Hamburg. Dienstältester Senator hat Hamburg geprägt. Sein größter Erfolg und sein größter Fehler. Warum er geht und welchen Hund er sich zulegt.
- Bisher nicht bekannt: 2018 brach Rot-Grün wegen Kerstan beinahe auseinander
- Als er bei den Grünen eintrat, fragte ihn seine Mutter: „Willst Du uns das auch noch antun?“
- Immer wieder Kritik an seinen häufigen Flügen nach Mallorca
Am Ende ist er für einen Moment ganz still, und seine Augen beginnen wässrig zu glänzen. Wer hätte das gedacht? Mehr als eine Stunde lang haben wir zusammengesessen im Büro von Jens Kerstan im zwölften Stock der Umweltbehörde in Wilhelmsburg. Beim dienstältesten Umweltsenator der Hamburger Geschichte, der bereits seit 2015 im Amt ist und den manche im Rathaus gerne als einen politischen Raufbold beschreiben. Und der verglichen mit der harmoniebedürftigen Katharina Fegebank seit Jahren immer wieder für seine Partei den „Bad Guy“ geben muss. Den harten Hund, der grüne Belange bei der SPD durchsetzt, hemdsärmlig und notfalls mit Drohungen.
Nun aber soll es mit all dem vorbei sein, denn Kerstan hört bald auf und wird Privatier. Das hat er uns an diesem Nachmittag erzählt und jetzt, gegen Ende des Gesprächs, sagt er noch: „Nur Privatmann sein, das wird sicher auch ein Abenteuer für mich.“ Und dann schweigt er, und am Horizont sieht man jetzt die Sonne hinter dem Kohlekraftwerk Moorburg untergehen, für dessen Stilllegung auch Kerstan gesorgt hat. Aber den Impuls, jetzt schnell ein passendes Foto vom scheidenden Senator im Abendrot zu machen, finden alle albern, und wir flachsen über Lucky Luke, wie der am Ende jedes Heftes in den Sonnenuntergang reitet. Nee! Viel zu kitschig!
Jens Kerstan: Krankheiten und „Zipperlein“ schwächen den Rekordsenator
Zu sentimental werden, das wollte Kerstan sowieso nicht. Vermutlich hat er deshalb zu Beginn unseres Treffens, als der Kaffee eingeschenkt und das Band gestartet war, mit Blick auf ein vorbereitetes Papier ziemlich staatsmännisch vorgetragen, was er zu tun gedenkt. „Nach langer und gründlicher Überlegung habe ich mich entschieden, zur nächsten Bürgerschaftswahl im März 2025 nicht wieder anzutreten und nach dem Ende dieser Legislaturperiode nicht mehr für das Amt als Umweltsenator zur Verfügung zu stehen“, hat er gesagt. Und: „Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen.“
Das merkt man an diesem späten Nachmittag in jeder Minute. Zwar habe er den Krebs, an dem er 2022 erkrankte, überwunden, sagt Kerstan. „Aber ich bin nicht ganz ohne gesundheitliche Sorgen. Und die langen Jahre der Verantwortung, insbesondere die zehn Jahre im Senat, haben Spuren hinterlassen. Und wir wissen alle: Die Zipperlein werden im Alter nicht weniger.“ Er habe sich die Frage gestellt, ob er für weitere fünf Jahre „mit der gleichen Leidenschaft, Kraft und dem erforderlichen unbedingten Willen“ arbeiten könne. Und habe diese Frage leider ehrlich mit Nein beantworten müssen.
Grüne Hamburg: „Willst du uns das auch noch antun?“, fragte seine Mutter
Also geht nun demnächst eine Ära zu Ende, und das ist nicht übertrieben, obwohl Kerstan gerade einmal 58 Jahre alt ist. Kaum ein Grünen-Politiker hat die Stadt in den letzten beiden Jahrzehnten so geprägt wie dieser Bergedorfer Sohn des wohlhabenden Mitgründers der Reederei TT-Linie. Er gehörte 2008 zu den Architekten des ersten schwarz-grünen Bündnisses auf Landesebene, setzte 2013 den Rückkauf der Energienetze zusammen mit einer Volksinitiative durch und sorgte als Umweltsenator dafür, dass bald zehn Prozent der Hamburger Fläche unter Naturschutz stehen. Vom ersten deutschen Dieselfahrverbot nicht zu reden, das er wegen der hohen Luftbelastung 2018 an zwei Straßen verhängte, aber das darf man so auch nicht nennen, dafür hat der damalige SPD-Bürgermeister Olaf Scholz gesorgt: Es heißt im Senatssprech seither „Durchfahrtsbeschränkung“.
