Bergedorf. 1910 lockt ein Inferno Hunderttausende Schaulustige an und macht Vierlanden weltberühmt. Ereignis wirkt bis heute nach.

Am Bußtag im November 1910 haben die Bergedorfer mit dem Beten nicht viel am Hut. An diesem Mittwoch geht es ihnen vor allem darum, gute Geschäfte zu machen mit einem unvorstellbaren Ansturm von Sensationstouristen: Das Neuengammer Flammenkreuz lockt an jenem 16. November weit mehr als 100.000 Menschen in die gerade mal 15.000 Einwohner zählende Kleinstadt. Die wenigen Deichstraßen, die zum unheimlichen, kaum fünf Kilometer entfernten Schauspiel am Kirchwerder Landweg führen, sind verstopft.

Die „Wallfahrt zur Erdgasquelle“, wie die Bergedorfer Zeitung das Ereignis schon Tage zuvor genannt hat, beschäftigt Bergedorf am Bußtag nämlich schon seit sechs Tagen. Doch noch nie war der Andrang so groß: Allein aus Hamburg rollen an diesem Tag 100 Sonderzüge nach Bergedorf. Hinzu kommen unzählige Pferdefuhrwerke, erste Autos und natürlich Fußgänger. Von Niedersachsen setzen Tausende mit Schiffen über, und auch mit der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn und den regulären Zügen aus Berlin strömen die Massen herbei.

„Flamme von Neuengamme“: Bohrung nach Grundwasser trifft auf Erdgas

Grund für das „Schauspiel einer Völkerwanderung“ (Bergedorfer Zeitung vom Bußtag 1910) ist eine böse Überraschung, die eines der Bohrteams der Hamburgischen „Stadtwasserkunst“ ereilt hat. Die städtische Deputation, Vorläufer von Hamburg Wasser, lässt damals an verschiedenen Stellen der Vier- und Marschlande nach Grundwasser suchen, um die Hamburger nicht länger mit Trinkwasser aus der Elbe zu versorgen. Gesucht wurde auch am Kirchwerder Landweg, auf halber Strecke zwischen Neuengammer Hausdeich und Kirchwerder Hinterdeich, gegenüber der heutigen Hausnummer 108.

Foto vom Austritt des noch nicht entzündeten Erdgases, aufgenommen vermutlich am Vormittag des 4. Novembers 1910.
Foto vom Austritt des noch nicht entzündeten Erdgases, aufgenommen vermutlich am Vormittag des 4. Novembers 1910. © Hamburg Wasser | unbekannt

Am Donnerstag, 3. November, durchstößt hier der Bohrkopf um 22.45 Uhr in fast 250 Meter Tiefe eine massive Bodenschicht, unter der sich allerdings kein Grundwasser befindet – sondern eine riesige Erdgasblase. „Mit großem Druck schossen riesige Schlamm- und Wassermassen sowie vor allem Methangas aus dem Bohrloch“, schreibt Hamburgs ehemaliger Feuerwehrchef Dieter Farrenkopf, der seine Forschungen zur „Flamme von Neuengamme“ im dritten Buch der Vierlanden-Trilogie des Kultur- & Geschichtskontors veröffentlich hat.

„Flamme von Neuengamme“: Erst tritt nur das Gas aus, doch dann bricht plötzlich das Inferno los

Das austretende Gas lässt die Erde beben und erzeugt ein so donnerndes Geräusch, dass im weiten Umfeld die Scheiben zittern. Die überraschten Arbeiter versuchen händeringend, den Gasausbruch unter Kontrolle zu bekommen. Doch sie haben keine Chance, das Bohrloch zu verschließen.

Erstes Foto der Neuengammer Flamme, vermutlich aus der Nacht vom 4. auf den 5. November.
Erstes Foto der Neuengammer Flamme, vermutlich aus der Nacht vom 4. auf den 5. November. © Hamburg Wasser | unbekannt

Das ist allerdings nur der erste Akt des Dramas. Am Freitag, 4. November, bricht das Inferno los: Um 17 Uhr entzündet sich das austretende Erdgas. Der hölzerne Bohrturm geht als Erstes in Flammen auf, die Geräte und Maschinen werden binnen Sekunden zerstört und sollen nun für Wochen die Kulisse des Flammen-Schauspiels bilden. Denn es wird fast einen ganzen Monat dauern, bis die Feuerwehr diesen Brand zusammen mit den Ingenieuren der „Stadtwasserkunst“ zumindest halbwegs unter Kontrolle hat.

