Düsseldorf. Viele Politiker, die am Sonntag zur Wahl stehen, sind an Rhein und Ruhr aufgewachsen: ein Überblick über die interessantesten Köpfe.
„Brüssel“ gilt als Chiffre für eine irgendwie anonyme europäische Bürokratiemaschine. Dabei wird EU-Politik zu einem Gutteil auch vom Europaparlament bestimmt, das sich aus gewählten Volksvertretern aller Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Wer aus Deutschland künftig in Brüssel und Straßburg mitgestalten darf, entscheidet sich an diesem Sonntag an der Wahlurne. Was kaum jemand weiß: Überdurchschnittlich viele einflussreiche Köpfe kommen aus NRW. Hier ein Panorama interessanter Persönlichkeiten, die um unsere Stimmen werben:
Katarina Barley (SPD)
Die Juristin Katarina Barley (55) ist Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl. Sie kam in Köln als Tochter eines britischen Journalisten und einer deutschen Ärztin zur Welt, studierte unter anderem in Paris, ihr Mann ist Niederländer.
Barley ist Vizepräsidentin des EU-Parlaments, zuvor war sie SPD-Generalsekretärin und zweimal Bundesministerin (Arbeit und Soziales sowie Justiz).
Für eine Bierzeltrede wäre Katarina Barley ungeeignet. Sie ist stiller als die meisten anderen im Politikbetrieb. Im Wahlkampf sagte sie: „Die stärksten Stimmen sind nicht immer die Lautesten, die Schreihälse, Schrillen, sondern die Beharrlichen, Bestimmten, Verlässlichen.“ Umso überraschter waren viele, als die „nette“ Barley eine europäische atomare Bewaffnung ins Gespräch brachte für den Fall, dass Donald Trump erneut US-Präsident werden sollte. Der Kanzler, der neben ihr auf den Wahlplakaten zu sehen ist, fand das nicht lustig. Mit Barley an der Spitze erzielte die SPD bei der Europawahl 2019 mit 15,8 Prozent ihr bisher schwächstes Ergebnis.
Therry Reintke (Grüne)
Die europäische Grünen-Spitzenkandidatin Therry Reintke (37) wird selten mit Nordrhein-Westfalen in Verbindung gebracht, obwohl sie waschechte Gelsenkirchenerin ist. Das mag damit zusammenhängen, dass sich die Politologin nach dem Abitur am Droste-Hülshoff-Gymnasium in Gelsenkirchen-Buer früh auf den Weg in internationale Gefilde eingeschlagen hat. Studiert hat sie in Berlin und Edinburgh und engagierte sich beim europäischen Grünen-Nachwuchs. Seit zehn Jahren sitzt Reintke, die eigentlich Theresa heißt, im Europaparlament. Sie lebt mit der französischen Grünen-Politikerin Mélanie Vogel zusammen.
2022 stieg Reintke zur Co-Vorsitzenden der Grünen-Fraktion in Brüssel und Straßburg auf, für die Europawahl wurde sie nun erstmals EU-weite Spitzenkandidatin. Belastet wurde ihr Wahlkampf durch Kritik an ihrem Krisenmanagement als Fraktionschefin, nachdem mehrere Mitarbeiterinnen gegen ein deutsches Fraktionsmitglied Vorwürfe wegen sexueller Belästigung angezeigt hatten. Reintke soll den Vorwürfen der drangsalierten Frauen nicht entschlossen genug nachgegangen sein.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)
Es ist schwer, sich in der FDP neben Christian Lindner zu profilieren. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (66), Spitzenkandidatin der Liberalen für die Europawahl, gelingt dieses Kunststück. Mit Entschiedenheit, Chuzpe, und einem Hang zur Undiplomatie, was die Düsseldorferin in ihrem Wahlkampfspot selbstironisch zelebriert; „Boah, die Alte nervt“ sagt sie dort über sich selbst und über ihren besonderen Ruf. Verknüpft mit dem Versprechen, auch als künftige Europapolitikerin all jenen auf die Nerven zu gehen, die es mit der Vereidigung der Freiheit im Allgemeinen und der Ukraine im Besonderen nicht so ernst nehmen. Die Bundestagsabgeordnete aus Düsseldorf ist Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, dringt dort auf Wehrhaftigkeit nach innen und nach außen und macht sich nichts draus, wenn der Kanzler ihre Offensiven nicht schätzt. Die robuste Rheinländerin hat Büttenredner-Qualitäten, ist gläubige Katholikin und liebt das Motorradfahren.
Thomas Geisel (BSW)
Thomas Geisel (60) gehört zu den schillerndsten Figuren des neuen Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), als dessen Spitzenkandidat er in die Europawahl zieht. Geisel ist eigentlich ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat. Der Sohn des früheren baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Alfred Geisel (SPD) engagierte sich über Jahrzehnte in verschiedenen Funktionen für die Sozialdemokratie und erlangte größere Bekanntheit, als er 2014 überraschend die Oberbürgermeisterwahl in Düsseldorf gewann. 2020 misslang jedoch die Wiederwahl: Geisel musste sich CDU-Mann Stephan Keller geschlagen geben und bekam danach in der SPD kein Bein mehr auf den Boden. Mit Äußerungen zum russischen Überfall auf die Ukraine, die als Relativierung der dortigen Kriegsverbrechen interpretiert wurden, fiel Geisel endgültig in Ungnade. Der Wechsel zum Wagenknecht-Bündnis erschien deshalb folgerichtig. Der streitbare Geisel ist zweifellos ein Mann mit vielen Talenten: Der Rechtsanwalt und vierfache Familienvater hat in Harvard studiert, war erfolgreicher Manager in der Energiewirtschaft, läuft Marathon und spielt Querflöte.