Eingetreten bei den Grünen ist Kerstan 1998, und damals fragte ihn seine Mutter: „Willst du uns das auch noch antun?“ Als hätte es nicht gereicht, den Kriegsdienst zu verweigern! Und sein Vater Heinz, der Reeder und „ein Dickschädel wie ich“, wie Kerstan junior heute sagt, wollte damals wissen, wie er das denn seinen Geschäftspartnern erklären solle. Zu den Grünen!
Jens Kerstan: Gestählt auch durch das Aufwachsen mit zwei großen Schwestern
Jens Kerstan aber hat durchgezogen, was er für richtig hielt, gestählt womöglich auch durch das Aufwachsen mit zwei älteren Schwestern, da lernt Mann ja schon früh, einiges ein- und wegzustecken. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre arbeitete Kerstan zunächst bei der Körber-Stiftung, dann bei der Hauni Maschinenbau, und ab 1995 war er Vorsitzender des Naturschutzverbandes „Gesellschaft für ökologische Planung“ (GÖP). 2002 zog er in die Bürgerschaft ein, schon ein Jahr zuvor war er stellvertretender Grünen-Landeschef geworden, ein Amt, das er bis 2008 ausübte. Danach wurde er Chef der Grünen-Bürgerschaftsfraktion und blieb es, bis er 2015 zum Umweltsenator ernannt wurde.
Auf seine bisherige Amtszeit blicke er „mit Stolz und Zufriedenheit zurück“, sagt Kerstan. „Wir Grüne haben in dieser Zeit große, spür- und erlebbare und die Stadt positiv verändernde Projekte durchgesetzt.“ In den vergangenen zehn Jahren sei Hamburg um gut 120.000 Einwohner gewachsen, so Kerstan. Dennoch und trotz des intensiven Wohnungsbaus sei die Stadt grüner geworden. Es gebe heute „mehr Bäume, mehr Parks und mehr Spielplätze“, auch wenn die Opposition das immer wieder mal bestreite.
Naturschutz Hamburg: Bald sind zehn Prozent der Hamburger Fläche geschützt
Wenn demnächst auch der Vollhöfner Wald mitten im Hafen zum Naturschutzgebiet erklärt werde, stünden bereits zehn Prozent der Hamburger Landesfläche unter Naturschutz. Zähle man auch die Landschaftsschutzgebiete und den Biotopverbund dazu, seien 23 Prozent besonders geschützt. „In einer so stark wachsenden Millionenmetropole wie Hamburg ist das ein beispielloser Erfolg, deutschland- und europaweit einmalig“, sagt Kerstan. Wie wichtig ihm das auch persönlich ist, spürt man, wenn man mit dem einstigen Chef eines Umweltverbandes durch diesen kleinen Vollhöfner Urwald mitten in der Stadt wandert und er liebevoll und empathisch einen kleinen Frosch auf die Hand nimmt, um ihn dann strahlend wieder davonhüpfen zu lassen.
Als enorme Fortschritte für Hamburg, die es ohne die Grünen nicht gegeben hätte, wertet Kerstan übrigens auch die Deckel über die Autobahn 7 und die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße, ebenso die Erweiterung von Planten un Blomen und des Alstervorlands „Die Deckel sind ein Meilenstein in unserem Anliegen, Zehntausende Hamburgerinnen und Hamburger vor gesundheitsschädigendem Lärm zu schützen und für mehr Lebensqualität an ihrem Wohnort zu sorgen“, sagt er.
Rückkauf der Energienetze: Das ist für Kerstan sein größter Erfolg
Fragt man ihn nach seinem größten Erfolg, so kommt Kerstans Antwort prompt: Ganz klar, der siegreiche Volksentscheid zum Rückkauf der Energienetze von Strom, Gas und Fernwärme 2013 und dann vor allem die Umsetzung, die Übernahme der riesigen Netze von Vattenfall und E.on und die Neustrukturierung der Netzunternehmen in Hamburger Hand, die er als Senator zu organisieren hatte.