Vierländer haben Angst, aber strömen zu Tausenden zur „Flamme von Neuengamme“

Das Drama, das wie durch ein Wunder keine Opfer unter den Arbeitern fordert, lockt vom ersten Augenblick Schaulustige an. Trotz aller Ängste strömen die Vierländer und auch erste Bergedorfer herbei: „Noch am Freitagabend eilten zu später Stunde Tausende von Menschen zu Fuß oder zu Rad oder Wagen zu der Stelle des seltsamen Naturschauspiels“, berichtet die Bergedorfer Zeitung und schildert die ersten Eindrücke vor Ort: „Es gehört schon ein beherzter Mut dazu, um sich dem Feuer auf etwa 30 Schritt zu nähern. Und wer seine Ohren nicht vorher mit Wattebäuschchen geschützt hat, läuft Gefahr, sein Gehör zu verlieren.“

Totale Zerstörung: Foto vom Umfeld der Bohrung am 7. November. Mitten in den Trümmern steht das Lokomobil, mit dem das Team der Hamburger „Stadtwasserkunst“ die Energie für die Grundwasserbohrung erzeugt hatte.
Totale Zerstörung: Foto vom Umfeld der Bohrung am 7. November. Mitten in den Trümmern steht das Lokomobil, mit dem das Team der Hamburger „Stadtwasserkunst“ die Energie für die Grundwasserbohrung erzeugt hatte. © Hamburg Wasser | unbekannt

Das Feuer selbst, das schon am Sonnabend erste Schulklassen mit ihren Lehrern besuchen, beschreibt die Bergedorfer Zeitung so: „Da der im Bohrloch verbliebene Bohrkopf drei Öffnungen hat, teilt sich die ungeheure Stichflamme wie ein Kreuz in drei Teile nach oben, links und rechts. Gierig leckt sie an dem zerstörten Lokomobil der Bohrarbeiter auf und nieder und bringt seine Eisenteile zum Glühen.“

Das große Geschäft mit dem Erdgas

Am Sonntag ist die brennende Bohrstelle zwar in einem Umkreis von 100 Metern abgesperrt, aber der Besucherstrom schwillt trotzdem rasant an. Die Zeitung schreibt von Tausenden, die von Bergedorf nach Neuengamme strömen – und vom ebenfalls aufflammenden Geschäftssinn: „Betriebsame Fuhrunternehmer richten eine ständige Fahrverbindung vom Bahnhof ein.“ Zudem seien schnell Fotografen am Ort des Geschehens gewesen: „Selbstverständlich hat sich die Ansichtskarten-Industrie das seltene Naturereignis nicht entgehen lassen“, darunter auch „eine Nachtaufnahme, die vorzüglich gelungen ist.“

Die ersten Anzeigen zur Neuengammer Flamme: Am Freitag, 11. November 1910, kaum mehr als eine Woche nach dem Ausbruch des Gasbrandes, bewerben Fotografen und Einzelhändler die ersten Postkarten mit Bildern vom Gasbrand.
Die ersten Anzeigen zur Neuengammer Flamme: Am Freitag, 11. November 1910, kaum mehr als eine Woche nach dem Ausbruch des Gasbrandes, bewerben Fotografen und Einzelhändler die ersten Postkarten mit Bildern vom Gasbrand. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Schon am 10. November, sechs Tage nach dem Ausbruch, ist die Neuengammer Flamme „zu einer europäischen Berühmtheit geworden“, heißt es in der Bergedorfer Zeitung. „Die Tageszeitungen haben die Kunde von dem Ereignis in alle Winde getragen.“

Prinz Waldemar, Enkel von Kaiser Wilhelm II., besucht die „Flamme von Neuengamme“

