Gelsenkirchen. Kampfsportlerin Mandy Böhm sagt von sich: „Ich bin ein Monster.“ Und das lässt sie raus, um andere Frauen zu stärken – auch wenn es weh tut.
„Ich bin bereit, dir weh zu tun“, sagt die junge Frau. Im T-Shirt, weiter Jeans und weißen Sportsocken steht sie auf der Matte. Sie hat sich dezent geschminkt: die Wimpern getuscht, den Lippenstift passend zu den roten Fingernägeln aufgetragen. Ihre braunen Haare trägt sie zum Zopf geflochten. „Auch wenn du bluten würdest, würde ich nicht aufhören“, sagt sie.
Wir treffen Mandy Böhm für unser neues Format „Wegbier“. Ausgestattet mit einem Getränk vom Kiosk zeigen uns zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet die Orte, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Dabei erzählen die Frauen von ihrem persönlichen Weg.
Mit Mandy Böhm sind wir in Gelsenkirchen-Buer unterwegs. Die 35-Jährige ist frühere Weltmeisterin im Mixed Martial Arts (MMA), den gemischten Kampfkünsten. Die Sportart vereint Elemente von Ringen, Judo, Boxen und anderen Kampfstilen. Schlagen und Treten ist erlaubt, auch wenn der Gegner schon am Boden liegt.
Mandy Böhm: „Aus Gelsenkirchen wollte ich so schnell wie möglich verschwinden“
Vor ein paar Jahren hat dieser Sport Böhm fortgeführt – weg aus ihrer Heimat. „Gelsenkirchen war der Ort, aus dem ich als Teenager so schnell wie möglich verschwinden wollte“, erinnert sie sich. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie. Ihre Mutter war alleinerziehend und arbeitete Vollzeit. „Ich war sehr früh auf mich allein gestellt“, sagt sie.
Die Gesamtschule Buer Mitte sei ihr „safe space“ gewesen, ihr sicherer Ort mit einer festen Struktur. Als Kind sei sie nicht immer so diszipliniert gewesen, sich ihr Schulbrot selbst zu schmieren und ihre Mutter habe dafür keine Zeit gehabt. „Wenn du dann diejenige bist mit dem knurrenden Magen, dann freust du dich, wenn du in einer Struktur bist, in der du dir was kaufen kannst.“ Sie habe das Gefühl gehabt, dass die Lehrer auf sie Acht geben. „Das war für mich als Kind sehr, sehr wichtig.“
Während der Schulzeit entwickelt die Gelsenkirchenerin ihre Leidenschaft für Sport. Zunächst geht sie zum Turnen. Jeden Tag. „Schon als ich ein kleines Kind war, hatte ich so den Traum in meinem Kopf, einmal die Beste der Welt in etwas zu sein - für einen kleinen Moment.“
Es ist der Kampfsport, der sie als junge Frau erst nach Irland bringt, um mit der Weltspitze zu trainieren. Dann nach Kanada, wo sie sich den Weltmeister-Titel holt. Schließlich nach Las Vegas, um als Profi-Kämpferin zu arbeiten.
Und jetzt: zurück nach Gelsenkirchen.
„Ich sehe nicht aus wie ein Monster, aber ich bin eines“
Vor wenigen Wochen hat sie zusammen mit ihrem Mann eine Kampfsportschule eröffnet: die Monster Academy. Das „Monster“ hat sie aus ihrem Nickname übernommen, den sie bei ihren Kämpfen nutzt. Mandy Monster Böhm. Sie spiele mit dem Begriff. „Ich sehe nicht aus wie ein Monster, aber ich bin eines“, sagt sie und lacht. Dann wird sie ernst: „Jeder hat Angst vor einem Monster – und wenn du selbst eines bist, musst du dich vor nichts mehr fürchten.“
Wenn sie kämpfe, dann mache etwas „Klick“ in ihrem Kopf. „Ich bin dann bereit, mir mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, diesen Sieg zu holen“, erklärt sie. Allerdings: „Auf höchstem sportlichen Niveau“. Dazu gehöre es auch, Gewalt anzuwenden.
Sie hat sich in ihrer Kampfsportschule einen Käfig bauen lassen, ein Oktagon, knapp sechs Meter im Durchmesser. Der Boden ist mit schwarzen Matten ausgelegt. Von der Decke baumeln Boxsäcke. Im Eingangsbereich gibt es eine Wand voller Pflanzen und eine Lounge-Ecke. Böhm lässt den Blick durch die Halle schweifen. Sie hat sich viele Gedanken über das Design gemacht. Sie will, dass auch Kinder und Frauen in ihre Kampfschule kommen und sich sofort wohl und sicher fühlen.
Spezielles Training: Frauen über Kampfsport stärken
Böhm trainiert Jungen und Mädchen ab drei Jahren, gibt Anti-Gewalt-Kurse für Schüler und engagiert sich bei den Fearless Females, einer Initiative für die Rechte von Frauen, gegen Gewalt und Diskriminierung. „Es ist mein Herzensprojekt, Frauen über Kampfsport zu stärken und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen“, erklärt sie. Jeden Freitag verbannt sie die Männer von der Matte. Dann können die Frauen allein trainieren, Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten aufbauen.