Dabei war es am Ende gar nicht leicht, den Volksentscheid auch umzusetzen. Beinahe wäre sogar die rot-grüne Koalition darüber geplatzt. Das lag nicht an den Netzen für Strom und Gas, deren Übernahme relativ komplikationslos funktionierte. Bevor die Stadt aber zum Jahreswechsel 2018/2019 die Fernwärme vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall übernehmen wollte, tauchte plötzlich eine Berechnung auf, nach der die Leitungen und Anlagen mittlerweile weit weniger wert seien als die 950 Millionen Euro, die SPD-Bürgermeister Olaf Scholz Vattenfall nach dem Volksentscheid zugesagt hatte.
Fernwärme Hamburg: 2018 wäre über den Rückkauf beinahe die Koalition geplatzt
Ein überteuerter Kauf wäre nicht vereinbar mit der Landeshaushaltsordnung gewesen, deswegen stellten sich die SPD und der im März 2018 ins Amt gekommene neue Bürgermeister Peter Tschentscher nun quer, wie Kerstan berichtet. Die Öffentlichkeit bemerkte das damals kaum, aber an dieser Stelle wäre offenbar beinahe die rot-grüne Koalition zerbrochen.
Denn Kerstan machte klar, dass ein Bruch des Volksentscheids durch den Verzicht auf den kompletten Fernwärmerückkauf mit ihm nicht zu machen sei. „Ich wäre zurückgetreten, der Saal für unsere Mitgliederversammlung zum Ausstieg aus der Koalition war schon gebucht“, berichtet der Senator heute über die damals dramatische Lage. Den Ausweg aus der Koalitionskrise brachte schließlich ein neues Gutachten, nach dem die Fernwärme unter Berücksichtigung anderer Faktoren sogar mehr als eine Milliarde Euro wert sei. Am Ende ging die Übernahme wie geplant über die Bühne – unter hörbarem Zähneknirschen der SPD.
Im Zweifel setzte Kerstan grüne Interessen immer auch mit Drohungen durch
Die Opposition sprach seinerzeit von „Hütchenspielertricks“ des Senats, aber Kerstan ficht das bis heute nicht an. „Mit der größten Rekommunalisierung in Deutschland war Hamburg Vorreiterin und hat inzwischen weltweit Nachahmerinnen und Nachahmer gefunden“, sagt er. „Seit Neuestem interessiert sich sogar Neuseeland dafür, wie wir die Rekommunalisierung erreicht haben. Durch diese Entscheidung hat Hamburg eine unschätzbar große Handlungsfähigkeit in der Energie-, Klima- und Standortpolitik gewonnen. Die Grünen haben eine, ich würde sogar behaupten, die entscheidende Weichenstellung vorgenommen, um Hamburg zukunftsfähig aufzustellen.“
Dass Kerstan im Zweifel immer auch mit Druck durchsetzte, was er für politisch richtig hielt, hatte er auch schon zu Zeiten von Bürgermeister Olaf Scholz gezeigt. So drohte er 2016 exklusiv im Abendblatt damit, das neue „Bündnis für das Wohnen“ platzen zu lassen, wenn die damalige Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt (SPD) nicht vorher einem Ausgleichsmechanismus für durch Wohnungsbau verlorenes Grün zustimme.
Mallorca: Die Insel der Deutschen ist so etwas wie die Achillesferse des Umweltsenators
Alle Versuche der SPD-Seite, den Konflikt noch vor Veröffentlichung des Abendblatt-Artikels wieder einzufangen, scheiterten. Kerstan war gewissermaßen „nach Diktat verreist“, saß bereits im Flieger nach Mallorca und war für Scholz und Co. nicht erreichbar. Am Ende setzte der grüne Dickschädel sich durch, und der Naturcent als Ausgleich für die Bebauung von Grünbebauung wurde beschlossen.
Apropos Mallorca: Diese liebste Insel der Deutschen ist gewissermaßen immer die Achillesferse des Umweltsenators gewesen. Weil seine Familie dort ein Haus besitzt, fliegt Kerstan immer mal wieder hin, um dort Urlaub zu machen. Natürlich wurde ihm das über die Jahre regelmäßig vorgeworfen, schließlich schadet Fliegen der Umwelt und dem Klima.
