Es sieht gut aus, ist schnell einzukaufen, bequem in der Zubereitung, schmeckt auch ganz gut - das Lebensmittelangebot im Supermarkt ist toll. Aber Schlaraffia täuscht: Unsere Nahrung wird industriell intensiv “bearbeitet“. Wissen wir, was im Essen drin ist? Schmecken wir noch das natürliche “Original“? Und brauchen wir das überreiche Kalorienangebot?
Feierabend! Der Stress im Job ist überstanden. Eben noch einkaufen, damit abends was Gutes auf den Tisch kommt. Aber schnell muss es gehen, Karina will nun wirklich nicht mehr stundenlang am Herd stehen. Rein in den Supermarkt, eine rasche Runde, und dann packt sie an der Kasse aufs Band: Zwei Becher Waldbeer-Joghurt ("Da sind noch echte Früchte drin"), eine Tüte Hühnersuppe ("Schmeckt wirklich ganz gut!"), Puten-Salami ("Viel magerer als Schwein"). Frische Strauchtomaten ("Sehen aus wie gemalt, und man sieht sogar, wie die gewachsen sind"), Ziegenkäse-Zubereitung ("Kräuter und Knoblauch schon drin, lecker"), eine Spinat-Pizza für Manfred aus der Tiefkühltruhe ("Kann unser Italiener auch nicht besser, der ist nur netter") und noch zwei Flaschen Orangennektar - das klingt schon so göttlich. Beim Aufbäcker am Ausgang kommen kurz vor 19 Uhr noch frische Brötchen dazu. Ab nach Hause, ausgepackt, Pizza in den Ofen - in 12 Minuten kann die Schlemmermahlzeit losgehen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Karina liegt voll im Trend: Essen muss vor allem gut aussehen, darf keine Arbeit machen, muss praktisch verpackt sein und sich im Kühlschrank lange halten. Kein Problem: Der Supermarkt um die Ecke hat alles, und zwar immer, in jeder Menge. Paradiesische Zustände? Bei dem, was wir essen, hat sich in den vergangenen Jahren eine stille Revolution ereignet. Mit Ausnahme der Tomaten ist keines der Lebensmittel, die Karina gekauft hat, ohne industrielle Verarbeitung geblieben. Sie sind Massenware, optimiert für den Herstellungsprozess, optisch angehübscht, mit allen Tricks der Aroma-Industrie auf eine Geschmacksfülle getrimmt, die natürliche Zutaten zu diesen Preisen längst nicht mehr hergeben (und nicht alles, was drin ist, steht auch drauf). Und dann nostalgisch verpackt, um Frische und die Herkunft vom Bauernhof, der Almkäserei, vom Wochenmarkt, aus der Gourmetküche vorzugaukeln. Die schicken Strauchtomaten stammen aus denselben Gewächshäusern wie vor Jahren ihre blassen und unreifen Artgenossen; der Strauch bringt zwar Farbe in die Kiste, aber keineswegs den Geschmack der Sonnenreife. In den Industrieländern gibts heute fast alles fast immer, denn Saison ist rund ums Jahr. Spargel aus Südafrika? Kräuter aus Israel? Äpfel aus Neuseeland? Kein Problem - Hauptsache, alles ist billig. Dabei ist es noch nicht lange her, dass auch hierzulande - wie noch immer in großen Teilen der Dritten Welt - ein voller Bauch die Ausnahme war und das Küchenprogramm deutlich schlanker daherkam. Wir müssen da gar nicht zurückgehen bis zu den Mammutjägern und Wurzelsammlern (die auch noch körperlichen Einsatz bringen mussten, um satt zu werden). So lange Lebensmittel nicht massenhaft konserviert werden konnten, wechselten sich gute Zeiten, schlechte Zeiten in rascher Folge ab. Getreidebrei war Volksnahrungsmittel; und das Wort "Sonntagsbraten" erinnert daran, dass Fleisch auf vielen Tischen die geschätzte Ausnahme war. Erst im 19. Jahrhundert legte die Wissenschaft in weiten Teilen Europas und Amerikas die Grundlagen für reiche Ernten und fettes Vieh, und die Menschen lernten, Nahrung für schlechtere Zeiten haltbar zu machen. In rascher Folge kamen Blechdose, Kühlschrank, Tiefkühler und Gefriertrocknung zum Einsatz. Die Chemie steuerte Konservierungsstoffe und Aromen bei. Und unser Essen wurde spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Maßstab zum Spielball in den Labors der Industrie - zur Freude von Karina und Manfred, denen das "Convenience Food" (Bequemlichkeitsnahrung) viel Arbeit erspart. Nahrungsmittel sind Big