Die EHEC-Krise verschärft sich weiter. Ärzte sprechen von dramatischer Zunahme der Komplikationen bei den an HUS erkrankten Patienten.

Schleswig-Holstein

Hannover/Berlin/Kiel. Die EHEC-Krise hat sich weiter verschärft. Stark gestiegen ist dabei in Schleswig-Holstein die Zahl der Kranken mit schweren neurologischen Komplikationen. Über „völlig abgedrehte Patienten“ berichtete ein Arzt am Mittwoch in Kiel. Von einer dramatischen Zunahme der Komplikationen mit HUS und neurologischen Folgen sprach Prof. Hendrik Lehnert vom Universitätsklinikum. Weiter erhöht hat sich auch die Gesamtzahl der Patienten: Bis Mittwoch 14 Uhr wurden 458 bestätigte Infektionen (Vortag: 360) und 130 Fälle mit der schweren Komplikation HUS gemeldet (120), sagte das Gesundheitsministerium in Kiel.

Allein das Universitätsklinikum behandelt in Kiel und Lübeck rund 180 EHEC-Patienten stationär, darunter 100 mit nachgewiesener Infektion und 95 mit dem lebensbedrohlichen Hämolytisch-Urämischen Syndrom (HUS). Etwa jeder zweite HUS-Patient bekomme zum Teil sehr schwere neurologische Komplikationen, die oft drei bis vier Tage nach dem Beginn des Syndroms auftreten, sagte Lehnert, der in Lübeck die Medizinische Klinik leitet. In den leichteren Fällen treten moderate Konzentrations- und Koordinationsstörungen auf, in den schwereren unter anderem epileptische Anfälle. Etwa 60 Prozent der Betroffenen leiden unter den schwereren Folgen.

„Wir haben Patienten, die überhaupt keinen Durchfall haben, aber schwere neurologische Symptome“, schilderte der Direktor der Klinik für Innere Medizin IV in Kiel, Prof. Ulrich Kunzendorf. Weil in der Regel nur fünf bis zehn Prozent der Infizierten an den HUS-Komplikationen leiden, gehen die Uni-Ärzte davon aus, dass sich allein im Norden Tausende mit EHEC angesteckt haben. Es gebe Fälle, wo sich Patienten innerhalb einer Familie parallel infiziert oder Keime weitergegeben haben, sagte der Kieler Gastroenterologe Prof. Stefan Schreiber. Nach seinen Angaben bekommen EHEC-Patienten jetzt früher Antibiotika, um den Keim abzutöten zu versuchen. Hintergrund: Die pathologische Untersuchung einer gestorbenen Frau hatte ergeben, dass ihr gesamter Magen-Darm-Trakt entzündet war.

Im Hinblick auf die Therapie sprach Schreiber von einer „Situation medizinischer Hilflosigkeit“ und zog die Pest zum Vergleich heran. „Es gibt keine Therapie-Standards, nach denen die Patienten behandelt werden können“, sagte der Lübecker Nephrologe Prof. Jürgen Steinhoff. „Wir stehen vor völlig unerwarteten Krankheitsverläufen, die wir bisher noch nicht kannten“, bekannte Prof. Lehnert. 40 Patienten werden am Uniklinikum mit dem Antikörper Eculizumab behandelt. Definitive Aufschlüsse über die Wirkung erwarten die Experten erst in mehreren Wochen. „Viele Patienten werden einen schweren Nierenschaden behalten“, sagte Prof. Kunzendorf voraus.

Für Prof. Schreiber sind die klinischen Erkrankungen und die Komplikationen nicht auf einen Zufall zurückzuführen: Die genetische Forschung habe klar gezeigt, dass die Empfänglichkeit für Krankheiten oft durch vererbte Faktoren festgelegt sei. Um der genetischen Empfänglichkeit für EHEC auf die Spur zu kommen, setzen Kieler Experten jetzt die Bio-Datenbank Popgen ein, eine der weltweit größten nationalen Biobanken. Sie wollen die DNA von EHEC-Infizierten mit der von gesunden Schleswig-Holsteinern vergleichen und Übereinstimmungen suchen, um genetische Risikofaktoren für eine Infektion zu erkennen.

Das Uniklinikum hat für die EHEC-Patienten vier zusätzliche Stationen mit rund 100 Betten eingerichtet. „Gewaltige finanzielle Einbrüche“ befürchtet Prof. Schreiber aus der Tatsache, dass Operationen von Patienten, die nicht lebensbedrohlich erkrankt sind, verschoben werden.

