Gladbeck. Wer zu Business-Coach Britta Cornelißen kommt, in dem brodelt es oft schon lange. Wie die 37-Jährige anderen hilft - und selbst mit einem Verlust umgeht.

Mitten in der Kinderabteilung sagt Britta Cornelißen diesen Satz: „Wir haben ein Baby verloren.“ Eben noch hatte sie ihre Finger über die bunten Bilderbücher in den Regalen gleiten lassen. Jetzt steht sie in der Leseecke der Gladbecker Stadtbibliothek, die mit Kissen und einem Holzelefanten ausstaffiert ist. Ihre Stimme dämpft sie kein bisschen. „Ich möchte, dass man darüber reden kann, auch wenn es super traurig und emotional ist“, sagt sie.

Die 37-Jährige will, dass das „Tabuthema“ eine Öffentlichkeit bekommt. Etwa jede dritte Schwangerschaft endet mit einer Fehlgeburt. Betroffene bleiben mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz oft im Verborgenen. Vielen Menschen falle es schwer, über Tod und Verlust zu sprechen, hat Cornelißen festgestellt. Ihr selbst habe Offenheit geholfen, mit der Situation umzugehen.

Britta Cornelißen Wegbier
Vor einem Jahr hat Britta Cornelißen (rechts) ein Kind verloren. Sie geht damit offen um, weil sie dem "Tabuthema" eine Öffentlichkeit verschaffen will. Sie engagiert sich auch im Verein "Mutterschutz für alle", berichtet sie Anne Krum (links) im Videoformat Wegbier.  © Hans & Franz Filmproduktion | Hans & Franz Filmproduktion

Wir treffen Britta Cornelißen für unser Videoformat „Wegbier“ in ihrer Heimatstadt Gladbeck. Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet starten mit uns an einem Kiosk und zeigen uns die Orte, die für sie eine besondere Bedeutung haben. Auf dem Weg erzählen sie ihre Geschichte.

In einem großen, grauen Transporter fährt Cornelißen vor. „Coachinglab745“ steht an der Seitentür. Dahinter verbirgt sich ihr rollendes Büro: Der Boden des Vans ist mit Retro-Fliesen ausgelegt. Schränke und Arbeitsflächen sind aus hellem Holz. Eine drehbare Sitzecke ist eingebaut.

Britta Cornelißen ist Female Empowerment Coach: „Das Female kann ich nicht weglassen“

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Vor fünf Jahren hat sich Cornelißen als Beraterin für Menschen in schwierigen Lebens- und Berufssituationen selbstständig gemacht. Ihren Job bezeichnet sie als „Female Empowerment Coach“: „Ich befähige Menschen dazu, sich selbst zu helfen.“ Das „Female“ könne sie aus ihrer Job-Beschreibung nicht weglassen. Zu groß seien die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. „Die meisten meiner Klientinnen haben explizit nach einer Frau gesucht, um sich unterstützen zu lassen, weil sie sich nicht vorstellen könnten, dass alle diese strukturellen Probleme von einem Mann so erfasst werden können wie eben von einer Frau, die das natürlich selbst auch erlebt hat oder erlebt.“

Mit vielen Klientinnen arbeitet Cornelißen rein virtuell zusammen. Manche Beratungsgespräche führt sie aber auch irgendwo in der Natur in ihrem Van. „Ich verhelfe vergleichsweise vielen Menschen dazu zu kündigen“, sagt sie und lacht. In denen brodele es meist schon länger. Sie kämen mit dem Gefühl, etwas ändern zu müssten. Sie bräuchten dann die Unterstützung, ihre Wünsche zu sortieren und den nächsten Schritt zu gehen.  

Britta Cornelißen
Zu Gast im rollenden Büro: Britta Cornelißen (links) hat zusammen mit ihrem Mann einen Werkstattwagen umgebaut. Hier findet auch mal ein Coachinggespräch statt. Das Foto ist beim Dreh für das Videoformat Wegbier mit Anne Krum (rechts) entstanden.  © Hans & Franz Filmproduktion | Hans & Franz Filmproduktion

Frauen leiden oft an mangelnder Sichtbarkeit

Auch fehlende Sichtbarkeit im Berufsumfeld ist für viele Frauen ein Thema. „Du brauchst einen Scheinwerfer. Den habe ich im übertragenen Sinne in der Hand und richte ihn auf die Frauen oder meine Klientinnen aus.“, beschreibt sie ihr Vorgehen.