Business, Handelskonzerne und Hersteller treten immer größer und mit immer stärkerer Marktmacht auf. Sie wollen, dass eine übersichtliche Zahl standardisierter Markenprodukte in ganz Europa, ja sogar weltweit erhältlich ist. Die Hersteller fertigen nicht mehr nur das Endprodukt, sondern entwickeln ständig neue Lebensmittel (55 000 waren es 1995 weltweit). Sie diktieren dem Handel die Preise, dominieren den Anbau, betreiben Grundlagenforschung. Gefragte Partner in der Wissenschaft: Chemie und Gentechnik. Weil sich große Mengen Lebensmittel nicht nach Hausfrauenart verarbeiten lassen, werden die Prozesse für große Anlagen neu gestaltet. Man zerlegt natürliche Rohstoffe in kleinste Bestandteile (Stärke, Fette, etc.), die sich fast beliebig zu neuen Nahrungsmitteln synthetisieren lassen. Was sich dann im Supermarkt in paradiesischer Überfülle präsentiert, steht gleichzeitig für eine Verarmung. Ärzte warnen: Der massenhafte Einsatz von Industrienahrung hat ihnen nicht nur jede Menge neuer Allergie-Patienten beschert. Die Dauertäuschung des Körpers über das, was die verzehrte Nahrung enthält, führt wieder zu Mangelkrankheiten, besonders bei Jugendlichen und alten Menschen. Und das überreiche Kalorienangebot bei gleichzeitiger Bewegungsarmut macht unsere Ernährung auch sonst zur größten Ursache vielfältiger, oft tödlicher Gebrechen: Übergewicht, Herzkrankheiten, Diabetes, abgenutzte Gelenke und anderes sind die Folgen. Wir werden satt, aber unsere Genussfähigkeit hat stark abgenommen: Das Wissen darüber, wie man bei Lebensmitteln Frische erkennt und wie etwas schmeckt, wenn es nicht aromatisiert ist, nimmt so dramatisch ab, dass besorgte Spitzenköche Geschmacksseminare anbieten. Jugendliche benötigen im Chemie-Zeitalter eine bis zu 20-mal höhere Dosierung von Aromen, um sie überhaupt wahrzunehmen. Unterscheiden können sie trotzdem nur eine erschreckend geringe Zahl: Sie wissen - wie viele Eltern - mehr über Computer, Autos und Markenklamotten als über das, was sie täglich in sich hineinstopfen. Dabei kann jeder anfangen, sich der globalen Entmündigung in Sachen Ernährung zu entziehen - immer wird das nicht gehen, aber immer öftter. Auch wenn es so bequem ist: Delegieren Sie nicht die Verantwortung für das, was Ihnen auf den Teller kommt, in blindem Vertrauen an industrielle Hersteller. Schauen Sie genau hin, lesen Sie, was drin ist, fragen Sie, kaufen Sie Dinge, die wenig verarbeitet sind, die kaum oder keine Zusatzstoffe enthalten. Lernen Sie wieder kochen, ohne Mikrowelle und Fritteuse! Wer gesund essen möchte, muss umdenken, hat etwas mehr Arbeit, wird aber auch mit größerem Genuss belohnt. Es gibt viele einfache Gerichte, die sich aus ganz wenigen guten Zutaten schnell zubereiten lassen: Kartoffelsuppe, Spaghetti mit Knoblauch und Olivenöl, Salat mit frischen Kräutern, Pellkartoffeln mit Quark. Weniger ist oft mehr. Gehen Sie beim Wochenmarkt auf Entdeckungsreise. Reden Sie mit Erzeugern, lernen Sie wieder verstehen, was bei Ihnen auf den Tisch kommt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Eine komplette Rückkehr ins gelobte Land der verbrauchernahen Kleinerzeu- ger wird kaum machbar sein. Denkbar ist allerdings, dass - ähnlich wie bei der Verbreitung von Bioprodukten - eine immer größere Zahl von Verbrauchern Qualität einfordert, beim Einkauf mit dem Geldbeutel abstimmt und damit ein Umdenken bei den Lebensmittelkonzernen anstößt. Gerade in einer Stadt wie Hamburg gibt es viele Spezialisten für fast jedes Nahrungsmittel - suchen Sie bei ihnen die geschmackvollen Originale statt der schönen, aber geschmacksarmen Fertigprodukte. Haben Sie mal einen höhlengereiften Emmentaler Käse aus Rohmilch neben seiner Industrie-Kopie probiert? Dazwischen liegen Geschmacks- und Genusswelten! Und was spricht im Ernst dagegen, bei der Auswahl dessen, was wir essen, wenigstens dieselbe Sorgfalt walten zu lassen wie bei der Auswahl von Ferienhaus, Lippenstift oder Motoröl