Die Mediziner gehen davon aus, dass die EHEC-Krise noch längst nicht zuende ist. „Es wird auch weitere Patienten geben, die wir verlieren“, sagte Prof. Lehnert. Bisher gab es fünf Todesfälle im Norden. Ganz vorsichtigen Optimismus schöpft Lehnert daraus, dass sich die Zahl der Neuerkrankungen zumindest zu stabilisieren scheint.

Die Zahl der Blutspender hat sich am Dienstag verdoppelt. Fast 400 Freiwillige meldeten sich in den Blutspendezentren des Uniklinikums in Kiel und Lübeck. Die Behandlung erfordert große Mengen an Blutplasma. Für den Plasma-Austausch bei einem HUS-Patienten werden täglich zehn Blutspender benötigt.

Wegen der vielen Fälle im Land kommen laut Gesundheitsministerium weitere medizinische Fachkräfte aus anderen Bundesländern in den Norden. Dies hätten am Mittwoch mehrere Länder zugesagt, hieß es. Das Ministerium wies erneut darauf hin, dass der EHEC-Erreger durch Schmierinfektion übertragen werden kann. Daher müsse die Händehygiene besonders gründlich beachtet werden, besonders bei Kontakt zu Erkrankten. Auch die vorsorgliche Empfehlung, keine rohen Tomaten, Salatgurken und Blattsalate zu essen, gelte weiter.

Niedersachsen

Die Zahl der EHEC-Infektionen in Niedersachsen steigt wieder rapide an. Bisher haben sich vermutlich 344 Menschen mit dem gefährlichen Darmbakterium infiziert – eine vierte Frau ist in Niedersachsen nachweislich an dem Erreger gestorben. An der Medizinischen Hochschule in Hannover versuchen die Mediziner, die Patienten mit dem Antikörper Eculizumab zu heilen. „Rund 150 Patienten bekommen momentan deutschlandweit diese Antikörper-Therapie“, sagte der Nierenarzt Jan Kielstein am Mittwoch in Hannover.

Ein Wundermittel sei die neuartige Therapie aber bislang nicht. „Aus unserer Klinik ist noch niemand entlassen worden, der mit dem Antikörper behandelt wurde“, meinte Kielstein. Bei einigen Patienten verbesserten sich zwar die neurologischen Auswirkungen der schweren Komplikationen wie Krampfanfälle und Halluzinationen. Doch ob der Antikörper diese Verbesserungen verursacht habe, sei noch unklar. „Wir können vermutlich erst in zwei Wochen definitiv sagen, ob der Antikörper hilft“, sagte Kielstein. Wichtig sei: Bislang vertragen alle Patienten das Medikament gut.

In Niedersachsen hat es nach Ministeriumsangaben das vierte Todesopfer durch den gefährlichen Durchfallkeim EHEC gegeben. Eine 84 Jahre alte Patientin sei im Landkreis Harburg an der schweren Komplikation HUS gestorben, sagte das Gesundheitsministerium. Die Patientin sei bereits am vergangenen Sonntag gestorben, die EHEC-Infektion sei durch das Labor bestätigt. Am vorvergangenen Dienstag (24. Mai) hatte es das deutschlandweit erste Todesopfer durch den Durchfallerreger gegeben: eine 83-Jährige im Kreis Diepholz.

Derweil haben vier norddeutsche Landwirtschaftskammern die Informationspolitik des Robert-Koch-Instituts (RKI) im Zusammenhang mit den EHEC-Warnungen scharf kritisiert. Das Berliner Institut hatte vergangene Woche vor dem Verzehr von Salatgurken, Blattsalaten und rohen Tomaten gewarnt. Dadurch sei den Gemüsebauern ein großer wirtschaftlicher Schaden entstanden, schrieben die Kammern in Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein an Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU).

Die Verunsicherung der Verbraucher habe zu Stornierungen von Lieferverträgen des Lebensmitteleinzelhandels geführt. „Für größere Betriebe bedeutet dies Einbußen im fünfstelligen Bereich täglich“, heißt es in dem Schreiben. Damit sei die wirtschaftliche Existenz vieler Familien aufgrund vager Verdachtsmomente massiv gefährdet.

