Bergedorf. Die furchtbaren Hitler- und Kriegsjahre sind vorbei, unsere Serie widmet sich fortan der jüngeren Gegenwart. Ein erstes Fazit.
Nach zuletzt acht Wochen voller Hitler-Propaganda ist heute endlich Schluss: Unsere Serie zu 150 Jahren Bergedorfer Zeitung wechselt in die Gegenwart – oder besser: in die Zeit der jungen Bundesrepublik. Es sind ab sofort die Jahre an der Reihe, die zunächst einige unserer Leser und von Woche zu Woche dann immer mehr von ihnen selbst miterlebt haben. Beginnend mit 1949, als die Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner nach exakt sechs Jahren und sieben Monaten Zwangspause die Bergedorfer Zeitung am 1. Oktober wieder erscheinen ließ, wollen wir von nun an jedem Jahrgang einen eigenen Serienteil widmen. Los geht es damit am kommenden Wochenende.
Heute ist es Zeit für ein erstes Fazit. Seit Weihnachten 2022 präsentieren wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, an jedem Wochenende ein ausführliches Stück zur Geschichte unserer Redaktion und der Region Bergedorf. Alles in chronologischer Abfolge veröffentlicht von den ältesten Fundstücken aus 1863 und 1867 aus unserem Archiv bis zum Druckverbot der Nazis: Am 28. Februar 1943 war Schluss, angeblich aus Papiermangel.
Mit Jubel an die Front: Kriegsbegeisterung von 1914 – heute unvorstellbar
Für mich als Autor waren die bisher rund 40 Folgen ein spannendes Abenteurer. Es ist ein einzigartiges Erlebnis, mithilfe einer fast lückenlos erhaltenen Lokalzeitung so tief und vor allem so lebendig in unsere Bergedorfer Vergangenheit einsteigen zu können. Zwar bin ich als studierter Sozial- und Wirtschaftshistoriker vom Fach, aber nie hätte ich mir zum Beispiel vorstellen können, dass Massen mit enthusiastischer Begeisterung an die Front stürmen können. Aber 1914 war das so: Für Kaiser und Vaterland ging es in den Ersten Weltkrieg.
Es war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mit mörderischen Folgen, die unsere Welt bis heute prägen. Auch deshalb, weil sie nicht mal zwei Jahrzehnte später, nach Hungerjahren, Hyperinflation und gescheiterter Demokratie schon wieder den Boden bereitet, dass die Massen den großspurigen Versprechungen eines Adolf Hitler und seiner Nazi-Schergen auf den Leim gehen sollten.
Bergedorfs Geschichte als spannendes Abenteuer: Spurensuche im Zeitungsarchiv
Der schier unerschöpfliche Fundus Zehntausender Zeitungsausgaben in unserem Archivkeller, zusammengefasst in riesigen Jahres- oder Halbjahresbänden, werfen einen mehr als lebendigen Blick auf derartige Ereignisse der Weltgeschichte – ebenso wie auf Bergedorfer Meilensteine oder Merkwürdigkeiten. Deshalb habe ich mir im nun abgeschlossenen ersten Teil unserer Serie erlaubt, die ältesten acht Jahrzehnte unseres Archivbestands auch nach spannenden Schlaglichtern der Lokalgeschichte zu durchforsten.
Explosiv: Neuengammer Flamme lockt 1910 Hunderttausende nach Bergedorf
Im Ergebnis sind dabei echte Fundstücke aufgetaucht. Zu meinen persönlichen Favoriten unter den vielen Serienteilen gehört die Neuengammer Flamme von 1910. Täglich berichtete die Bergedorfer Zeitung damals den ganzen November über von Tausenden Schaulustigen und an den Wochenenden sogar weit über 100.000 Menschen, die vor allem mit der Bahn kamen und den viel zu kleinen Bergedorfer Bahnhof regelmäßig ins Chaos stürzten. Entstanden war das zehn Meter hohe und mehrere Meter breite Feuerkreuz bei Bohrungen der Hamburger Stadtwasserkunst. Doch statt auf Grundwasser stieß man in rund 250 Meter Tiefe auf Erdgas. Die Flamme brannte vier Wochen – und stellt den Ursprung der lange Zeit ergiebigen Erdölförderung in den Vier- und Marschlanden dar.
Aber auch das jahrelange Ringen um die Ansiedlung der Hamburger Sternwarte in Bergedorf, die 1906 bis 1912 dann tatsächlich auf dem Gojenberg gebaut wurde, ist eine dieser einzigartigen Geschichten. Auch das hat unsere Zeitung mit viel Heimatliebe und energischem Engagement begleitet.
Bahndamm und Durchbruchstraßen: Zwei Verkehrsprojekte verändern Bergedorf
Das Bild der alten Stadt Bergedorf nachhaltig verändert haben zudem zwei Verkehrsprojekte: 1929 schlugen die Stadtväter die heutige Vierlandenstraße mitten durch Bergedorfs Vorstadt, was zusammen mit der ebenfalls bereits vorbereiteten „Durchbruchstraße II“, heute Bergedorfer Straße, Tausende einfache Wohnungen von Arbeiterfamilien dem rasant zunehmenden Verkehrsfluss opferte. Und in den folgenden acht Jahren schloss sich dann auch noch der Bau des bis heute zu bewundernden riesigen Bahndamms mitten durch Bergedorf an. Samt Höherlegung des Bahnhofs, den die Nazis dann 1937 mit Hakenkreuz und „Heil Hitler!“-Rufen einweihten.