Rathaus Hamburg: Jens Kerstan hat einen überraschenden Lieblingsbürgermeister
Er hat sich, wie es so seine Art ist, auch davon nicht beeindrucken lassen – aber zuletzt stets betont, dass er zum Ausgleich für die Fliegerei Anteile an einer Genossenschaft erworben habe, die mit dem eingenommenen Geld abgeholzte und abgebrannte Regenwaldgebiete in Panama wieder aufforste. „Wasser predigen und Wein saufen“, dieser klassische Vorwurf an Politiker, trifft auf Kerstan sowieso eher nicht zu, schließlich trinkt der viel lieber guten Whiskey als Wein. Dass Kerstan, der privat hin und wieder seinen mittlerweile fast zum Oldtimer gereiften Peugeot-Cabrio 206 CC fährt, eher Genussmensch als Asket ist, zeigt auch sein stetiger Kampf gegen den Bauch. Früher führte er den mit winterlichen Almased-Diätkuren, heute mithilfe eines persönlichen Fitnesstrainers.
Wenn man die drei Bürgermeister vergleicht, mit denen Kerstan in all den Jahren in unterschiedlichen Rollen zusammengearbeitet hat, dann war ihm wohl tatsächlich Ole von Beust der liebste. Nicht nur, weil der CDU-Senatschef den Grünen bei der Bildung der ersten schwarz-grünen Koalition auf Landesebene 2008 in so vielen Punkten entgegenkam. Sondern auch, weil Kerstan die CDU seinerzeit als verlässlichen Partner erlebte. Daran änderte sich auch nichts, weil manche Christdemokraten Kerstan zuvor als „Kermit“ verspottet hatten, da seine Stimme bisweilen bei Reden angeblich etwas quäkend klingt oder sich hin und wieder überschlägt. Am Ende ging es Kerstan nicht um so etwas, sondern um Politik. „Die CDU hat sich immer an Absprachen gehalten“, erinnert er sich. „Bei der SPD war das keinesfalls immer so.“
I wo! Jens Kerstan selbst sieht sich nicht als politischen „Raufbold“
Olaf Scholz galt den Grünen zwar stets als harter Verhandlungspartner, aber mit ihm kam Kerstan dann doch auch ganz passabel zurecht, zumal Scholz Politisches und Persönliches zu trennen vermag. Zum aktuellen SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher dagegen scheint auch das persönliche Verhältnis zerrüttet. Immer wieder rasselten Kerstan und Tschentscher hart aneinander, sei es beim Streit über die Verklappung von Elbschlick oder beim Thema Cum Ex, diesem gigantischen Steuerbetrug, bei dem die Rolle von Scholz und Tschentscher seit Jahren von einem Untersuchungsausschuss hinterfragt wird. Zwischenzeitlich gaben sich die beiden angeblich nicht einmal mehr die Hand.
Streit um des Streits willen möge er aber in Wahrheit gar nicht, betont Kerstan immer wieder. „Ich sehe mich auch nicht als Raufbold“, sagte er schon vor Jahren. „Aber ich sorge dafür, dass die Grünen in der Koalition öffentlich wahrgenommen werden und ein klares Profil in Umwelt- und Energiefragen zeigen. Im Zweifel muss man da auch klare Kante zeigen.“
Plädoyer für Berufspolitiker und ein Dauerrivale bei den Grünen
Klare Kante zeigte Kerstan über die Jahre auch in grundsätzlichen Fragen, etwa wenn er dafür eintrat, aus der Hamburgischen Bürgerschaft statt dem bisherigen Teilzeit- ein Vollzeit-Parlament zu machen. Politik sei ein so komplexes Geschäft, dass man dafür Berufspolitiker brauche, argumentierte Kerstan. Auch in seiner eigenen Partei zog Kerstan sein Ding durch, etwa wenn es um seine persönlichen Ambitionen ging.
Dabei kam es immer wieder zu Kampfkandidaturen gegen den heutigen Grünen-Bundestagsabgeordneten und früheren Justizsenator Till Steffen – und immer wieder setzte sich Kerstan durch. So besiegte er Steffen etwa beim Kampf um den Fraktionsvorsitz in der Bürgerschaft, und 2014 wurde er nach knappem Sieg über seinen Dauerrivalen neben Katharina Fegebank zum Spitzenkandidaten der Grünen für die Bürgerschaftswahl 2015 nominiert.
Einmal verklagte Kerstan den Mann, der später Wirtschaftssenator wurde
Aber auch außerhalb des Rathauses zeigte sich Kerstan stets streitbar. So verklagte er 2014 etwa den damaligen Industrieverbandschef Michael Westhagemann auf Unterlassung, weil der in einer Talkshow bei Hamburg1 sinngemäß gesagt hatte, Kerstan glaube ja schon selber nicht mehr, dass der Netzrückkauf eine gute Sache sei.