Sogar der Kaiser nimmt Notiz von Neuengamme. Der erhoffte Besuch von Wilhelm II. bleibt zwar aus, dafür kommt am 26. November aber immerhin sein 20-jähriger Enkel Prinz Waldemar „mit dem Automobil nachmittags gegen 1 Uhr von Kiel“, wie die Bergedorfer Zeitung berichtet. „In Begleitung eines hiesigen Polizeibeamten fuhr der Prinz durch die Hauptstraßen unserer Stadt und über den Heerweg und den Hausdeich in Curslack nach Neuengamme, wo er etwa eine halbe Stunde vor dem seltenen Naturschauspiel verweilte. Sodann kehrte er im Automobil über Allermöhe nach Hamburg und Kiel zurück.“

Prinz Waldemar war ein ausgesprochener Autoliebhaber. Unter anderem reiste er mit dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, dem gebürtigen Reitbrooker Alfred Lichtwark, im Jahr 1907 für drei Tage im Automobil durch Deutschland.
Prinz Waldemar war ein ausgesprochener Autoliebhaber. Unter anderem reiste er mit dem Direktor der Hamburger Kunsthalle, dem gebürtigen Reitbrooker Alfred Lichtwark, im Jahr 1907 für drei Tage im Automobil durch Deutschland. © Museum Prins Eugens Waldemar Sud | Museum Prins Eugens Waldemar Sudde

Derweil drängt der Neuengammer Gemeindevorstand den Hamburger Senat, das Feuer endlich einzudämmen und vor allem den seit dem Wochenende gesperrten Kirchwerder Landweg wieder für den Verkehr freizugeben. Doch eine Antwort gibt es nicht: Nachdem die Feuerwehren aus Bergedorf und den Vierlanden erfolglos aufgegeben haben, herrscht große Ratlosigkeit. Ein Sprengen des Bohrlochs durch Pioniere der Armee wird angesichts der ungewissen Folgen verworfen.

Sorge der Vierländer: Wird bald der Boden absacken?

Tatsächlich ist die Angst der Vierländer groß vor der unheimlichen Fracht aus dem Untergrund, die nun schon seit Tagen mit unvermittelt riesigem Druck und Donnern an die Oberfläche tritt: Besteht die Gefahr, dass die Erde absackt? Ist das Gas giftig, sollte es gelingen, die Flamme zu lösch? Und werden die Vierlande unfruchtbar, wenn nach dem Gas auch Erdöl mit solchem Druck austritt und auf den Feldern niederregnet?

Unabhängig davon widmet sich die Bergedorfer Zeitung immer wieder der Frage, wie die hier ausströmende Energie nutzbar gemacht werden könnte. Verschiedene Wissenschaftler kommen zu Wort, die ebenfalls zur Neuengammer Flamme reisen und in ihren Vorträge zur Zusammensetzung des Gases, zum Löschen der Flamme und zur möglichen Einspeisung in das junge Hamburger und Bergedorfer Gasnetz Stellung nehmen. In der Ausgabe vom Bußtag rechnet die Redaktion vor: „Die Menge des in den ersten zehn Tagen ausgeströmten Gases wird auf sechs Millionen Kubikmeter berechnet. Das ist ein Vorrat, mit dem man die Stadt Hamburg schon fast einen Monat mit Gas hätte versorgen können.“

Wiese rund um die „Flamme von Neuengamme“ wird zum Jahrmarkt – mit Eintritt

Doch zurück zum „Strom der Feueranbeter“, wie die Bergedorfer Zeitung die Schaulustigen mittlerweile nennt. Sie erwartet schon am zweiten Sonntag nach Ausbruch des Gasbrandes ein gut durchorganisierter Empfang: „Die der Gasquelle glich gestern einem regelrechten Jahrmarkt“, berichtet die Zeitung am Montag, 14. November. „Schankzelte, Wurstbuden und Verkäufer von Ansichtskarten säumten den Straßenrand, wie überhaupt der Erwerbssinn wunderbare Blüten zeitigte. So wurde für das Betreten der Weide von F. Wulff, wo sich die Bohrstelle befindet, ein Eintrittsgeld von zehn Schilling erhoben. An der Serrahnstraße in Bergedorf hatten sich mehrere Stiefelputzer aufgestellt und ihre ,glänzende’ Beschäftigung trug ihnen in kurzer Zeit eine stattliche Summe ein.“