In den Krankenhäusern ist nach Meinung des Nierenarztes Kielstein eine Verlagerung hin zu den schweren Fällen erkennbar. Landesweit ist die Zahl der Menschen, die an HUS, dem lebensbedrohlichen Krankheitsverlauf des Durchfallerregers erkrankt sind, auf 68 Patienten gestiegen, sagte der Sprechers des Gesundheitsministeriums, Thomas Spieker. Bei 250 der insgesamt möglicherweise 344 Infektionen mit dem EHEC-Erreger gebe es schon eine definitive Bestätigung aufgrund von Laboruntersuchungen.

Besonders betroffen ist in Niedersachsen der Landkreis Cuxhaven: Hier sind 48 Menschen nachweislich mit EHEC infiziert, 18 von ihnen leiden an der schweren Komplikation HUS. Auch im Landkreis Lüneburg haben sich bislang mehr Menschen mit EHEC infiziert als im Rest Niedersachsens: 24 Menschen tragen das EHEC-Bakterium im Körper, 8 von ihnen sind an HUS erkrankt. Stark betroffen sind zudem die Region Hannover, der Landkreis Rotenburg und der Landkreis Harburg.

Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen zu EHEC:

Bei welchen Symptomen muss ich an eine EHEC-Infektion denken?

"Bei EHEC handelt sich um eine ernste Erkrankung, und deswegen sollten alle, die an blutigen, wässrigen Durchfällen leiden, umgehend einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen", sagt Rico Schmidt, Sprecher der Hamburger Gesundheitsbehörde.

Weitere Symptome sind Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen. Im Durchschnitt dauert es drei bis vier Tage von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung. Eine umgehende Behandlung ist wichtig, weil es zu einer schweren Komplikation kommen kann, dem sogenannten Hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS). Es tritt im Durchschnitt fünf bis zwölf Tage nach Beginn des Durchfalls auf. Dabei kommt es zu akutem Nierenversagen, Hirn-Komplikationen, einer Blutarmut und Gerinnungsstörungen. HUS entwickelt sich bei fünf bis zehn Prozent der EHEC-Infizierten und führt in fünf Prozent dieser Fälle zum Tode.

Wie wird die Krankheit übertragen?

Der Erreger befindet sich im Kot von Nutztieren. Die Infektion kann beim direkten Kontakt mit Tieren aber auch beim Verzehr verseuchter Lebensmittel - zum Beispiel Rindfleisch oder Rohmilch - übertragen werden. Eine Infektion ist auch über rohes ungewaschenes Gemüse möglich. Die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgt direkt über Berührungen oder indirekt über den Kontakt mit verseuchten Flächen, zum Beispiel Türklinken.

Ist die Infektionsquelle bekannt?

Bislang noch nicht. Das bundesweit zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin vermutet Gemüse oder andere Lebensmittel, die normalerweise nicht gekocht werden, als Ursache für die Ansteckungen. Eine ähnliche Meinung hat Dr. Susanne Huggett, leitende Ärztin sowohl des Asklepios-Bereichs Hygiene als auch des Asklepios-Laborbetriebs "Medilys" in Hamburg. Für sie spricht manches für Nahrungsmittel als Übertragungsquelle: "Im Rahmen der aktuellen Bio- und Öko-Wellen spielen Rohprodukte eine große Rolle. Und dass nach wie vor hauptsächlich Frauen Speisen zubereiten, könnte erklären, warum die meisten EHEC-Patienten weiblich sind."

Wie kann man sich schützen?

Jeder sollte auf gründliches und häufiges Händewaschen mit Seife achten, und zwar mindestens nach jedem Toilettengang und jedem Berührungskontakt mit einer Fläche, die auch andere Menschen berührten, empfiehlt Dr. Susanne Huggett. Auch Obst und Gemüse sollten vor dem Verzehr gründlich gewaschen werden, sagt Rico Schmidt. Das RKI empfiehlt, auch bei der Zubereitung von Gemüse auf gute Küchenhygiene zu achten sowie Bretter und Messer gründlich zu reinigen. Speisen sollten gut durchgegart werden, also zehn Minuten lang mindestens eine Kerntemperatur von 70 Grad haben.

Zudem sollten Eltern darauf achten, dass Kinder sich nach Kontakt mit Erde oder Tieren nicht die Finger in den Mund stecken, sondern die Hände gründlich mit Wasser und Seife reinigen. Speisen sollten nur außerhalb von Tiergehegen verzehrt werden.

Wie wird die Infektion behandelt?

