Bergedorf. Großprojekt soll in den 30er-Jahren das Verkehrschaos auflösen. Bis zu diesem Punkt ist es aber ein weiter Weg.
Wer heute den Bergedorfer Bahnhof betritt oder auf Alter Holstenstraße, B5 und Oberem Landweg die Eisenbahntrasse Hamburg–Berlin unterquert, dem fällt er kaum noch auf: Seit mehr als 80 Jahren durchtrennt ein mehr als fünf Meter hoher und gut 60 Meter breiter Bahndamm das Zentrum des Bezirks. Was als quasi „natürliche“ Grenze zwischen Bergedorf und Lohbrügge empfunden wird, bietet dabei einen entscheidenden Vorteil: Der mächtige Damm lässt den Bahn- und den Straßenverkehr völlig unabhängig voneinander fließen. Schranken sind überflüssig.
„Ein Wendepunkt in der Verkehrsgeschichte Bergedorfs“, jubelt die Bergedorfer Zeitung auf mehreren Sonderseiten in ihrer Ausgabe vom 28. Oktober 1937. Es ist der Tag vor der feierlichen Einweihung des größten und bis heute teuersten Projekts im Bergedorfer Zentrum. Mit über einer Million Kubikmeter Sand vom Elbhang zwischen Börnsen und Geesthacht wurde die komplette Eisenbahntrasse bei laufendem Verkehr angehoben. Die Kosten der acht Jahre dauernden Großbaustelle, zu der auch der Neubau des Bahnhofsgebäudes und seiner drei Bahnsteige gehörten, betrugen 12 Millionen Reichsmark – umgerechnet fast 90 Millionen Euro.
Bergedorfs Schranken waren länger geschlossen als geöffnet – egal an welchem Tag
Grund für die riesige Investition, die sich Hamburg und die Reichsbahn teilten, war dabei eigentlich gar nicht die Eisenbahn. Vielmehr hatte es seit Jahrzehnten immer massivere Beschwerden gegeben über extreme Wartezeiten an den Schranken. Vor allem am Bahnübergang Alte Holstenstraße, damals wichtigste Straßenverbindung zwischen Hamburg und Berlin, gab es eigentlich immer einen langen Stau.
Wie die Bergedorfer Zeitung Mitte der 1920er-Jahre berechnet, sind die Schranken seinerzeit mehr als die Hälfte jedes Tages geschlossen. Neben dem wachsenden Personenzugverkehr sorgen die vielen Rangierfahrten im Güterbahnhof, der damals im Bereich der heutigen Park-and-ride-Häuser auf der Lohbrügger Seite lag, sogar oft dafür, dass die Schranken 20 Minuten oder länger am Stück geschlossen bleiben. Auch die Zahl der Beinahe-Unfälle an den Straßenquerungen der bereits seit Dezember 1846 bestehenden Bahnlinie häufen sich.
Beinahe-Unfälle häufen sich seit Jahrzehnten
Schon am 6. Juni 1901 berichtet die Bergedorfer Zeitung: „Vorgestern wären, weil die Barriere nicht geschlossen war, von dem vorübersausenden Schnellzuge zwei Pferde unzweifelhaft überfahren worden, wäre es dem Kutscher nicht gelungen, noch im letzten Augenblick dieselben durch einen tatkräftigen Ruck herumzuwerfen. Vor einiger Zeit wäre ein Kind, welches über die Schienen lief, weil der Übergang ebenfalls nicht gesperrt war, von einem Schnellzug überfahren worden, wäre dasselbe nicht vor dem Zuge noch gefallen und von Hinzueilenden weggezogen worden. Es ist zu wünschen, dass die Höherlegung des Eisenbahndammes und Unterführung der Hauptstraße für den gesamten Verkehr recht bald vorgenommen wird.“
Doch darauf sollten die Bergedorfer noch fast drei Jahrzehnte lang warten. Erst am 17. Juni 1929 titelt die Bergedorfer Zeitung: „Der Bahnhofsumbau wird Wirklichkeit“. Zwei Tage später gibt Hamburgs Bürgerschaft dann grünes Licht für das vom Senat mit der Reichsbahn seit Mitte 1928 ausgehandelte Riesenprojekt. Es umfasst neben der Aufschüttung des Bahndamms auf 3,5 Kilometer Länge samt neuem Bergedorfer Bahnhof den Bau der Brücken über den Oberen Landweg, die Kampstraße (heute B5-Brücke), die Alte Holstenstraße und die Bille beim Möörkenweg.