Diese Postkarte zeigt den Bergedorfer Bahnhof, der im November 1910 vor allem an den Wochenenden von Hunderttausenden Katastrophentouristen geradezu überrannt wird.
Diese Postkarte zeigt den Bergedorfer Bahnhof, der im November 1910 vor allem an den Wochenenden von Hunderttausenden Katastrophentouristen geradezu überrannt wird. © Kultur- & Geschichtskontor | Geschichtskontor

Grund für deren Erfolg sind die extrem schlechten Straßenverhältnisse auf den wenigen Wegen vom Bergedorfer Bahnhof nach Neuengamme, über die sich der unendliche Menschenstrom schiebt: „Die modernen Feueranbeter kümmerte es nicht, dass der Neue Deich mit einer dicken Schlammschicht bedeckt war, die ihre Spuren an Stiefeln und Kleidern zurückließ. Selbst die Damen ließen sich hierdurch nicht beirren und stapften mutig vorwärts“, berichtet die Bergedorfer Zeitung – samt Seitenhieb auf die Hamburger: „Der Erwerbssinn der Stiefelputzer auf die Eitelkeit und das Reinigungsbedürfnis der Großstädter erwies sich erfolgreich und brachte klingende Münze.“

Scharfe Kritik an fremden Journalisten und ihrer Darstellung von Neuengamme

So gar nicht begeistert reagiert die Redaktion der Bergedorfer Zeitung dagegen auf die „kleine Broschüre einer Hamburger Firma“, die über die Neuengammer Flamme berichtete: „Schon die Überschrift ,Der Hexenkessel von Neuengamme bei Bergedorf’ mutet an wie die geheimnisvollen Titel der Schundliteratur.“ Vor allem die Neuengammer würden hier verunglimpft, indem ihr Leben „zwischen Schweinestall und dem prunkvollen Düngerhaufen“ beschrieben werde – mit dem Fazit: „Ganz wie eben in allen Dörfern, wenn man für Neuengamme überhaupt den stolzen Ausdruck ,Dorf’ gebrauchen kann.“

Für die Bergedorfer Zeitung ist diese Broschüre, die wenige Tage später wegen fehlender Druckgenehmigung tatsächlich von der Polizei konfisziert wird, „eine Unverfrorenheit“. Auch ein Berliner Feuilletonist, der sich durch den Matsch zur Neuengammer Flamme gekämpft hat, wird auf „das Flügelross der Fantasie“ gehoben für diese Zeilen über die Vierlande: „Abgeschnitten von jeder Kultur stand man hier im eiskalten Novemberregen ohne Hoffnung auf Wiederkehr in bewohnte Gegenden.“

Chaos am Bergedorfer Bahnhof, Stau auf der Schiefen Brücke in Curslack

Die Zustände auf dem Weg dahin sind allerdings wirklich dramatisch. Außer dem tiefen Matsch auf den kaum befestigten Deichwegen wird die Schiefe Brücke in Curslack zum Problem. Am 15. November berichtet die Bergedorfer Zeitung: „Der Andrang auf dem Kirchwerder Landweg und vor der Schiefen Brücke war in den Abendstunden so stark, dass der Verkehr auf der Brücke schließlich auf der Brücke völlig stockte. Tausende mussten daraufhin verzichten, das Flammenschauspiel aus nächster Nähe zu sehen.“

