Keine Zeit! So lautet der kollektive Seufzer des modernen Menschen. Stress ist eine Mode-Krankheit geworden - und Stressfaktoren gibt es viele: Straßenverkehr, berufliche Überforderung, Angst vor dem sozialen Abstieg, mieses Arbeitsklima. Gibt es einen Ausweg? Forscher sagen etwas Überraschendes: Stress kommt nicht “von außen“ - wir machen ihn uns selbst.
Fahr schon, du Blödmann. Ja, super, drängel du auch noch rein, Idiot! BMW-Fahrer!" Es ist 9.10 Uhr am Morgen, seit zehn Minuten müssten Sie an Ihrem Schreibtisch sitzen, stattdessen schaltet schon die dritte Ampel auf Rot. Sie sehen das Gesicht des Chefs vor sich, wenn Sie schon wieder zu spät kommen, es ist doch nicht Ihre Schuld, verdammt, und gefrühstückt haben Sie auch noch nicht, und jetzt spüren Sie, wie Ihnen ganz heiß wird. Sie denken: Was für ein Stress! Recht haben Sie. Ihr Körper fährt gerade in Windeseile sein biologisches Notfall-Arsenal auf. Er reagiert, als käme ein Mammut um die Ecke geprescht: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung beschleunigt sich, Adrenalin wird ausgeschüttet, die Muskeln sind bereit zum Angriff oder zur Flucht. Das genetisch festgelegte Programm kennt nur ein Ziel: in den nächsten zehn Minuten Ihr Überleben zu sichern. Evolutionär ist das eine ausgezeichnete Idee. Zu blöde nur, dass Sie wie angewurzelt im Stau stecken. Die bereitgestellte Energie verpufft, zieht aber weitere Körperreaktionen nach sich: Sie sind längst schweißgebadet. Der Stress überreizt Ihre Organe. Sicher ist: Stress hat eine biologische und eine psychologische Seite. Biologisch bedeutet er eine Kettenreaktion des Organismus, psychologisch kennzeichnet er eine seelisch und körperlich empfundene Schieflage. Im modernen Leben muss Stress als Ausrede für alles Mögliche herhalten. Wer sagt "Ich hab sooo einen Stress", darf auf Verständnis hoffen. Für seine Kopfschmerzen, für abgesagte Verabredungen, für Stimmungsschwankungen. In manchen Branchen gehört der lustvoll zelebrierte Stress sogar dazu. Wer keine Zeit hat, der muss ein wichtiger Mensch sein. Und wer bis abends im Büro sitzt, der arbeitet anscheinend besonders gründlich. "Anwesenheitskult" nennt der Betriebswirt und Management-Berater Andreas Hoff diese soziale Norm. Allerdings: Stress wird durchaus unterschiedlich empfunden. Die einen drehen durch, wenn nur zweimal hintereinander das Telefon klingelt; andere bewältigen geradezu stoisch ein enormes Pensum und widmen sich abends gut gelaunt ihrer Familie. Stress ist auch in seiner Bewältigung abhängig von der Persönlichkeit des Einzelnen. Und die wiederum von genetischen Faktoren und frühkindlichen Erlebnissen: Schon eine schwierige Schwangerschaft der Mutter macht das Kind ein Leben lang stressanfälliger. Entdeckt hat das Phänomen in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Mediziner Hans Selye - vorher war der Begriff nur aus der Physik bekannt als "mechanische Spannung". Selye definierte Stress als Anpassungsreaktion des menschlichen Körpers auf alles, was seine Balance stört. Die Störfaktoren ("Stressoren") können ganz unterschiedlich sein: vom verpassten Zug bis zum Stress, den Tod und Krieg auslösen. Für einen Broker kann ein Kursabfall extrem stressig sein, für einen Säugling ist es das Gefühl von Hunger oder Durst, für einen 50-Jährigen der Verlust seines Jobs. Das alte Klischee "Früher wars nicht so stressig" ist jedenfalls falsch. Wenn auch das Arbeits- und Lebenstempo nicht so hoch