Erste Maßnahme: Bergedorfs Güterbahnhof wird verlegt
Damit das alles bei laufendem Bahnbetrieb möglich ist, wird zudem die Verlegung des Bergedorfer Güterbahnhofs auf das Areal des heutigen Wohngebiets „Am Güterbahnhof“ westlich des Weidenbaumswegs beschlossen. Auch ein neuer Anschluss der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn (BGE) an den höher gelegten neuen Bahnhof ist erforderlich – das allerdings auf Kosten der BGE und ohne mit deren Vorstand gesprochen zu haben. „Gleichzeitig kündigte die Reichsbahn als Druckmittel und auf Wunsch des Hamburger Senats ihren Anschlussvertrag mit der BGE“, schreibt Stefan Meyer in seiner Chronik „100 Jahre Eisenbahn zwischen Bergedorf und Geesthacht“.
Eine Strategie, die mitten in der aufziehenden Weltwirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der US-Börse am Schwarzen Freitag vom Oktober 1929 dramatische Folgen für die als Aktiengesellschaft firmierende BGE haben soll. Neben dem Protest der Aktionäre, die schon seit 1925 keine Dividende mehr erhalten hatten, kommt es angesichts der per Bankkredit aufzubringenden 2,4 Millionen Reichsmark zur Entlassung von 40 Prozent der Belegschaft, massiven Gehaltskürzungen beim Rest und im Frühjahr 1931 sogar beinahe zum Konkurs.
Finanzierung treibt Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn fast in den Konkurs
Die Folge wäre das Aus für die wichtigste Verkehrsverbindung im Großraum Bergedorf/Geesthacht/Vier- und Marschlande. Also entschließt sich der Hamburger Senat zur Übernahme sämtlicher Aktionen, um die Bankkredite abzusichern. „Die Aktionäre nahmen das Angebot an, sodass die BGE Ende 1931 ein Staatsbetrieb im Eigentum der Stadt Hamburg wurde“, schreibt Stefan Meyer. Damit ist nebenbei die Grundlage dafür geschaffen, dass aus der BGE Mitte der 1950er-Jahre das städtische Busunternehmen Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein (VHH) wird.
In der Wahrnehmung der Bergedorfer und der Berichterstattung ihrer Zeitung ist das Schicksal der Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn allerdings nur ein Randaspekt. Zu groß ist im Jahr 1929 die Begeisterung, dass endlich etwas gegen die massiven Staus an den Bahnübergänge angegangen wird. So schreibt das Blatt fast täglich über die wachsende Ungeduld.
Bergedorfer sind ungeduldig: Wann beginnen die Bauarbeiten endlich?
Sieben Wochen nach dem Beschluss heißt es am 8. August unter der Überschrift „Wann beginnt der Bergedorfer Bahnhofsumbau?“: Noch immer stecke die Reichsbahn im schwierigen Planungsprozess, obwohl der schon seit gut einem Jahr laufe. „Schon seit vielen Monaten warten Hunderte von Erwerbslosen aus Bergedorf und Umgegend vergebens auf diese Arbeit.“ Und weiter: „Den neuen Güterbahnhof will man bereits in eineinhalb Jahren, den neuen Personenbahnhof in zweieinhalb Jahren fertiggestellt haben. So ist es wenigstens in dem Bauprogramm vorgesehen. Aber warten wir erst ab, wie sich die Dinge entwickeln werden. Die Hauptsache ist: Endlich heran an die Arbeit!“
Anfang September geht es dann tatsächlich los, allerdings zunächst nur mit dem Neubau des Güterbahnhofs. Bereits für die Aufschüttung seines neuen Areals wird derart viel Sand vom Elbhang bei Börnsen gebraucht, dass die BGE abwinkt: Täglich bis zu 40 zusätzliche Züge auf ihrer einspurigen Strecke nach Geesthacht würden den Personenverkehr fast unmöglich machen. Also wird parallel zur Strecke eine Schmalspurbahn samt Klappbrücke über den Schleusengraben in Höhe des Lehfelds gebaut.
Arbeiten am neuen Bergedorfer Bahnhof ziehen sich immer weiter hin
Tatsächlich kann der neue Güterbahnhof samt Warenübergabe-Bahnhof zur BGE und der Überführung des Oberen Landwegs zwar nicht innerhalb der erhofften eineinhalb, dafür am 18. Juli 1932 aber immerhin nach gut zweieinhalb Jahren übergeben werden. Die Aufschüttung des Bahndamms mitten durch Bergedorf zieht sich indes weit länger hin, als 1929 erhofft. Unterbrochen durch die erheblichen Turbulenzen um die Machtübernahme Hitlers, die auch in Bergedorf zu Straßenkämpfen, riesigen Streiks und dem Austausch sämtlicher Führungsriegen in der Verwaltung führen, sollen die Arbeiten vermutlich erst im Sommer 1933 beginnen.
