EHEC-Erkrankungen breiten sich explosionsartig aus. Mehr als 400 Fälle im Norden. “Diese Entwicklung übersteigt jedes historische Maß“, sagt der Mikrobiologe Prof. Werner Solbach vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.

Hamburg. Der gefährliche EHEC-Erreger hat mindestens ein Todesopfer gefordert. Im Kreis Diepholz in Niedersachen ist am Dienstag eine 83 Jahre alte Frau an den Folgen der Krankheit gestorben. Sie war seit Mitte Mai wegen blutigen Durchfalls behandelt worden. Das gab das Gesundheitsministerium am Dienstag in Hannover bekannt. Das Labor habe eine EHEC-Infektion bestätigt.

Bremen meldete zudem, dass eine junge Frau in der Nacht zu Dienstag mit Verdacht auf EHEC gestorben sei. Im schleswig-holsteinischen Landkreis Stormarn starb laut Gesundheitsministerium in Kiel bereits am Sonntag eine Frau, die mit dem Erreger infiziert war. Ob die EHEC-Infektion Todesursache war, ist noch nicht sicher. Die Frau war über 80 Jahre alt und starb in einem Krankenhaus, in dem sie wegen einer Operation war.

Indes nehmen die EHEC-Verdachtsfälle im Norden weiter explosionsartig zu, während der Süden bisher lediglich vereinzelt betroffen ist. Allein in Schleswig-Holstein hat sich die Zahl der Verdachtsfälle seit Montag auf mehr als 200 Fälle verdoppelt. „Diese Entwicklung übersteigt jedes historische Maß“, sagte der Mikrobiologe Prof. Werner Solbach vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Damit gibt es deutschlandweit derzeit mehr als 400 bestätigte und Verdachtsfälle.

In Hamburg ist die Zahl der bestätigten Fälle unterdessen am Dienstag auf mindestens auf 67 gestiegen. Hessen meldet mindestens 26 Verdachts- und bestätigte Fälle. In Mecklenburg-Vorpommern werden derzeit mindestens vier EHEC-Patienten behandelt. Aktuelle Zahlen wollen die Gesundheitsbehörden bis zum frühen Nachmittag bekanntgeben. In Niedersachsen und Bremen waren es am Vortag fast 70 bestätigte Fälle.

Zur Ursache des EHEC-Erregers gibt es weiter keine verlässlichen Erkenntnisse. Es werde vermutet, dass möglicherweise mit Gülle gedüngtes Gemüse die Ursache sei. Solange die konkrete Quelle nicht identifiziert sei, lasse sich zur weiteren Verbreitung nichts Seriöses prognostizieren. „Das wäre Kaffeesatzleserei“, hieß es aus der Behörde.

Die Ausbreitung wird von Experten dennoch als alarmierend eingeschätzt, weil die Erkrankungen auffällig oft einen schweren Verlauf mit Nierenversagen nehmen. Mehr als 40 dieser Patienten litten zudem unter dem hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS), das von dem Darmbakterium verursacht wird. Dabei kann es zu Nierenversagen, Blutarmut durch den Zerfall roter Blutkörperchen und einem Mangel an Blutplättchen kommen.

Mittlerweile beobachtet auch die Bundesregierung die Situation. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) habe sich in einem Telefonat mit dem Leiter des Robert Koch-Instituts, Reinhard Burger, über die aktuelle Lage informiert, so ein Sprecher in Berlin.

Das genaue Lagebild bleibt jedoch unklar. Ein Grund dafür ist, dass die Auswertungen der Labors etwa 36 Stunden dauern. „Deshalb gibt es gegenwärtig viele Verdachtsfälle aber noch kein verlässliches Bild der tatsächlichen Gesamtlage“, sagte Susanne Huggett, ärztliche Leiterin des Hamburger Großlabors der Asklepios-Kliniken.

Die Erreger der EHEC-Infektion sind besondere Stämme der Escherichia coli-Bakterien, die vor allem im Darm von Wiederkäuern, insbesondere Rindern, leben. Dem Großlabor zufolge handelt es sich bei dem seit Mitte Mai grassierenden Keim um eine besonders aggressive Form. Der bislang unbekannte Bakterienstamm sei resistent gegen bestimmte Antibiotika . Das sei bemerkenswert.

Von einer Behandlung mit Antibiotika vor allem im späteren Krankheitsstadium hatten Mediziner jedoch ohnehin abgeraten. Durch das Abtöten des Keims könnten verstärkt Giftstoffe freigesetzt und die Krankheit damit verschlimmert werden.

EHEC-Keime treten in Deutschland immer wieder auf. Das RKI hat seit Einführung der Meldepflicht 2001 bundesweit jährlich zwischen 800 und 1200 EHEC-Erkrankungen registriert, die aber oft einen leichteren Verlauf nahmen.

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Bei welchen Symptomen muss ich an eine EHEC-Infektion denken?

