Essen. Der Innenminister war lange Europaabgeordneter. Im Interview erklärt er,was es braucht, um die EU attraktiver zu machen.
Am kommenden Sonntag sind die Wählerinnen und Wähler aufgerufen, ihre Stimme für Europa abzugeben. Es droht ein Rechtsruck im Europaparlament. Herbert Reul hält das für „extrem gefährlich“. Der NRW-Innenminister hat eine besondere Beziehung zum Europaparlament. Er war 13 Jahre Europaabgeordneter. Im NRZ-Interview erklärt er, was ihm Europa bedeutet und was getan werden muss, um die EU attraktiver zu machen.
Herr Reul, was bedeutet Europa für Sie?
Freiheit, Wohlstand, Frieden.
Sie haben dreizehn Jahre im Europaparlament gesessen. Was war Ihre prägendste Erfahrung?
Man kann als einzelner Abgeordneter viel erreichen, man wird aber auch mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, die man überwinden muss. Es gibt da Riesen-Apparate. Aber man ist nicht in Parteien- oder Fraktionsstrukturen eingebunden. Ich war Schattenberichterstatter (Berichterstatter setzen sich mit Gesetzesvorhaben der Kommission auseinander und bereiten Stellungnahmen für das EU-Parlament vor, die Red.) für ein Projekt zur Vorratsdatenspeicherung. Wir hatten uns auf eine Lösung geeinigt, die umgesetzt hätte werden können. Es ist eindrucksvoll, was man als Einzelner erreichen kann.
Das EU-Parlament gilt Vielen noch immer als Parkplatz für Politiker, die national keine Karriere machen oder als Abklingbecken für ausgediente Politiker. „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“, hieß es früher. Nicht Ihre Meinung, nehme ich an?
Das war mal so, ist aber nicht mehr richtig. Friedrich Merz war da und ist danach Bundestagsabgeordneter geworden. Es kommen immer mehr junge Leute ins Europaparlament. Mein Nachfolger Daniel Caspary hat großen Einfluss in unserem Landesverband in Baden-Württemberg. Das hat sich irre verändert. Es wird auch viel ernster genommen, das sieht man schon daran, wie um die Listenplätze für die Europawahl gekämpft wird.
Trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, das Europaparlament habe nicht sonderlich viel zu Sagen.
Als die europäischen Staats- und Regierungschefs sich kürzlich auf die Sicherung der EU-Außengrenzen verständigt haben, war die Zustimmung des EU-Parlaments sehr knapp. Hätte das Parlament dagegen entschieden, wäre es nicht so gekommen. Das Parlament hat heute eine ganz andere Macht als früher. Der Eindruck der Machtlosigkeit ergibt sich aus den Prozessen. Die EU-Kommission schlägt etwas vor, dann geht es in die Beratungen, also quasi ins Wahrnehmungs-Nirvana. Am Ende beschließen die Staats- und Regierungschefs. Aber der Einfluss dazwischen ist sehr groß. Dass wir bei Datenschutzfragen – siehe Vorratsdatenspeicherung – immer noch eine rigide Haltung haben, hat viel mit einer SPD-Abgeordneten aus NRW zu tun. Für mich ärgerlich, aber es zeigt, wie mächtig das Parlament ist.
Die Europawahl
- Ergebnisse:Wann wird es die ersten Hochrechnungen geben?
- Kandidaten: Die wichtigsten Kandidaten aus NRW
- Erstwähler:Wählen mit 16. Ist die Jugend bereit dafür?
- Meinung:Warum die AfD keine Alternative für Europa ist
Sie sagten, Europa bedeute für Sie Freiheit, Wohlstand, Frieden. Gleichwohl werden Parteien stärker, die die Uhren zurückdrehen und weniger anstatt mehr Europa haben wollen. Woher kommt der Unmut über Europa?
Ich weiß gar nicht, ob das so ist, weil Europa einen schlechten Ruf hat, oder ob das etwas mit dem Vertrauensverlust in Politik in den jeweiligen Ländern zu tun hat. Die AfD ist stark, weil das Vertrauen in den Staat zurückgeht. Wenn das in den anderen Ländern auch so ist, ist die Europaskepsis eher ein Nebenprodukt. Aber Europa kommt leider bei vielen Leuten auch als ein regulierungswütiger Apparat an. Wir verkennen aber oft, wie sinnvoll viele Regeln sind und wie sie unser Leben verbessern.
Wie gefährlich ist es in Zeiten der Globalisierung, dass Nationalisten auf dem Vormarsch sind und Europa zersplittert?
Das ist extrem gefährlich. Wenn das fundamental Verbindende verloren geht, dann kriegt man nichts mehr hin. Ich bin aber optimistischer. Seit dem Ukraine-Krieg ist Europa zusammengerückt. Wir hatten ja vorher einige, die ihren eigenen Kurs hatten. Jetzt kommen die Einschläge näher und sie merken, dass Europa nicht ganz unwichtig ist. Vielleicht müssen wir darüber diskutieren, was wir wollen. Einen Bundestaat? Oder eine Nummer kleiner? Vielleicht haben da zu viel reguliert, wo es für die Leute am nervigsten ist, im Lebensmittel- oder Umweltbereich. Vielleicht sollten wir uns mehr auf gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik konzentrieren. Das wäre glaubwürdiger als die berühmten Bananen-Normen. Das wäre für die Leute glaubwürdiger..
Was muss generell geschehen, damit das Vertrauen in Europa wieder wächst, damit die Idee Europa sexy wird?
Ich bin ein Fan von Projekten. Es muss an Projekten aufgehängt werden, die die Bürger und wichtig finden. Wenn wir mehr gemeinsame europäische Sicherheitspolitik hätten, Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden oder gemeinsame Polizeistationen, dann wären das Projekte, mit denen man die Leute begeistern könnte. Reisefreiheit, Handelsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, das nehmen wir ja alles mittlerweile als selbstverständlich hin.
Zwischen dem 6. und 9. Juni dürfen etwa 350 Millionen in der EU wählen. Dann zählt eine einzelne Stimme doch recht wenig. Warum sollte ich wählen gehen?
Wenn Sie nicht wählen gehen, haben Sie keinen Einfluss. Wenn Sie wählen gehen, haben Sie einen begrenzten Einfluss. Wenn es darum geht, ob die Populisten oder die Demokraten die Mehrheit gewinnen, kann es auf jede Stimme ankommen.
Grundgesetzserie - in guter Verfassung?
- 1. Teil: In guter Verfassung? Wie das Grundgesetz entstand und wo
- 2. Teil: Ein Morgen in Düsseldorf - Nicole sucht Pfand in 200 Mülleimern
- 3. Teil: Alleinerziehende - warum es Mütter schwerer als Väter haben
- 4. Teil: Verfassungschützer will die Vorratsdatenspeicherung
- 5. Teil: Homosexuelle sind noch immer ohne Anerkennung
- 6. Teil: Eigentum verpflichtet - wir haben massive Probleme mit Geld
- 7. Teil: Was wäre falsch, wenn eine Richterin ein Kopftuch trüge?
- 8. Teil: Die Pressefreiheit ist Privileg und Verpflichtung zugleich