Wilhelmsburg. Kooperation zwischen Zinnwerken und Hafen City Universität entsteht aktuell in recycltem Futtersilo. Was dort in Kürze entwickelt wird.

  • Baustoffherstellung gilt mittlerweile als eines der größten Klimarisiken
  • Nachwachsende Rohstoffe müssen her – im Nachwachsen sind Pilze Meister
  • Um aus Pilzen einen Baustoff der Zukunft zu machen, haben sich Forscher der HCU und Kreative der Wilhelmsburger Zinnwerke für eine einmalige Kooperation zusammengetan

Pilze? An den kleinen Leckerbissen aus dem Wald scheiden sich die Geister, und mancher hat Angst, überhaupt Pilze zu essen, obwohl nur die wenigsten giftig sind. Auf die Idee, aus Pilzen Häuser zu bauen, kommt allerdings kaum jemand. Weil es nicht geht? Noch nicht. Aber bald. Mit dazu beitragen wird ein Projekt, das die Hafen-City-Universität (HCU) und die Wilhelmsburger Zinnwerke gerade auf die Beine stellen.

Ungewöhnliche Kooperation: HCU-Forscher und Zinnwerker entwickeln Baustoff der Zukunft

HCU und Zinnwerke errichten auf dem Gelände der Zinnwerke ein Forschungs- und Anschauungslabor, in welchem sie pilzbasierte Werkstoffe weiterentwickeln und der Öffentlichkeit bekannt und erfahrbar machen wollen. Möglich wird das durch eine 200.000 Euro starke Förderung aus dem Programm „#UpdateHamburg 2024“ der Hamburgischen Investitions- und Förderbank

Warum aber sollte man aus Pilzen Gebäude errichten? Es gibt doch schon Ziegel, Sandstein, Beton. Glas, Stahl und viele weitere traditionelle Baustoffe. Noch, lautet der Einwand gegen dies Argument. Bautauglicher Kies etwa wird bereits zur Mangelware, andere Rohstoffe dürften auch irgendwann knapp werden. Außerdem ist die Herstellung von Ziegel und Zement sehr energieaufwendig, die von Glas oder Stahl sogar noch mehr. Die Baustoffherstellung gilt mittlerweile als eines der größten Klimarisiken.

Ein Pilz ist mehr, als Stiel und Kappe: Erst unter der Erde wird er riesig

Nachwachsende Rohstoffe müssen also her. Und im Nachwachsen sind Pilze Meister. Das haben sie über gut 300 Millionen Jahre geübt.

An dieser Stelle muss man mit einem Missverständnis aufräumen: Das, was man sprach-prototypisch – also gemeinhin – als Pilz versteht, ist nur ein kleiner Teil eines großen Lebewesens, nämlich einer von vielen Fruchtkörpern. Der allergrößte Teil des Lebewesens ist ein feines Fadengewebe im Waldboden oder im Holz, mit Pech auch in der Hauswand oder in der Marmelade.

Pilz-Baustoffe
Könnte auch Kunst sein: Myzelbaustoff unter der Lupe. © HA | Martha Starke

Dieses Gewebe, das Myzel, kann riesige Ausmaße annehmen. Das größte Lebewesen der Welt ist nicht etwa ein Blauwal oder ein Urwaldbaum, sondern ein neun Quadratkilometer großer Hallimasch an der Westküste der USA. Sein Alter wird auf 8500 Jahre geschätzt, sein Gewicht auf 400 Tonnen und weil der Pilz noch lebt, wächst er auch noch.

„Pilze sind die großen Verwerter im natürlichen Kreislauf“, sagt Professor Karsten Schlesier von der HCU. „Sie nehmen sich auch die letzten organischen Stoffe aus dem Waldboden oder im Totholz und setzen sie wieder in lebende Materie um.“

Forscher lassen Pilzgewebe in der benötigten Form wachsen

Diese Eigenschaft der Pilze macht sich die Baustoffforschung zu Nutze, nicht nur an der HCU, sondern auch an anderen Hochschulen, wie Darmstadt oder Karlsruhe. Die Forscher setzen Pilzgewebe auf ein nährstoffreiches Substrat an und lassen es wachsen. Dabei wird es mehrfach „umgetopft“ und auf neues Substrat angesetzt. Jedesmal entsteht dabei ein noch engmaschigeres Geflecht aus Myzelfäden.

Der letzte „Blumentopf“ ist dann die Form, die das Werkstück später haben soll, beispielsweise ein hohler Quader, in dem ein „Baustein“ wächst oder eine rechteckige Mulde für eine Bauplatte. Anders, als Baumwurzeln, die hauptsächlich aus Zellulose bestehen, besteht Myzel aus Eiweiß. Trocknet man es, wird es hart und durch die Geflechtstruktur sehr stabil.

