Essen. Paragraf 5 des Grundgesetzes unterstreicht die Meinungs- und Pressefreiheit. Uneingeschränkt gilt das nicht. Ein Essay
Vor etwa zwanzig Jahren habe ich im Auftrag der NRZ Stolin besucht, eine Kleinstadt in Belarus, nicht weit entfernt von der Grenze zur Ukraine. Zufällig machte ich damals die Bekanntschaft eines oppositionellen Journalisten, der mich einlud, die Redaktion seiner Zeitung zu besuchen. Meine Gastgeber baten mich inständig, nicht mit diesen Kollegen zu sprechen. Sie würden Lügen über den Präsidenten verbreiten. Das Ehepaar, bei dem ich untergebracht war, war beim Staat angestellt und beide waren Anhänger von Aljaksandr Lukaschenka, der das Land seit 1994 diktatorisch regiert.
Ich schlug ihre Bitte in den Wind und traf mich mit den Journalisten. Noch in derselben Nacht klopfte um zwei Uhr morgens die Polizei bei meinen Gastgebern. Die Beamten wollten wissen, warum ich mich mit den Kollegen getroffen habe, was das denn für eine Zeitung sei, für die ich schriebe, und was ich zu publizieren beabsichtige. Meine Gastgeber konnten sie in einem langen Gespräch davon überzeugen, dass die NRZ eine gänzlich unpolitische Zeitung sei und ich nur vorhabe, über die landschaftlichen Reize von Belarus zu berichten. Ansonsten hätten mich die Beamten mitgenommen.
Es war eine sehr beunruhigende Erfahrung. Es war das erste Mal, das mir wirklich klar wurde, wie wertvoll die Pressefreiheit ist - und wie privilegiert wir Journalistinnen und Journalisten in Deutschland sind, weil diese Freiheit vom Grundgesetz geschützt wird.
Artikel 5 Grundgesetz, Absatz 1
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“
Das Recht, die eigene Meinung zu äußern und sich eine eigene Meinung zu bilden, ist nicht uneingeschränkt. Meinungsäußerungen haben da Grenzen, wo sie die Rechte anderer Menschen verletzen. Hetze und Beleidigung sind keine legitime Meinungsäußerung. Meinungsfreiheit bedeutet auch nicht Widerspruchsfreiheit. Es ist ein beliebter Trick von Populisten zu behaupten, man dürfe nichts mehr sagen. Dass sie das Büchern in Millionenauflage oder in Talkshows äußern können, straft sie Lügen. Kritik an ihren Äußerungen ist keine Beschneidung ihres Grundrechts auf Meinungsäußerung. Die offene Debatte, auch mit verbalem Degen statt Florett, ist die Basis der Demokratie.
Tatsachenbehauptungen sind keine Meinungen. Wer vorgibt, Informationen zu verbreiten, sollte sie belegen können. Sind sie falsch, hat es nichts mit Zensur zu tun, wenn ihre Verbreitung unterbunden wird. Die Pressefreiheit endet da, wo sie für Desinformationskampagnen und Destabilisierung missbraucht wird. In der Corona-Krise waren solche Falschinformationen Legion. Insbesondere diejenigen, auf Kundgebungen „Lügenpresse“ skandierten oder die Morgendämmerung einer Diktatur herbeifabulierten, waren nicht selten Menschen, die in den sozialen Medien Lügen und Falschinformationen verbreiteten, ohne sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Pressefreiheit ist ein mächtiges Instrument
Pressefreiheit kann es nicht ohne Verantwortungsbewusstsein geben. Sie dient der Kontrolle der Mächtigen und ist selbst ein mächtiges Instrument. Die NRZ berichtet immer wieder über die Verfehlungen von Politikern, über Wirtschaftsskandale oder gesellschaftliche Missstände. Manchmal beenden Presseberichte die Karrieren von Menschen, manchmal triggern sie Ängste. Umso wichtiger ist es, dass sie sauber recherchiert sind, dass Fehler, die immer wieder geschehen können, korrigiert werden. Die Presse muss ein objektiver Dienstleister für eine offene Gesellschaft sein, deren Gestaltung und Zusammenhalt informationsbasiert ist. Nicht mehr und nicht weniger.
Wenn ich in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder in anderen Ländern unterwegs bin, treffe ich immer wieder auf Journalisten, die erstaunt sind, wie frei und unzensiert wir in Deutschland berichten können. In vielen Ländern sind Zeitungen, so sie denn überhaupt noch gibt, nichts anderes als Verlautbarungsorgane für den Staat oder bestimmte Parteien. Eine freie Meinungsbildung, eine Kontrolle der Mächtigen kann nicht stattfinden. Ohne Pressefreiheit kann es keinen demokratischen Austausch geben. Ohne Pressefreiheit stirbt die Meinungsfreiheit.
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Weltweit hat sich im vergangenen Jahr die Lage der Pressefreiheit weiter deutlich verschlechtert. „Reporter ohne Grenzen“ zählt 36 Länder auf, in denen eine freie Berichterstattung nahezu unmöglich ist. Belarus ist eines dieser Länder. In weiteren 49 Ländern gilt die Lage als schwierig. Tausende Journalisten sitzen in Gefängnissen. Viele Kolleginnen und Kollegen riskieren ihre Freiheit und ihr Leben, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
In Deutschland hat sich die Lage leicht verbessert, wir liegen jetzt auf Platz zehn von 180 Ländern. Aber: Im vergangenen Jahr gab es 41 Übergriffe auf Medienschaffende. Jeder einzelne ist einer zu viel. Zudem nehmen die ökonomischen Zwänge zu. Wenn in Redaktionen gespart wird, nehmen die Recherchetiefe und die Qualität der Berichterstattung ab. Es ist eine bittere Erkenntnis, dass die Pressefreiheit darunter leidet, dass die finanziellen Spielräume der freien Presse enger werden.
Das Grundgesetz hat uns alle Möglichkeiten gegeben. Wir als NRZ werden auch in Zukunft alles tun, um unserer Verantwortung und dem uns von den Eltern des Grundgesetzes geschenkten Privileg gerecht zu werden. Auch wenn die Zeiten härter werden.
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