Cornelißen läuft über Kopfsteinpflaster an den hohen Backsteinmauern der St. Lamberti-Kirche vorbei durch die Gladbecker Innenstadt. Die Stadtbibliothek ist nur wenige Gehminuten entfernt . „Ich habe es geliebt, hier zu sein“, erinnert sich Cornelißen. Immer samstags kommt sie als Kind mit ihrem Vater und Bruder her. In Körben, die sie nicht mehr allein heben kann, stapelt sie damals Bücher zum Ausleihen.

In schwierigen Situationen taucht Britta Cornelißen in Bücher ab

Die große Liebe zu Büchern ist geblieben. „Auch wenn die Seiten muffig riechen: Lesen ist für mich mit Wissen und Freiheit verbunden.“ In schwierigen Situationen taucht sie ab zwischen den Buchseiten . Auch nach ihrer Fehlgeburt habe sie sehr viel darüber gelesen. Eine Ärztin habe ihr gesagt, das sei ein Schicksalsschlag gewesen und sie solle einfach weitermachen. „Damit wollte ich mich nicht abfinden“, sagt sie. Sie recherchiert intensiv und findet heraus, dass sie zu viel Histamin im Körper hat und ihre Ernährung umstellen muss. „Jetzt weiß ich, was los ist und was ich tun kann“, sagt sie. Das gebe ihr ein Stück Kontrolle zurück.  

„Für Selbstständige ist das existenzbedrohend“

Nach der Fehlgeburt informiert sie neben Familie und Freunden auch ihre Auftraggeberinnen, weil es ihr körperlich wie seelisch nicht gut ging. Nach kurzer Zeit arbeitet sie wieder. Während sich manche wundern, wie scheinbar taff sie mit dem Verlust umgeht, habe sie nicht anders gekonnt: „Für Selbstständige ist das sonst einfach existenzbedrohend.“

Schon nach der Geburt ihres ersten Sohnes spricht sie noch im Wochenbett wieder mit Kunden. „Als Selbstständige habe ich weder Anspruch auf Mutterschutz noch auf Krankengeld“, erklärt Cornelißen. Sie engagiert sich im „Verein Mutterschutz für alle“, um das zu ändern. „Dass es keine gesetzliche Regel gibt, die selbstständige Mütter schützt, ist ein krasser Missstand.“

Auch wenn es mit Job und Familie nicht immer einfach ist: Am liebsten würde sie weiter studieren und promovieren. Ihre große Lust am Lernen entsteht in der Schulzeit am Städtischen Ratsgymnasium. 18 Jahre nach dem Abitur steht sie vor ihrer alten Schule und blickt auf den denkmalgeschützten Backsteinbau, die Fenstereinfassungen aus Naturstein und Zierfiguren aus Tuffstein. Das Schulmotto „Vorwärts, aufwärts“ steht auf dem Sims der schweren Flügeltür am Schuleingang.

„Gladbeck war mir damals zu klein und eng“

Britta Cornelißen Wegbier
Britta Cornelißen arbeitet als Female Empowerment Coach. Sie sagt von sich - mit einem Lachen: "Ich verhelfe vielen Menschen dazu zu kündigen." Was sie damit meint, erzählt sie im Videoformat Wegbier. © Hans & Franz Filmproduktion | Hans & Franz Filmproduktion

„Hauptsache weg“ ist derweil das Motto für Cornelißen direkt nach dem Abitur. „Gladbeck war mir damals zu klein und eng“, erinnert sie sich. Sie will ins Ausland, absolviert ihr Tourismus-Studium in den Niederlanden und Irland. Sie lebt jahrelang in Berlin und arbeitet in der Hotelbranche. Nebenbei macht sie ihren Master in Wirtschaftspsychologie. „Wenn ich erzählt habe, dass ich aus dem Ruhrgebiet komme, haben Kommilitonen zu mir gesagt, dass wir ja nicht einmal die Wäsche draußen trocknen lassen könnten wegen der schlechten Luft“, berichtet sie. Dass es solche Vorurteile noch gibt, erstaunt sie.