„Was einst in unserer heimischen Küche begann, kann nun im Rahmen eines echten Labors weiterwachsen“

Martha Starke
Projektleiterin, Zinnwerke

Gleichzeitig sind Myzel-Werkstücke sehr leicht. Sie sehen aus, wie aus Pappmaché, heben sich wie Styropor, fühlen sich an, wie Reiswaffeln und riechen ganz leicht nach Essen. In der Zinnwerke-Küche sind bereits zwei Lampenschirme entstanden und auch ein Wandpaneel. Andere Forschungseinrichtungen haben Wandpaneele aus Pilzmyzel auch schon in diversen Gebäuden als Akustikelemente verbaut.

Ein Wunderbaustoff ist Myzel noch nicht. Aber auch daran soll in dem Projekt gearbeitet werden. „Unter anderem wird es darum gehen, die Fertigungstoleranzen in den Griff zu bekommen“, sagt Karsten Schlesier

Die zukünftigen Laborräume werden gerade aus einem ehemaligen Futtersilo recycelt

Ein anderes Problem ist die Massenfertigung: Myzel muss im Reinraum produziert werden. „Nur wenige Sporen einer anderen Pilzart rechen aus, um das Ergebnis zu beeinträchtigen“, so Schlesier.

Gut geeignet für Baustoff-Myzel seien Baumpilze, sogenannte Destruenten; wie Austernpilz, Lackporling oder Schmetterlingstramete, findet Schlesier. „Gefüttert“ werden diese Pilze ebenfalls mit nachwachsenden Rohstoffen oder aus deren Abfällen: Sägespäne und Getreidespelzen sind ein Festmahl für die Pilze.

Für das Forschungs- und Anschauungslabor räumen die Zinnwerke gerade einen Teil ihres Außengeländes frei. Projektleiterin auf der Zinnseite ist Martha Starke. Die ist von Haus aus Kommunikationsdesignerin und deshalb auch an den gestalterischen Möglichkeiten des neuen Materials interessiert. Vor allem aber ist sie eine erfahrene interdisziplinäre Geistesarbeiterin, die schon in diversen „Summer Schools“ der Zinnwerke Forschung, praktische Umsetzung und Präsentation wissenschaftlicher Projekte zielführend koordiniert hat.

„Es gilt nun, die Materialeigenschaften des neuen Baustoffs so weiterzuentwickeln, dass er auch konstruktiv einsetzbar wird.“

Karsten Schlesier
Professor, Hafen City Universität

Sie hofft unter anderem, dass das Pilzlabor dazu beitragen kann, die geplante Sanierung des Zinnwerke-Areals von Anfang an klimaneutral und zukunftsweisend durchzuführen. „Wir freuen uns riesig über diese Chance!“, sagt sie. „Was einst in unserer heimischen Küche begann, kann nun im Rahmen eines echten Labors weiterwachsen. Durch die Zusammenarbeit mit der HCU schaffen wir eine Brücke zwischen Experiment und Praxis. Das hilft uns, auch in Zukunft weiter an biobasierten Lösungen für die Bauwende zu arbeiten und diese zu erproben“.

Forschungsprojekt der HCU in Wilhelmsburg: Altes Futtersilo wird als Labor aufbereitet

Die zukünftigen Laborräume konnten die Zinnwerke mit dem Glück der Tüchtigen organisieren: Ebenfalls ein Projekt der kreativen Wilhelmsburger ist die Belebung des Maschener Dorfkerns. Als sich die Zinnwerker dafür in Maschen umsahen, fiel ihnen ein Futtersilo ins Auge, das auf einem aufgegebenen Bauernhof auf den Abbruch wartete. Die drei zusammenhängenden rechteckigen Behälter werden demnächst aufbereitet, begehbar gemacht und eingerichtet.

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Begleitet wird das Projekt von Hochschulseminaren, Schulprojektwochen, öffentlichen Veranstaltungen, Workshops und kulinarischen Formaten. „Es gilt nun, das Anwendungsfeld besonders im Bauwesen zu erweitern und das Material hinsichtlich seiner Eigenschaften so weiterzuentwickeln, dass es auch konstruktiv einsetzbar wird.“ skizziert Karsten Schlesier die akademische Marschroute.

„Die Zusammenarbeit mit den Zinnwerken ermöglicht uns und unseren Studierenden auch, diese Entwicklung gemeinsam mit Menschen aus vielen Bereichen der Zivilgesellschaft voranzutreiben und sich in Sachen Pilzmyzel im wahrsten Sinne des Wortes stabil und nachhaltig zu vernetzen.“