Abendblatt-Kulturchef Hans-Jürgen Fink berichtet für abendblatt.de aus ganz persönlicher Sicht vom alltäglichen Wahnsinn bei den Wagner-Festspielen aus Bayreuth.
Bayreuth. „Außenwelt!“ rufen die Geiger und Cellisten wie aus einem Mund, als beim Essen im Stammlokal „Mondi“ gegenüber vom Hauptbahnhof spät abends, lange nach dem Schlussakkord von „Siegfried“, noch ein Handy klingelt. „Außenwelt“ ist alles andere. Hier in Bayreuth sind sie drinnen – die Musiker, die an Wagners ausgewähltem Ort in dem von ihm geplanten Theater seine Werke spielen.
„Es ist etwas Besonderes, und man muss es wirklich wollen“, sagt Sebastian Gaede (41). Der Cellist der Hamburger Philharmoniker kommt seit 1995 jeden Sommer hierher. „Man wird empfohlen und dann eingeladen, spielt mit, dann setzt sich die Stimmgruppe noch einmal zusammen und schaut, ob das gepasst hat.“ Erst darf man wiederkommen. Jedes Jahr für zehn Wochen – fünf Wochen Proben und fünf Wochen Festspiele. Die Musiker stammen aus allen bedeutenden deutschen Orchestern, allein aus Hamburg spielen hier sieben Philharmoniker und acht NDR-Sinfoniker mit. Trotzdem sitzen hier nicht „die Hamburger“ zusammen, sondern die Stimmgruppen: Celli, Geigen, Oboen, Hörner, etc. Jede hat ihre eigenen Rituale, ihr spezifisches Restaurant. In manche gehen sie schon so lange, dass sogar die Lieblingsgerichte auf der Speisekarte nach den Musikern benannt sind..
Zehn Wochen Bayreuth bedeutet: vorher viele Dienste tauschen, Vor- und Nacharbeiten, um die letzten Wochen der Saison dafür freizuhaben. Und den Urlaub zu opfern. In Bayreuth zahlt man auch anders als in anderen Orchestern: Wenn die Bayreuther Unterkunft beglichen ist und das abendliche Auswärtsessen mit den Kollegen, dann bleibt nicht wirklich viel übrig. Man muss es wollen.
Der Lohn dafür, sagt der bekennende Wagner-Fan Sebastian Gaede, ist die Arbeit mit wunderbaren Musikern, Solisten und Dirigenten – Barenboim, Levine, Thielemann. Das Gefühl, durch den Gang mit den Bildern aller Dirigenten hinüber in den Orchestergraben zu gehen und da am Wunder von Bayreuth mitarbeiten zu dürfen. „Wer hier mitspielt, muss Freude an Wagners Musik haben und Freude an detailgetreuer Arbeit.“ Er mag das Eintauchen in den Grabenklang, wo Wagners Musik vor allem Orchester ist, weil die Sänger kaum zu hören sind. „Zwölf Celli – das ist ein Superklang!“ Darüber hinaus ist es wohl auch die große Freiheit von zehn Wochen, in denen der Hamburger Opern- und Orchesteralltag durch etwas anderes ersetzt wird: andere, aber langjährige Freundschaften, andere Sichtweisen, einen anderen Tagesablauf, oft auch eine andere Position im Orchester. Manche Konzertmeister spielen hier im Tutti, Gaede selbst ist in diesem Jahr zum erstenmal Vorspieler der Celli am ersten Pult.
Die Stimmgruppen ersetzen fast völlig die Familie, man macht auch mal „Kammermusik“. Das heißt aber nur so, denn eigentlich muss da vor allem das Runde ins Eckige – für den FC Rheingoal. Man wandert gemeinsam, lästert gemeinsam, sitzt beim Bier nach den Vorstellungen zusammen. Fährt mit dem Rad ganz sportlich jeden Abend hinauf zum Hügel. Drängt sich im Graben soweit zusammen, dass man entweder den Dirigenten sehen kann oder den Bogen richtig bewegen. Zehn Wochen Ausnahmezustand, zehn Wochen Wagner, weit weg vom Leben in Hamburg. Und wenn von dort jemand hier hineinklingelt, heißt es in Bayreuth fröhlich: „Außenwelt!“