waren wie heute, drückten andere Stressoren aufs Gemüt: schlecht behandelte Krankheiten, Armut, miserable Arbeitsbedingungen. Der Unternehmensberater Ferry Fischer aus Wien räumt mit einem alten Irrtum auf: "Ein stressfreies Leben gibt es gar nicht. Wer keinen Stress hat, der ist tot." Im Guten gibt der Stress einen Kick. Und jeder Mensch kann mit Stress umgehen - vorausgesetzt, der hält nicht zu lange an. Wenn wir ständig überfordert sind und keine Zeit haben, kippt der Kick um. Permanent gestresste Leute werden krank, erschöpft und vergesslich. Wenn schon 30-Jährige jede Kleinigkeit notieren müssen, ist das ein ganz schlechtes Zeichen, wettert der bekannte Mediziner und "Laufpapst" Dr. Ulrich Strunz. Chronische Aufregung schadet vor allem dem Immunsystem: Allein die Gefahr, sich zu erkälten, steigt bei ständig überforderten Zeitgenossen ums Drei- bis Fünffache - so das Ergebnis einer amerikanischen Studie von 1991. Warum das so ist und wofür das gut sein soll, hat noch niemand überzeugend erforschen können. Biologisch wäre eher eine bessere Immunabwehr in Stresszeiten sinnvoll. Doch das Gegenteil ist der Fall. Viele Krankheiten, die die postindustrielle Gesellschaft prägen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Muskel- und Skelett-Krankheiten, Depressionen), werden mit Stress in Verbindung gebracht. Darüber hinaus macht Stress dick. Denn bei Dauerstress wird das Hormon Cortisol ausgeschüttet, das den Fettstoffwechsel verändert und den berüchtigten Rettungsring um die Hüften wachsen lässt. "Der menschliche Körper", sagt die US-Medizinerin Dr. Pamela Peeke aus Maryland, "ist nicht darauf angelegt, lang anhaltenden chronischen Stress zu verarbeiten. Üble Erinnerungen, Angst und Frust dürfen wir nicht jahrelang mit uns herumschleppen." Was aber sollen wir tun? Fast immer erscheint uns Stress als höhere Gewalt und als Druck von außen. "Es gibt keinen äußeren Stress", meint provozierend Unternehmensberater Ferry Fischer. "Allen Stress machen wir uns selbst." Fischer hat seine Lektion gelernt: Kurz vor dem Burnout schmiss er seine glänzende Karriere in der Industrie hin und lehrt heute in Firmen die Kunst des Stressabbaus. Fischer läuft, meditiert und hält täglich zehn Minuten Mittagsschlaf, zur Not im Auto. "Das hat mein Leben gerettet." Tatsächlich verlangt der Organismus nach Aufregung zwingend sein Gleichgewicht. Körper und Geist müssen wieder auf Normalmaß kommen. Das Dilemma: Ganz ohne Mühe gehts nicht. Wer seinen Alltagsstress bekämpfen will, braucht dazu Mut und eine bewusste Entscheidung. Fünf Wege führen zum Ziel: 1. Der Mut, auch mal Nein zu sagen. 2. Die Energie, regelmäßig Ausdauersport zu betreiben. 3. Sich auf irgendeine Weise mental zu entspannen. 4. Die richtige Ernährung. Und 5. ausreichend Schlaf. Nur dann kann der Körper seine Ressourcen wieder aufbauen und die Zellen regenerieren. Warten Sie nicht, bis sich die Umstände ändern oder Sie dieses und jenes geschafft haben. Beginnen Sie sofort, und zwar in kleinen Schritten. Eines ist wichtig: Lassen Sie den Kampf gegen den Stress nicht zum Krieg ausarten. Wer alles auf einmal ändern will, setzt sich erneut unter Druck. Jede ruhige Viertelstunde zählt. Aber so viel Zeit muss sein.
Buchtipps Ferry Fischer: Durchbrechen Sie den Leistungszwang. mvg, 226 Seiten mit CD-Rom, 19,90 €.
Michael Stark, Peter Sandmeyer: Wenn die Seele SOS funkt. Fitnesskur gegen Stress und Überlastung. Rowohlt, 288 Seiten, 19,90 €.