Auch hier gewann Kerstan: Westhagemann gab zwar keine formelle Unterlassungserklärung ab, sein Anwalt aber teilte mit, er werde die Behauptung nicht wiederholen. Später arbeitete Kerstan dann professionell mit Westhagemann zusammen, nachdem dieser 2018 auf SPD-Ticket zum parteilosen Wirtschaftssenator ernannt worden war.
Seine größte Stütze war über all die Jahre sein Staatsrat Michael Pollmann
So oder so: Bei der SPD rauften sie sich in den vergangenen fast zehn Jahren regelmäßig die Haare, wenn Kerstan mal wieder provozierte. Etwa, wenn er plötzlich den Erhalt der Köhlbrandbrücke ins Spiel brachte, obwohl diese laut Senatslinie einfach zu marode ist – oder wenn er entgegen dem Koalitionsvertrag den Verzicht auf die umstrittene Autobahn 26 Ost forderte. Bei den wohlwollenderen Genossen hieß es dann stets achselzuckend: „So ist er halt, unser Jens.“
Dafür, dass die Zusammenarbeit in der Koalition dennoch klappte, sorgte bis zu seinem Rücktritt im Spätsommer auch Kerstans Staatsrat Michael Pollmann, der den größten Teil des Handwerks in der Umweltbehörde geräuschlos und hochprofessionell erledigte und auch stets bei SPD-Bürgermeister Tschentscher in hohem Ansehen stand.
Natürlich war Kerstan auch stets die Zielscheibe von harter Kritik
Bei all den internen Querelen ist Kerstan aber logischerweise bis heute auch stets eine Zielscheibe der Opposition. Denn natürlich kann man trefflich politisch über vieles von dem streiten, was Kerstan tut (oder nicht tut). Sei es der Netzrückkauf, das Dieselfahrverbot (pardon: die Durchfahrtsbeschränkung) oder die Tatsache, dass die Stadt beim Ausbau von Photovoltaik reichlich hinterherhinkt. Auch dass das marode Kohlekraftwerk Wedel trotz anderslautender Versprechungen noch immer läuft, während das viel modernere Kraftwerk Moorburg stillgelegt wurde, wird Kerstan immer wieder angekreidet.
CDU-Umweltpolitiker Sandro Kappe triezt den Umweltsenator seit Jahren mit einer gefühlten Tonne Kleiner Anfragen pro Woche – und rechnet mittels riesiger Excel-Tabellen immer wieder vor, dass Hamburg unter Kerstan Bäume verliere. Der widerspricht jedes Mal, und das Absurde an der Sache ist, dass sich dieser Streit nicht vollständig aufklären lässt, weil dazu Teile der notwendigen Statistiken (etwa aus den Bezirken) fehlen. Hamburg hat ja bis heute nicht einmal einen vollständigen Überblick darüber, wie viel seiner Fläche versiegelt ist – trotz all der Satelliten im All und obwohl es Dienste wie Google Earth seit fast 20 Jahren gibt.
Habeck und Co.: Kerstan kritisiert das „Grünen-Bashing“ der Union
Natürlich weiß Kerstan bei all dem, dass er polarisiert und dass man in seiner Rolle auch verbale Dresche bekommt. Schließlich teilt er ja auch selber zur Genüge aus. Was ihn allerdings irritiere, sei dieses derzeit so angesagte „Grünen-Bashing“, diese Ablehnung seiner Partei über fast alle politischen Gruppierungen und Interessengruppen hinweg, die immer stärker in Hass umzuschlagen drohe, sagt er. Vor allem der Union wirft Kerstan vor, diese „für die gesamte Demokratie ungute Entwicklung“ voranzutreiben. Es sei schlicht nicht akzeptabel, wenn eine demokratische Partei eine andere so herabwürdige, als sei sie eine Gefahr für das Land – und dabei aber tatenlos zuschaue, wie Parteien am rechten Rand immer größer würden.
Dabei sieht Kerstan durchaus auch Fehler bei seiner eigenen Partei – und auch bei sich selbst. So wertet er es heute, um zuerst über Hamburg zu sprechen, als großen Fehler, dass die Grünen sich 2009 nicht mit der Volksinitiative zur Verhinderung der von Schwarz-Grün geplanten Primarschule auf einen Kompromiss geeinigt haben. „Am Ende haben wir durch die Niederlage beim Volksentscheid die nötigen Schulstrukturdebatten in ganz Deutschland auf Jahre gekillt“, so Kerstan.