In der Therapie würden vor allem die Symptome behandelt, zum Beispiel durch Mittel gegen den Durchfall, sagt Dr. Susanne Huggett. Die in den Hamburger Asklepios-Kliniken untergebrachten Patienten würden alle isoliert: "Alle tatsächlich oder womöglich mit EHEC infizierten Patienten liegen bei uns in einem Einzelzimmer oder in einem Zimmer mit einem weiteren EHEC-Patienten; im letzteren Fall spricht man von einer Kohorten-Isolierung." Diese Isolier-Zimmer seien häufig durch Schleusen vom Rest der Krankenhausstation abgegrenzt. Besuch dürften die EHEC-Patienten bekommen. "Jedoch", sagt Huggett, "sollten Risikogruppen-Angehörige wie kleine Kinder, Schwangere und Alte nicht dazu gehören - zu ihrem eigenen Schutz."

Bei Erwachsenen werde zur Behandlung auch die Plasmapherese eingesetzt, sagt Dr. Jan Kielstein von der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie entferne schädliche Eiweiße aus dem Blut, indem das Blutplasma entfernt und durch Spenderplasma ersetzt werde. Die bis zu zweieinhalbstündige Plasmapherese müsse mehrmals wiederholt werden. Das sei auch einer der Gründe, warum ein Teil der Patienten auf Intensivstationen behandelt werde.

Wie häufig sind EHEC-Infektionen?

EHEC-Keime treten in Deutschland immer wieder auf. Das Robert-Koch-Institut hat seit Einführung der Meldepflicht 2001 bundesweit jährlich zwischen 800 und 1200 EHEC-Erkrankungen registriert, die aber oft einen leichteren Verlauf nahmen. Pro Jahr werden bundesweit um die 60 Fälle des HU-Syndroms gemeldet.

EHEC – eine lange Geschichte

Schon Jahre vor der durch Deutschland rollenden EHEC-Welle sorgten sich Experten vor dem gefährlichen Keim. Vor zwölf Jahren noch gab es Kritik, die Politik nehme das Problem nicht ernst genug. Seither hat die öffentlich geförderte Forschung Fahrt aufgenommen.

Der ARD-Journalist Klaus Weidmann schrieb 1999 in einem Bericht über eine EHEC-Recherche: „Behörden in Japan und in den USA behandeln EHEC als das, was es ist: als eine gefährliche Seuche, die jederzeit ausbrechen kann.“ Der deutschen Gesundheitspolitik warf er damals hingegen unter Berufung auf Recherchen bei Wissenschaftlern und Forschungsinstituten „verheerende Verharmlosung und Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Keim vor.

Bereits vor Jahren gab es mehrere Ausbreitungen von EHEC in Deutschland: 1988 in Bayern, 1994 im Münsterland, 1995/96 in Bayern und 1996/97 in Niedersachsen. Unter Federführung des Robert Koch-Instituts sei EHEC bereits 1993 in einer Studie als in Deutschland weit verbreitet eingestuft worden, so Weidmann. Forschungsinstitute klagten damals laut dem Journalisten über mangelnde Finanzmittel für die EHEC-Forschung.

Die Situation hat sich jedoch geändert: Deutschland führte 2001 die Meldepflicht für EHEC-Erkrankungen ein. 2006 stellte die Bundesregierung zur Erforschung der von Tieren auf Menschen übertragbaren Krankheiten (Zoonosen) 60 Millionen Euro bereit. 2009 wurde eine Forschungsplattform für Zoonosen erstellt.

Einzelne Projekte förderte das Forschungsressort von 2007 bis 2010 mit 25 Millionen, bis 2013 mit weiteren 28 Millionen Euro. Enthalten sind Mittel für den Verbund Lebensmittelbedingte zoonotische Infektionen (FBI-Zoo – Food Borne Zoonotic Infections of Humans). In diesem Verbund befassen sich drei Vorhaben mit EHEC – geleitet von Prof. Lothar H. Wieler in Berlin, Prof. Herbert Schmidt in Hohenheim und Prof. Dag Harmsen sowie Prof. Helge Karch in Münster.

Karch sagte in einem Interview: „Es gab eine Zeit, wo man seltenen Erkrankungen nicht so viel Beachtung geschenkt hat. Dies hat sich in den letzten Jahren deutlich geändert.“ An der Universität Münster wurde zudem das Konsiliarlabor für die schwere EHEC-Komplikation Hämolytisch-Urämisches Syndrom (HUS) gegründet, das 42 EHEC-Stämme aus aller Welt gesammelt und Wissen darüber zusammengetragen hat.

(Mit Material von dpa/dapd)