Inzwischen empfindet sie das Ruhrgebiet als so spannend wie kaum eine andere Region. Mit ihrer kleinen Familie lebt sie am Niederrhein, ihre Eltern wohnen in Gladbeck. Beruflich ist sie oft in den Ruhrgebietsstädten unterwegs. Gerade für Gründerinnen sei die Region mindestens so attraktiv wie Berlin. Es gebe ein starkes Netzwerk. Sie ist überzeugt: „Hier passiert gerade richtig viel.“

Auf ein Wegbier – Zehn Frauen aus dem Ruhrgebiet

Zehn Frauen, zwei Getränke, ein Weg: Im neuen Video-Format Wegbier trifft sich Anne Krum, Chefredakteurin Digital, in zehn Folgen mit Frauen aus dem Ruhrgebiet. Sie starten am Kiosk. Mit einem Getränk in der Hand gehen sie zu prägenden Orten oder Lieblingsplätzen. Auf dem Weg erzählen die Frauen ihre Geschichten. Was treibt sie an, was um?

Kampfsportlerin Mandy Böhm trinkt in der ersten Folge (ab 13. September) kein Bier, aber Kaffee. Beim Streifzug durch Gelsenkirchen erzählt sie, warum sie zwar nicht so aussieht, sie sich selbst aber für ein „Monster“ hält.

In der zweiten Folge erzählt Sängerin Marie Wegener, warum sie trotz Morddrohung und Hassnachrichten an ihrem Traum arbeitet: auf großen Bühnen zu stehen mit ihrer eigenen Musik.

Die Kabarettistin Esther Münch hat ihre Heimat derartig lieben gelernt, dass sie fest davon überzeugt ist, ihre Heimat riechen zu können. In der dritten Folge führt sie durch ihre Heimat Bochum.

In der vierten Folge berichtet die frühere Spitzensportlerin und Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg, wie sie auf den Straßen von Duisburg das Kicken erlernte und warum ihre Mutter dagegen war, dass sie im Verein spielt. Sie erzählt auch, wie sie durch ihre Erkrankung ihren Job nicht mehr machen konnte.

In der fünften Folge erzählt Fernsehmoderatorin und Autoverkäuferin Panagiota Petridou, dass sie ihre Menschenkenntnis vor allem in der Kneipe ihrer Eltern gewonnen hat. Mutter und Vater sind als Gastarbeiter in den 60er Jahren nach Nordrhein-Westfalen gekommen.

In der sechsten Folge stellt Jasmin Wolz ihren Alltag als Feuerwehrfrau in Bochum vor. Sie ist eine von ganz wenigen Frauen, die diesen Job ergreifen. Sie berichtet, dass sie als Jugendliche „das Männer-Ding“ Feuerwehr abstoßend fand und wie sie nun ihren Traumjob gefunden hat.

In der siebten Folge gesteht Oberärztin Dagny Holle-Lee: „Das Ruhrgebiet war am Anfang ein Schock“. Wie sie als eine der Top-Spezialistinnen für Kopfschmerzen ihre Medizin aus Essen heraus betreibt, erzählt sie im Video.

Die seit ihrer Geburt blinde Sängerin Cassandra Mae aus Duisburg erreicht Millionen mit ihrer Musik. Selbst der indische Premier ist ein Fan.

„Ich habe relativ vielen Menschen geholfen zu kündigen,“ sagt Britta Cornelißen. Sie arbeitet als Female Empowerment Coach und setzt sich für einen Mutterschutz für alle ein. Aufgewachsen ist sie in Gladbeck.

In der zehnten Folge: DJ Rubiga Murugesapillai.

Die Folgen erscheinen wochenweise neu auf unserer Wegbier-Formatseite.