Tango - Als der nach einem Schlaganfall gelähmte Patient diese Klänge aus seiner Jugend hörte, strahlte sein Gesicht. Und beim Refrain begannen seine Zehen behutsam zu zucken.
Zu den harten Rhythmen des Stones-Hits "I can't get no Satisfaction" den Alltagsfrust von der Seele tanzen, sich bei Traurigkeit von den sanften Melodien der "Moldau" aus Smetanas "Mein Vaterland" trösten lassen - Musik gehört zu unserem täglichen Leben, hilft, neue Kraft zu schöpfen. "Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum", wusste schon Friedrich Nietzsche. Auch im Volksmund ist die Wirkung der Musik auf die Seele bekannt. So erzählt ein alter Aberglaube vom Brauch, sich im Finstern durch Singen und Pfeifen Mut zu machen.
"Singen hilft gegen Angst und macht friedfertig, denn Singen schafft bei Angst körperliche und emotionale Sicherheit durch das Schwingen des Zwerchfells. Durch diese Schwingung wird das Sonnengeflecht aktiviert, das für die Regulation der Nervenempfindlichkeit zuständig ist. Wer bei Angst lange genug singt, bekommt immer wieder einen klaren Kopf und kann angemessen handeln", erklärt Prof. Hermann Rauhe, Präsident der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, der sich seit Jahren mit der Erforschung der Wirkung der Musik auf Körper und Seele beschäftigt und als Präsident wesentlich die Gründung des Instituts für Musiktherapie mit den Professoren Johannes Th. Eschen und Hans-Helmut Decker-Voigt förderte.
Im Dezember vergangenen Jahres wurde mit einer musiktherapeutischen Abteilung an der Klinik Gut Wienebüttel in Lüneburg auch die erste akademische Lehreinrichtung dieser Art im deutschsprachigen Raum eröffnet. Dort soll neben der Praxisausbildung der Hamburger Studenten die Musiktherapie Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten zugute kommen, wie etwa Menschen mit chronischen Schmerzen und psychosomatischen Beschwerden sowie Patienten im Koma. Zudem werden dort operationsbegleitende musiktherapeutische Methoden entwickelt.
Wie die Musik Menschen mit schweren Erkrankungen helfen kann, beschreibt Prof. Rauhe am Beispiel eines Schlaganfallpatienten, dessen Arzt es nicht gelang, den gelähmten Patienten zu irgendetwas zu bewegen. Prof. Rauhe befragte die Ehefrau, und sie erzählte ihm, dass sie ihren Mann bei einem Tango in der Tanzstunde kennen gelernt hatte. "Als ich dem Gelähmten diese Musik vorspielte, strahlte sein Gesicht, und er war wie verwandelt. Dieser Tango brachte den vorher resignierten und mutlosen Patienten buchstäblich wieder auf Trab: Zunächst leuchteten seine Augen, sein Gesicht strahlte. Beim Refrain begannen seine Zehen ganz behutsam zu zucken. Da wurde mir zum ersten Mal deutlich, dass gezielt ausgewählte, lebensgeschichtlich bedeutsame, rhythmisch pointierte Musik nicht nur seelisch, sondern auch körperlich wirkt", beschreibt Prof. Rauhe das Erlebnis. "Die körperliche Wirkung antriebsfördernder Musik lässt sich am Zucken des gelähmten Zehes, dem Ausschlag der Bewegungen, der durch die Musik ausgelöst wird, und der Verbesserung der Bewegungsfähigkeit unter dem Einfluss von Musik beobachten und messen", so der Musikwissenschaftler weiter.
Mit welchen Methoden die Musiktherapie arbeitet, erklärt der Psychologe und Musiktherapeut Prof. Hans-Helmut Decker-Voigt, Direktor des Instituts für Musiktherapie an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater und Leiter der musiktherapeutischen Abteilung der Lüneburger Klinik. "Als künstlerische Psychotherapie kann die Musiktherapie in zwei Methodenbereichen wertvolle Hilfe zur Lebensgestaltung mit und nach Krankheitsveränderungen leisten", so Decker-Voigt. Bei der so genannten rezeptiven Musiktherapie hört der Patient eine bestimmte Musik, die er selbst ausgesucht hat, zusammen mit dem Musiktherapeuten und analysiert anschließend mit ihm die Assoziationen und Gefühle, die er mit der Musik und damit seinem Lebenskonzept verbindet. Decker-Voigt berichtet von einer jungen Frau, die während des Musikhörens ein Kornfeld vor sich sah, in dem sie eine Schlange auf dem Boden sich bewegen sah. Beim anschließenden Gespräch stellte sich heraus, dass das Kornfeld für die erschöpfte Patientin Ruhe symbolisierte, nach der sie sich sehnte. "Aber immer dann, wenn sie diese kleine Zeit Ruhe am Tag für sich selbst organisiert hatte, kam jemand und forderte ihre Hilfe ein."
"Dosiertes Neinsagen und Abgrenzen übten wir dann in der zweiten Methode: der aktiven Musiktherapie", so Decker-Voigt. In dieser spielen Patienten mit Musiktherapeuten improvisierte Musik auf Instrumenten und mit der Stimme. Dabei zeigt sich im musikalischen Ausdruck von Rhythmus, Dynamik, Klang und Melodie die psychisch-emotionale Befindlichkeit des Patienten. "Entweder es spiegelt sich die gegenwärtige Situation wider, zum Beispiel eine Depression bei einer Krebspatientin, oder es zeigt sich in den Klängen und Tönen die Welt, nach der sich der Patient sehnt", so Prof. Decker-Voigt. Als Beispiel nennt der Musiktherapeut Patienten, die nach einem Herzinfarkt ihr Leben umstellen und einen neuen Rhythmus finden müssen. "Ich habe in einer Herzklinik gearbeitet, in der diese Patienten dort die nötigen neuen Rhythmen ihres Lebens am Tag, in der Woche, zwischen Freizeit und Arbeitszeit, für sich und andere etwas tun, musikalisch übten. Musikalisches Handeln ist in der Musiktherapie immer symbolisches Probehandeln", so Decker-Voigt.
Solche Ergebnisse, die sich auch in den jüngsten Übersetzungen von Decker-Voigts Büchern ins Japanische, Chinesische und Koreanische spiegeln, zeigen die große Chance der Musiktherapie: Sie kann an Lebenswendepunkten durch nichtsprachliches und sprachliches Erleben weiterhelfen, "Was die Musiktherapie ausmacht, sind die Brückengänge zwischen dem musikalischen Erleben des Patienten und seinen Sehnsüchten und Befindlichkeiten", so Decker-Voigt.