allein hin“, sagt sie. Damit umzugehen habe sie lernen müssen.

Das Scheitern kommt bei der Weltmeisterschaft 2023. Deutschland scheidet in der Vorrunde aus. Die Trainerin erkrankt an psychischer Erschöpfung: „Es war wie ein Stecker ziehen“, sagt Voss-Tecklenburg. „Auf einmal war nichts mehr von dem da, was mich ausmacht.“ Sie habe ein permanentes Schlafdefizit gehabt. Jahrzehnte lang habe sie immer funktioniert. Jetzt nicht mehr.

Voss-Tecklenburg nach Ausstieg als Bundestrainerin: „Bin ohne Groll“

Sie will zurück, weil es genau der Job ist, den sie liebt. Aber sie merkt, dass sie das nicht kann: „Genau in dem Moment, wo ich als Führungskraft hätte da sein und den Spielerinnen Energie geben müssen, wo ich vorneweg marschieren und eine neue Strategie hätte ausgeben müssen, konnte ich es nicht, weil nichts da war.“

Kritik erntet Voss-Tecklenburg dafür, dass sie während ihrer Krankschreibung bei einem Kongress einen Vortrag hält. Der Deutsche Fußball-Bund und die Trainerin lösen den Vertrag im November 2023 auf. Sie habe sich mehr Verständnis gewünscht, aber sei ohne Groll. „Das ist wie im Fußball: Du steckst eine Niederlage ein und musst direkt wieder nach vorne gucken“, sagt sie.

Ihr geht es jetzt wieder gut. Sie hat Zeit gebraucht, viele Gespräche mit Ärzten, Freunden und Familie geführt. Sie ist nun wieder bereit für neue Projekte.   

Seit einigen Jahren lebt Voss-Tecklenburg am Niederrhein. Ihre Heimat aber ist das Ruhrgebiet. „Wir sind direkt und sehr klar und stehen zusammen“, sagt sie. Das habe sie sehr geprägt – auch als Führungsperson. Mit ihrer Art ecke sie zwar auch an. „Aber mir ist es wichtig, offen, ehrlich und transparent zu sein – und das kann ich hier sein.“  

Auf ein Wegbier – Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet

Zehn Frauen, zwei Getränke, ein Weg: Im neuen Video-Format Wegbier trifft sich Anne Krum, Chefredakteurin Digital, in zehn Folgen mit Frauen aus dem Ruhrgebiet. Sie starten am Kiosk. Mit einem Getränk in der Hand gehen sie zu prägenden Orten oder Lieblingsplätzen. Auf dem Weg erzählen die Frauen ihre Geschichten. Was treibt sie an, was um?

Kampfsportlerin Mandy Böhm trinkt in der ersten Folge (ab 13. September) kein Bier, aber Kaffee. Beim Streifzug durch Gelsenkirchen erzählt sie, warum sie zwar nicht so aussieht, sie sich selbst aber für ein „Monster“ hält.

In der zweiten Folge erzählt Sängerin Marie Wegener, warum sie trotz Morddrohung und Hassnachrichten an ihrem Traum arbeitet: auf großen Bühnen zu stehen mit ihrer eigenen Musik.

Die Kabarettistin Esther Münch hat ihre Heimat derartig lieben gelernt, dass sie fest davon überzeugt ist, ihre Heimat riechen zu können. In der dritten Folge führt sie durch ihre Heimat Bochum.

In der vierten Folge berichtet die frühere Spitzensportlerin und Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wie sie auf den Straßen von Duisburg das Kicken erlernte und warum ihre Mutter dagegen war, dass sie im Verein spielt. Sie erzählt auch, wie sie durch ihre Erkrankung ihren Job nicht mehr machen konnte.

In der fünften Folge erzählt Fernsehmoderatorin und Autoverkäuferin Panagiota Petridou, dass sie ihre Menschenkenntnis vor allem in der Kneipe ihrer Eltern gewonnen hat. Mutter und Vater sind als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Nordrhein-Westfalen gekommen.

In der sechsten Folge stellt Jasmin Wolz ihren Alltag als Feuerwehrfrau in Bochum vor. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen, die diesen Job ergreifen. Sie berichtet, dass sie als Jugendliche „das Männer-Ding“ Feuerwehr abstoßend fand und wie sie nun ihren Traumjob gefunden hat.

In der siebten Folge gesteht Oberärztin Dagny Holle-Lee: „Das Ruhrgebiet war am Anfang ein Schock“. Wie sie als eine der Top-Spezialistinnen für Kopfschmerzen ihre Medizin aus Essen heraus betreibt, erzählt sie im Video.

Die seit ihrer Geburt blinde Sängerin Cassandra Mae aus Duisburg erreicht Millionen mit ihrer Musik. Selbst der indische Premier ist ein Fan.

„Ich habe relativ vielen Menschen geholfen zu kündigen,“ sagt Britta Cornelißen. Sie arbeitet als Female Empowerment Coach und setzt sich für einen Mutterschutz für alle ein. Aufgewachsen ist sie in Gladbeck.

In der zehnten Folge: DJ Rubiga Murugesapillai.

Die Folgen erscheinen wochenweise neu auf unserer Wegbier-Formatseite.