"Bei EHEC handelt sich um eine ernste Erkrankung, und deswegen sollten alle, die an blutigen, wässrigen Durchfällen leiden, umgehend einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen", sagt Rico Schmidt, Sprecher der Hamburger Gesundheitsbehörde. Weitere Symptome sind Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen. Im Durchschnitt dauert es drei bis vier Tage von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Erkrankung. Eine umgehende Behandlung ist wichtig, weil es zu einer schweren Komplikation kommen kann, dem sogenannten Hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS). Es tritt im Durchschnitt fünf bis zwölf Tage nach Beginn des Durchfalls auf. Dabei kommt es zu akutem Nierenversagen, Hirn-Komplikationen, einer Blutarmut und Gerinnungsstörungen. HUS entwickelt sich bei fünf bis zehn Prozent der EHEC-Infizierten und führt in fünf Prozent dieser Fälle zum Tode.

Wie wird die Krankheit übertragen?

Der Erreger befindet sich im Kot von Nutztieren. Die Infektion kann beim direkten Kontakt mit Tieren aber auch beim Verzehr verseuchter Lebensmittel - zum Beispiel Rindfleisch oder Rohmilch - übertragen werden. Eine Infektion ist auch über rohes ungewaschenes Gemüse möglich. Die Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgt direkt über Berührungen oder indirekt über den Kontakt mit verseuchten Flächen, zum Beispiel Türklinken.

Ist die Infektionsquelle bekannt?

Bislang noch nicht. Das bundesweit zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin vermutet Gemüse oder andere Lebensmittel, die normalerweise nicht gekocht werden, als Ursache für die Ansteckungen. Eine ähnliche Meinung hat Dr. Susanne Huggett, leitende Ärztin sowohl des Asklepios-Bereichs Hygiene als auch des Asklepios-Laborbetriebs "Medilys" in Hamburg. Für sie spricht manches für Nahrungsmittel als Übertragungsquelle: "Im Rahmen der aktuellen Bio- und Öko-Wellen spielen Rohprodukte eine große Rolle. Und dass nach wie vor hauptsächlich Frauen Speisen zubereiten, könnte erklären, warum die meisten EHEC-Patienten weiblich sind."

Wie kann man sich schützen?

Jeder sollte auf gründliches und häufiges Händewaschen mit Seife achten, und zwar mindestens nach jedem Toilettengang und jedem Berührungskontakt mit einer Fläche, die auch andere Menschen berührten, empfiehlt Dr. Susanne Huggett. Auch Obst und Gemüse sollten vor dem Verzehr gründlich gewaschen werden, sagt Rico Schmidt. Das RKI empfiehlt, auch bei der Zubereitung von Gemüse auf gute Küchenhygiene zu achten sowie Bretter und Messer gründlich zu reinigen. Speisen sollten gut durchgegart werden, also zehn Minuten lang mindestens eine Kerntemperatur von 70 Grad haben. Zudem sollten Eltern darauf achten, dass Kinder sich nach Kontakt mit Erde oder Tieren nicht die Finger in den Mund stecken, sondern die Hände gründlich mit Wasser und Seife reinigen. Speisen sollten nur außerhalb von Tiergehegen verzehrt werden.

Wie wird die Infektion behandelt?

In der Therapie würden vor allem die Symptome behandelt, zum Beispiel durch Mittel gegen den Durchfall, sagt Dr. Susanne Huggett. Die in den Hamburger Asklepios-Kliniken untergebrachten Patienten würden alle isoliert: "Alle tatsächlich oder womöglich mit EHEC infizierten Patienten liegen bei uns in einem Einzelzimmer oder in einem Zimmer mit einem weiteren EHEC-Patienten; im letzteren Fall spricht man von einer Kohorten-Isolierung." Diese Isolier-Zimmer seien häufig durch Schleusen vom Rest der Krankenhausstation abgegrenzt. Besuch dürften die EHEC-Patienten bekommen. "Jedoch", sagt Huggett, "sollten Risikogruppen-Angehörige wie kleine Kinder, Schwangere und Alte nicht dazu gehören - zu ihrem eigenen Schutz." Bei Erwachsenen werde zur Behandlung auch die Plasmapherese eingesetzt, sagt Dr. Jan Kielstein von der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie entferne schädliche Eiweiße aus dem Blut, indem das Blutplasma entfernt und durch Spenderplasma ersetzt werde. Die bis zu zweieinhalbstündige Plasmapherese müsse mehrmals wiederholt werden. Das sei auch einer der Gründe, warum ein Teil der Patienten auf Intensivstationen behandelt werde.

Wie häufig sind EHEC-Infektionen?

EHEC-Keime treten in Deutschland immer wieder auf. Das Robert-Koch-Institut hat seit Einführung der Meldepflicht 2001 bundesweit jährlich zwischen 800 und 1200 EHEC-Erkrankungen registriert, die aber oft einen leichteren Verlauf nahmen. Pro Jahr werden bundesweit um die 60 Fälle des HU-Syndroms gemeldet.

Mit Material von dpa