Geschäftsidee des Forsthaus-Inhabers W. Töpfer: In der Sonntagsausgabe der Bergedorfer Zeitung vom 20. November stellt er sein neu eröffnetes Café-Restaurant „Erdgasquelle“ vor. Es liegt direkt am Bergedorfer Bahnhof, wo seit zwei Wochen täglich Tausende Katastrophentouristen mit der Bahn an- und abreisen.
Geschäftsidee des Forsthaus-Inhabers W. Töpfer: In der Sonntagsausgabe der Bergedorfer Zeitung vom 20. November stellt er sein neu eröffnetes Café-Restaurant „Erdgasquelle“ vor. Es liegt direkt am Bergedorfer Bahnhof, wo seit zwei Wochen täglich Tausende Katastrophentouristen mit der Bahn an- und abreisen. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Das andere Nadelöhr ist der Bergedorfer Bahnhof, der für einen solchen Andrang insbesondere im Rückreiseverkehr nicht ausgelegt ist: „In dichten Scharen umlagerten die Menschen das Bahnhofsgebäude, und vor den Fahrkartenschaltern herrschte ein heilloses Gedränge“, berichtet die Zeitung am 15. November. Wer auf den Bahnsteig will, muss eine Sperre passieren. „Es wurden nur so viele Passagiere durchgelassen, wie ein Zug fassen konnte. Doch einige ungeduldige Passagiere überkletterten das Geländer und überschritten die Bahngleise“, beschreibt die Redaktion – und atmet auf, dass das alles „ohne Zwischenfälle“ blieb.

„Dampfspritze“ der Hamburger Feuerwehr löscht den Brand – aber nur Sekunden

Auch an der Neuengammer Flamme selbst hat das Bergedorfer Rote Kreuz in seiner dort aufgebauten Unfallstation nur kleinere Blessuren zu versorgen, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 18. November. Gleichzeitig nimmt die Berichterstattung jetzt die Eindämmung des Gasaustritts in den Fokus. Denn hier gibt es fast täglich Fortschritte, seit es der Hamburger Feuerwehr am Montag, 21. November, eher zufällig mit ihrer „Dampfspritze“ gelungen ist, die Flammen für Sekunden zu löschen. Wie wir berichten, wird Wasser so mit mehreren Atmosphären Druck auf den Bohrkopf geschossen, was das Abfackeln des weiter austretenden Erdgases kurz unterbricht – doch „dann brachen sie wieder mit explosionsartigem Knall hervor“.

Nachdem die Feuerwehr mit ihrer „Dampfspritze“ die Flammen für einige Stunden gelöscht hat, bringen Arbeiter der „Stadtwasserkunst“ Stahlrohre am Bohrkopf (M.) an, um das weiter ungebremst ausströmende Gas später nutzbar zu machen. Nach den Arbeiten wurde das Gas wieder angezündet.
Nachdem die Feuerwehr mit ihrer „Dampfspritze“ die Flammen für einige Stunden gelöscht hat, bringen Arbeiter der „Stadtwasserkunst“ Stahlrohre am Bohrkopf (M.) an, um das weiter ungebremst ausströmende Gas später nutzbar zu machen. Nach den Arbeiten wurde das Gas wieder angezündet. © Hamburg Wasser | unbekannt

Die „Dampfspritze“ wird nun in die Bergedorfer Feuerwache gebracht, um bei Bedarf schnell nach Neuengamme zu kommen. Am Freitag, 2. Dezember, ist es so weit: Um 15.50 Uhr können die Ingenieure der „Stadtwasserkunst“ Erfolg vermelden. „Der Himmel über den Vierlanden lag gestern Abend und heute Nacht zum ersten Mal seit Wochen wieder im Dunkeln“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 4. Dezember, um etwas wehmütig hinzuzufügen: „Mit dem Flammenwunder ist’s vorbei.“

Im Dezember 1910 brennt die Neuengammer Flamme zwar weiter, aber das Gas strömt jetzt durch die seitlich am Bohrkopf angebrachten, jeweils fast 30 Meter langen Stahlrohre. Der senkrechte Gasaustritt ist jetzt versiegelt. Zur Sicherheit wird das Gas am Ende der Rohre aber wieder entzündet.
Im Dezember 1910 brennt die Neuengammer Flamme zwar weiter, aber das Gas strömt jetzt durch die seitlich am Bohrkopf angebrachten, jeweils fast 30 Meter langen Stahlrohre. Der senkrechte Gasaustritt ist jetzt versiegelt. Zur Sicherheit wird das Gas am Ende der Rohre aber wieder entzündet. © Hamburg Wasser | Erhalten von Meister Stille, Billbrook