Seit sie wieder in Gelsenkirchen lebt, ist Böhm aufs Profi-Boxen umgestiegen. Aktuell bereitet sie sich auf ihren nächsten Profi-Wettkampf vor, der am 21. September in Bonn stattfindet. Neben Training heißt das vor allem: Gewicht herunterkriegen, jedes Stück Nahrung genau abwägen, Kalorien zählen. Das macht Böhm schlechte Laune. Sie sagt aber auch: „Ich will mich bestmöglich vorbereiten auf diesen Kampf.”
Als MMA-Profi nach Gelsenkirchen zurückzukehren, sei keine Option gewesen. Anders als Boxen lasse sich der Sport in Deutschland nicht auf dem hohen Level betreiben. Erst recht gehe das nicht zusammen mit dem Aufbau der Akademie.
Wunsch, eine Familie in Gelsenkirchen zu gründen
„Für mich war es Zeit, nach Hause zu kommen“, sagt die 35-Jährige. Noch fokussiere sie sich auf den Sport, aber sie wolle Kinder haben. Es sei ihr wichtig, erfolgreich zu sein, um dann sagen zu können: „Ich bin keine Kämpferin mehr, ich habe eine Familie gegründet und verpasse nichts.“
Ihr eigenes Ding aufziehen, später Kinder bekommen – das wolle sie in Gelsenkirchen tun. „Das ist der Ort, der mich zu der gemacht hat, die ich bin“, sagt sie. Durch ihre Zeit im Ausland habe sie verstanden, was Heimat bedeute. Die Leute in der Stadt seien besonders. Sie trügen ihr Herz auf der Zunge. Zusammenhalt werde hier großgeschrieben.
„Das Motto ist: Make Gelsenkirchen great again“
Böhm lässt ihren rechten Arm nach vorne schnellen, ballt die Hand zu einer Faust: „Das Motto ist: Make Gelsen great again“, sagt sie. Gelsenkirchen wieder groß machen. „Diese Stadt ist der Ort, an dem ich ein Stück bessere Welt hinterlassen will, als ich sie vorgefunden habe.“
Auf ein Wegbier – Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet
Zehn Frauen, zwei Getränke, ein Weg: Im neuen Video-Format Wegbier trifft sich Anne Krum, Chefredakteurin Digital, in zehn Folgen mit Frauen aus dem Ruhrgebiet. Sie starten am Kiosk. Mit einem Getränk in der Hand gehen sie zu prägenden Orten oder Lieblingsplätzen. Auf dem Weg erzählen die Frauen ihre Geschichten. Was treibt sie an, was um?
Kampfsportlerin Mandy Böhm trinkt in der ersten Folge (ab 13. September) kein Bier, aber Kaffee. Beim Streifzug durch Gelsenkirchen erzählt sie, warum sie zwar nicht so aussieht, sie sich selbst aber für ein „Monster“ hält.
In der zweiten Folge erzählt Sängerin Marie Wegener, warum sie trotz Morddrohung und Hassnachrichten an ihrem Traum arbeitet: auf großen Bühnen zu stehen mit ihrer eigenen Musik.
Die Kabarettistin Esther Münch hat ihre Heimat derartig lieben gelernt, dass sie fest davon überzeugt ist, ihre Heimat riechen zu können. In der dritten Folge führt sie durch ihre Heimat Bochum.
In der vierten Folge berichtet die frühere Spitzensportlerin und Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wie sie auf den Straßen von Duisburg das Kicken erlernte und warum ihre Mutter dagegen war, dass sie im Verein spielt. Sie erzählt auch, wie sie durch ihre Erkrankung ihren Job nicht mehr machen konnte.
In der fünften Folge erzählt Fernsehmoderatorin und Autoverkäuferin Panagiota Petridou, dass sie ihre Menschenkenntnis vor allem in der Kneipe ihrer Eltern gewonnen hat. Mutter und Vater sind als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Nordrhein-Westfalen gekommen.
In der sechsten Folge stellt Jasmin Wolz ihren Alltag als Feuerwehrfrau in Bochum vor. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen, die diesen Job ergreifen. Sie berichtet, dass sie als Jugendliche „das Männer-Ding“ Feuerwehr abstoßend fand und wie sie nun ihren Traumjob gefunden hat.
In der siebten Folge gesteht Oberärztin Dagny Holle-Lee: „Das Ruhrgebiet war am Anfang ein Schock“. Wie sie als eine der Top-Spezialistinnen für Kopfschmerzen ihre Medizin aus Essen heraus betreibt, erzählt sie im Video.
Die seit ihrer Geburt blinde Sängerin Cassandra Mae aus Duisburg erreicht Millionen mit ihrer Musik. Selbst der indische Premier ist ein Fan.
„Ich habe relativ vielen Menschen geholfen zu kündigen,“ sagt Britta Cornelißen. Sie arbeitet als Female Empowerment Coach und setzt sich für einen Mutterschutz für alle ein. Aufgewachsen ist sie in Gladbeck.
In der zehnten Folge: DJ Rubiga Murugesapillai.
Die Folgen erscheinen wochenweise neu auf unserer Wegbier-Formatseite.