„Putin und seine Troll-Armeen haben die Grünen ins Visier genommen“
Was die aktuelle Lage seiner Partei auch im Bund angeht, so wähnt der Hamburger Rekord-Umweltsenator unterschiedliche feindliche Kräfte am Werk. „Die fossile Industrie versucht, in einem letzten Aufbäumen, mit viel Geld eine Energieversorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren immer noch zu verhindern“, sagt er. „Und daneben sind wir ein Hauptgegner für all jene, die die Demokratie destabilisieren wollen, wie die Rechten oder Putin und seine Troll-Armeen im Internet. Nicht nur, weil wir in der Bundesregierung sind, sondern zwischenzeitlich auch an elf Landesregierungen beteiligt waren“, so Kerstan. „Und das kriegen wir auch voll zu spüren.“
Zugleich aber hätten die Grünen in der Berliner Ampelkoalition auch Fehler gemacht. „Das zu früh durchgestochene und in der öffentlichen Debatte schlecht erklärte ambitionierte Heizungsgesetz hat Vertrauen gekostet“, sagt er. Aber auch die Tatsache, dass das versprochene Klimageld an die Bürger noch nicht ausgezahlt werde, weil FDP-Finanzminister Christian Lindner das Vorhaben ausgebremst habe.
Dabei sei das Anliegen der Grünen, den Planeten zu schützen, wichtiger denn je. Im Grunde sei auch der Begriff „Klimaschutz“ falsch, gehe es doch um den Schutz von Menschen, so Kerstan, nicht um den Schutz des Klimas. Es sei dabei mittlerweile klar, dass die Gegner von Klimapolitik heute sehr häufig identisch seien mit den Gegnern der Demokratie.
Was Kerstan seiner Partei rät: Lieber kämpfen als lamentieren!
Bei all dem will Kerstan nicht lamentieren, er plädiert fürs Kämpfen, wie es so seine Art ist. „In der Politik ist es die falsche Strategie, die andere Wange hinzuhalten“, sagt er. „Man muss gegenhalten.“ Gerade die jüngeren Grünen seien es nicht gewohnt, dass der Wind so hart von vorne komme wie dieser Tage. „Aber dieser Sturm wird vergehen, und wir müssen ihm standhalten. Wir Grünen haben immer an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn wir auch in stürmischen Zeiten an unserem Kurs festgehalten haben. Am Ende werden wir uns durchsetzen. Weil wir mit unseren Anliegen recht haben. Die Klimakrise verschwindet nicht, wenn man die Grünen an den Pranger stellt.“
- Vollhöfner Wald: Urwald im Hafen – Hamburg erhält besonderes Naturschutzgebiet
- Jens Kerstan: Bürgersohn, Basisdemokrat, Berufspolitiker
- Krankheit und Pechsträhne: Die Leiden des Jens Kerstan
Er selbst will in seinen letzten Monaten als Senator weiter für grüne Themen streiten und als eines der bekanntesten Gesichter der Hamburger Grünen auch im beginnenden Wahlkampf und bei Bedarf auch danach mit ganzer Kraft für die grüne Sache eintreten.
Jens Kerstan: Bald könnte die Zeit für einen Hund gekommen sein
Und dann, wenn irgendwann auch diese letzte grüne Schlacht für ihn geschlagen ist, was kommt dann? „Wer mich kennt, der weiß, dass für mich die politische Arbeit nie nur ein Job, sondern mein Lebenstraum ist und mein Leben ausgemacht hat“, sagt er an diesem Nachmittag, als die Sonne bereits untergegangen ist. „Einen Plan B für danach habe ich noch nicht. Aber ich freue mich darauf, über meine Zeit wieder mehr selbst zu bestimmen.“ Anders ausgedrückt: Ab und zu mal auszuschlafen ist sicher auch kein Nachteil.
Vielleicht rückt im Frühjahr 2025 dabei ja auch ein anderes, gänzlich unpolitisches Thema auf die Agenda dieses durch und durch politischen Menschen. Dann wird sich Jens Kerstan, der seit Jahren allein in seinem Haus in Bergedorf wohnt, womöglich endlich einen Hund zulegen, wie er es sich schon lange gewünscht hat. „Vielleicht einen Münsterländer“, sagt er. „Wie wir ihn in meiner Kindheit zu Hause hatten.“ Fragt sich dann nur noch, wie der am besten mit nach Mallorca kommt.