„Wasserkunst“ pachtet die Fläche, um das Erdgas nutzbar zu machen

Den Fachleuten ist es in fast zweiwöchiger Arbeit gelungen, im Zusammenspiel mit der Feuerwehr lange Stahlröhren in die drei Öffnungen des Bohrkopfes zu schieben und so das abfackelnde Erdgas weit auseinander zu ziehen. Speziell angefertigte Ventile und ein mehrere Tonnen schwerer Verschluss des eigentlichen Bohrlochs haben letztlich zum Erfolg geführt, wie der Direktor der „Stadtwasserkunst“ Schertel am 8. Dezember in der Bergedorfer Zeitung erklärt. Kleinere Leckagen gebe es zwar noch, aber die würden über ein zusätzliches Austrittsrohr abgefackelt.

Schertel bestätigte, dass die „Stadtwasserkunst“ die Fläche jetzt für drei Jahre gepachtet habe, um an der Nutzbarmachung der Erdgasquelle und des sehr wahrscheinlich unter dem Gas liegenden Erdöls zu arbeiten. Tatsächlich soll es noch fast drei Jahre dauern, bis es so weit ist: Erst 1913 beginnt die dauerhafte Förderung des Neuengammer Erdgases. Zuvor gibt es einige Kuriositäten, etwa das Abfüllen in riesigen Ballons.

Postkarte aus den Jahren 1911/12: Weil es zunächst noch keine Leitungen gab, durch die das Neuengammer Erdgas zur Aufbereitung für das Hamburger Gasnetz strömen konnte, wurden über das Gestänge am Bohrloch riesige Ballons mit Gas befüllt. Ihr Durchmesser betrug teils mehr als 25 Meter, wie der Größenvergleich mit den Menschen am linken Bildrand zeigt.
Postkarte aus den Jahren 1911/12: Weil es zunächst noch keine Leitungen gab, durch die das Neuengammer Erdgas zur Aufbereitung für das Hamburger Gasnetz strömen konnte, wurden über das Gestänge am Bohrloch riesige Ballons mit Gas befüllt. Ihr Durchmesser betrug teils mehr als 25 Meter, wie der Größenvergleich mit den Menschen am linken Bildrand zeigt. © Hamburg Wasser | unbekannt

1937 werden dann auch die Erdölbetriebe Reitbrook gegründet. Ihre Geschichte reicht bis heute – wird aber wohl 2024 zu Ende gehen, wenn die Ölvorkommen erschöpft sind.

Bis heute ein typisches Bild in den Vier- und Marschlanden: Eine sogenannte Pferdekopfpumpe fördert für „Neptune Energy“, Nachfolger der Erdölbetriebe Reitbrook, Erdöl. Doch die Quellen versiegen. 2024 soll Schluss sein. Das Bohrloch der Neuengammer Flamme gibt es aber nicht mehr – es wurde 2002 endgültig verfüllt und liegt heute rund zwei Meter unter der Ackersohle.
Bis heute ein typisches Bild in den Vier- und Marschlanden: Eine sogenannte Pferdekopfpumpe fördert für „Neptune Energy“, Nachfolger der Erdölbetriebe Reitbrook, Erdöl. Doch die Quellen versiegen. 2024 soll Schluss sein. Das Bohrloch der Neuengammer Flamme gibt es aber nicht mehr – es wurde 2002 endgültig verfüllt und liegt heute rund zwei Meter unter der Ackersohle. © BGZ | Maximilian Minning

Wie schwierig die Bändigung vom Neuengammer Erdgas 1910 ist, zeigt ein Vorfall kurz vor Heiligabend: „Die Ausströmungen haben heute Vormittag einen bedrohlichen Umfang angenommen – das Manometer ist bereits geplatzt“, berichtet die Bergedorfer Zeitung vom 23. Dezember. Die Ventile der beiden Seitenrohre wurden wieder geöffnet und das austretende Gas entzündet, was unerwartete Folgen hatte: „Der in der Mitte der Bohrstelle errichtete Holzturm ist niedergebrannt.“