Peter Liese (CDU)
Peter Liese (59) gehört zu den Veteranen des Europaparlaments. Der Arzt aus Südwestfalen vertritt die CDU schon seit 1994 in Brüssel und Straßburg. Er trat damals die Nachfolge eines gewissen Friedrich Merz an, der nach Bonn wechselte. Beide gelten bis heute als Vertraute. Liese hat sich im Europaparlament vor allem als Experte für Umwelt- und Gesundheitspolitik einen Namen gemacht. In der Corona-Krise zog er kurzzeitig wieder den Arztkittel über und half beim Impfen. Die NRW-CDU nominiert ihn schon zum zweiten Mal als Spitzenkandidaten der Landesliste zur Europawahl.
Jens Geier (SPD)
Der Historiker Jens Geier (62) aus Essen steht auf Platz zwei der SPD-Bundesliste für die Europawahl. Dem EU-Parlament gehört er schon seit 2009 an. Er engagiert sich dort im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie. Diese Themen prägen auch seinen Wahlkampf: Eine wettbewerbsfähige europäische Industrie will Geier und ein Europa, in dem Energie nicht nur das Klima schont, sondern auch bezahlbar ist.
Dennis Radtke (CDU)
Dennis Radtke (45), kerniger Industriekaufmann aus Bochum-Wattenscheid, ist der kommende Mann im Sozialflügel der CDU. Er rückte 2017 ins Europaparlament nach, weil Herbert Reul als Innenminister nach Düsseldorf wechselte. Radtke ist Experte für Arbeitnehmerrechte und kämpft gegen Lohndumping in Europa. Sein Mut zum Klartext gefällt nicht jedem in der CDU. Radtke gilt als enger Vertraute von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), für den er in der parteiinternen Schlacht um die Nachfolge von Armin Laschet emsig kämpfte.
Birgit Sippel (SPD)
Birgit Sippel (64), geboren in Bochum, ist wie ihr Fraktionskollege Geier schon seit 2009 Mitglied des EU-Parlaments und steht auf Platz fünf der SPD-Liste. Sie wohnt in Arnsberg und vertritt im EU-Parlament die Interessen Südwestfalens. In Brüssel engagiert sie sich im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, hat mitgewirkt an der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.
Moritz Körner (FDP)
Moritz Körner (33) war 2017 jüngster Landtagsabgeordneter in NRW, bevor er bereits 2019 weiter nach Brüssel und Straßburg zog. Nebenamtlich ist er Generalsekretär der NRW-FDP. Körner studierte Sozialwissenschaften und Politik und engagierte sich früh bei den Jungen Liberalen. Im Europaparlament beschäftigen ihn vor allem Haushalts- und Bürgerrechtsfragen. Einer größeren Öffentlichkeit wurde er bekannt in der Diskussion über den Umgang Europas mit der chinesischen Videoplattform TikTok. Körner problematisierte das Absaugen personenbezogener Daten von minderjährigen TikTok-Nutzern.
Özlem Alev Demirel (Linke)
Özlem Alev Demirel (40) aus Köln gehört dem EU-Parlament seit 2019 an. Sie steht hinter Martin Schirdewan und Carola Rackete auf Platz drei der EU-Wahl-Liste der Linken. Demirel war Landtagsabgeordnete und NRW-Landesvorsitzende der Linken. 2017 verpasste sie als Spitzenkandidatin knapp den Wiedereinzug in den Landtag.
Daniel Freund (Grüne)
Daniel Freund (39) aus Aachen sitzt zwar ebenfalls erst seit 2019 für die Grünen im Europaparlament, ist in der EU-Politik aber schon lange zuhause. Bereits als Schüler wurde er für ein europäisches Zeitungsprojekt für den Jugendkarlspreis nominiert. Später studierte er in Paris, arbeitete für einen Europaabgeordneten und bei Transparency International in Brüssel. Größere Bekanntheit erlangte Freund durch seine Kritik am ungarischen Regierungschef Viktor Orban. So gelang es zwischenzeitlich, die Ausschüttung von EU-Fördergeldern an rechtsstaatliche Standards zu koppeln.
Hans Neuhoff (AfD)
Hans Neuhoff (65) aus Bonn, Professor für Soziologie, steht auf Platz acht der Europa-Liste der AfD. Er war Sprecher der AfD in Bonn und gehört dem NRW-Landesvorstand seiner Partei an. Zuletzt geriet er mit Mitgliedern seines Kreisverbandes aneinander, die ihm „Arbeitsverweigerung“ vorwarfen. Neuhoff gehört - wie AfD-Landeschef Martin Vincentz - zum gemäßigteren Teil der Partei.
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