Kontroverse Reaktionen bei unseren heutigen Lesern löste der Artikel über Hitlers Machtergreifung von 1933 aus, der Bezug nahm auf den wohl einzigen Besuch des Diktators in Bergedorf. Der war im Jahr 1935 eigentlich nur eine 20-minütige Durchfahrt, doch unsere damals längst gleichgeschaltete Zeitung machte sie zum Schaulaufen, mobilisierte Tausende, die mit ausgestrecktem rechten Arm an den Straßenrändern standen.
Kritik der Leser: Darf man Hitler heute noch auf der Titelseite zeigen?
In den Berichten wirkte es, als sei ein Heiliger nach Bergedorf gekommen. So groß war die Verehrung für den angeblichen „Volkskanzler“. Und natürlich wurden Fotos gemacht, die teils bis heute erhalten sind. Eines davon haben wir jetzt auf der Titelseite gezeigt. Das hatte schon intern in unserer Redaktion für kontroverse Diskussionen geführt – und stieß dann auch manchem Leser, mancher Leserin auf: Darf man Hitler heute auf den Titel zeigen? Jedenfalls haben wir die Grausamkeiten seines Dritten Reiches in unserer Serie so detailliert beschrieben, dass klar werden musste: Dieser „Heilige“ war der Teufel persönlich.
Alle diese Geschichten aus Bergedorf, die Dramen und die Fundstücke, die zu Kapiteln der Serie wurden, können in ganzer Länge sowie ergänzt mit zahlreichen Fotos und Zeitungsausschnitten nachgelesen werden auf www.abendblatt.de/themen/150Jahre-bz unter dem Button „Zeitreise“.
Die Liebe der Bergedorfer zur Lokalzeitung entflammt schon 1842
Dort findet sich auch ein achtteiliger Überblick über die Geschichte der Bergedorfer Zeitung und ihrer Vorgänger, die bis ins Jahr 1842 zurückreichen. So lange erscheint in Bergedorf nämlich schon eine Tageszeitung, die teils sogar in sechs Ausgaben pro Woche zu haben war. Diesen Ursprung legte Christoph Marquard Ed, ein streitbarer Redakteur und geschickter Verleger, der bis zu seinem Wegzug aus Bergedorf 1865 nach Lübeck mit seiner Eisenbahnzeitung so erfolgreich war, dass die Bergedorfer auf eine lokale Tageszeitung nie mehr verzichten wollten.
Es hagelte Briefe und Aufrufe, schnell ein Nachfolgeblatt zu gründen. Doch es sollten turbulente Jahre folgen, in denen es auch manchen Misserfolg gab. Immerhin erschien ab 1866 aber schon das erste Blatt mit dem Untertitel „Bergedorfer Zeitung“.
Axel Springer übernimmt Mehrheit von Bergedorfer Zeitung – das muss gefeiert werden
Ihr eigentlicher Ursprung im heutigen Sinne ist allerdings erst auf den September 1883 datiert, als sich Carl Eduard Wagner mit der Bergedorfer Zeitung selbstständig macht –- „auf vielfach an mich herangetragenen Wunsch“, wie der frisch gebackene Verleger in der ersten Ausgabe schreibt. Sein Unternehmen nennt er Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner – vermutlich ein Hommage an den Urvater der Tageszeitungsbegeisterung der Bergedorfer, Christoph Marquardt Ed.
Dass die Bergedorfer Zeitung im kommenden Jahr nun ihr 150-jähriges Bestehen feiert, liegt übrigens an einem ganz anderen, sogar noch prominenteren Verleger: Axel Springer, der selbst bei der Bergedorfer Zeitung volontiert hatte, kaufte der Familie Wagner das Blatt samt Druckerei Anfang der 1970er-Jahre zu großen Teilen ab. Um das gebührend zu feiern, legte er den 100. Geburtstag einfach mal auf das Jahr 1974 – und die Party konnte steigen.
Offene Frage: Wie alt ist die Bergedorfer Zeitung wirklich?
Dabei muss er von der Willkür dieses Datums gewusst haben, hatte Springer selbst doch 41 Jahre zuvor den 50. Geburtstag der Bergedorfer Zeitung. mitgefeiert. Auf den offiziellen Jubiläumsfoto ist der Volontär in der Uniform des NS-Fahrerkorps zu sehen.
Natürlich ist verständlich, dass Axel Springer nicht die Firmengründung der Familie Wagner als Ursprungsjahr „seiner“ Bergedorfer Zeitung sehen mochte. Als Gründungsjahr böte sich denn auch eher das Jahr 1866 an, als im Oktober der Titel als „Nordischer Courier – Bergedorfer Zeitung“ erstmals verwendet wurde. Insofern wäre die Bergedorfer Zeitung dann sogar schon älter als 150 Jahre. Aber egal, Verlag und Redaktion feiern, ganz in Axel Springers Tradition, auch jetzt wieder 1874 als offizielles Gründungsjahr. Und man könnte das sogar begründen: Damals heuerte Carl Eduard Wagner beim Nordischen Courier als Leiter der winzigen Bergedorfer Außenstelle an.
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Kommende Woche geht die Serie nun mit dem unstrittigen Neuanfang am 1. Oktober 1949 unter Wagners Enkel Reinhard weiter. Dessen größtes Verdienst bis dahin war es, die Bergedorfer Buchdruckerei von Ed. Wagner durch die Turbulenzen von Nazizeit und Zweitem Weltkrieg geführt zu haben. Nur so konnte es gelingen, die Bergedorfer mit einem eigenen Lokalblatt in ein ganz neues Zeitalter des Journalismus zu führen.