Über einen ersten Zwischenstand unter der neuen, jetzt nationalsozialistischen Leitung berichtet unsere Zeitung am 15. September 1933. Demnach wird jetzt der erste der zwei Bauabschnitte begonnen, zu dem die Aufschüttung der drei Gleise auf Lohbrügger Seite im Bereich des alten Güterbahnhofs samt massiver Spundwände gehört. Ferner der Bau der noch fehlenden Brücken im Zentrum und auch der neue Fußgängertunnel im Bereich des Bahnhofs, der die Bahnsteige künftig von Lohbrügge wie von Bergedorf aus leicht erreichbar machen soll.
Bergedorfs Bahnhof zählt vor 90 Jahren schon bis zu 20.000 Fahrgäste pro Tag
Das neue Bahnhofsgebäude selbst wird noch nicht in Angriff genommen. Als Bergedorfer Bahnhof bleibt den damals schon „15.000 bis 20.000 Menschen täglich“ noch für vier weitere Jahre der Vorgängerbau von 1846 erhalten, der gleich neben der Alten Holstenstraße steht. Doch Theodor Müller, Chefredakteur der gleichgeschalteten Bergedorfer Zeitung, verspricht: „Im Herbst nächsten Jahres werden die Schranken an der Alten Holsten- und an der Kampstraße – diese größten Schmerzenskinder der Reichsbahn und aller am Straßenverkehr Interessierten – endlich beseitigt werden können.“
Tatsächlich klappt es dank der massiven Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nazis, die auch für dieses Großprojekt greifen, den ersten Bauabschnitt im Oktober 1934 abzuschließen. Damit liegen die heutigen S-Bahngleise 3, 4 und 5 rund fünf Meter über der Bergedorfer Hälfte des Bahnhofs. Im Frühjahr 1936 beginnt der zweite Bauabschnitt mit dem Aufschütten dieses Teil, dem Neubau des Bahnhofsgebäudes – und einem Kuriosum für die Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn.
Bergedorf-Geesthachter Eisenbahn baut provisorischen Bahnhof am Weidenbaumsweg
Die BGE verliert für gut ein Jahr ihr eigenes Gleis neben denen der Reichsbahn. Um ihre Passagiere nicht jeden Tag vom Bahnhof Bergedorf-Süd quer durch die Stadt und zurück schicken zu müssen, errichtet sie einige Hundert Meter vom Bahnhofsneubau entfernt am Weidenbaumsweg eine provisorische Station. Markantes Warte- und Kartenhäuschen ist ein Holzschuppen, der noch bis in die 1990er-Jahre als Kiosk genutzt werden wird.
Als Interimsbahnhof sind die Tage des Häuschens am 13. Oktober 1936 gezählt. An diesem Tag eröffnet die BGE ihren neuen Bahnsteig gleich neben der Reichsbahn auf der noch immer andauernden Großbaustelle, auf der jetzt der Bau des neue Bahnhofsgebäudes auf Hochtouren läuft, wie die Bergedorfer Zeitung zur feierlichen Einweihung der BGE schreibt: „In der Zeit unmittelbar vor der Ankunft des ersten Zuges in Bergedorf bis zur Abfahrt des ersten Zuges nach Geesthacht hatten alle Arbeiten auf dem Bahnsteig geruht. Alle Arbeiter und Angestellten, soweit sie irgend abkömmlich waren, nahmen teil an diesem bedeutenden Akt.“
Altes Bahnhofsgebäude steht dem neuen Bahnsteig der BGE im Weg
Ganz fertig ist auch der neue BGE-Bahnsteig noch längst nicht. Er ist stark verkürzt eingeweiht worden, muss er doch am alten Bahnhofsgebäude enden, das ja noch immer in Betrieb ist. Auch das zweite, für das Umkoppeln der Lok wichtige Gleis fehlte noch.
Weit größer als das Fest der BGE fällt gut ein Jahr später die Einweihung des neuen Bergedorfer Bahnhofs aus. Tausende Bergedorfer und Lohbrügger strömen am Freitag, 29. Oktober 1937, vor den neuen Bahnhof, wo beiderseits der nun erhöhten Trasse die Festveranstaltung aus dem Bahnhofsgebäude per Lautsprecher übertragen wird. Die Bewohner vieler Gebäude in der Nachbarschaft haben auf Bitten von Bürgermeister Hermann Matthäs Fahnen gehisst.
Bergedorfs neuer Bahnhof – zur Einweihung 1937 mit Hakenkreuzfahnen geschmückt
„Am festlichsten aber war der Bahnhof selber geschmückt“, beschriebt die Bergedorfer Zeitung am 30. Oktober 1937. „Ringsherum wehten an hohen weißen Masten die Hakenkreuzbanner, und von der Überdachung der Eingangsportale des neuen Empfangsgebäudes hingen grüne Girlanden.“
Als Festredner und Ehrengast ist Reichbahndirektionspräsident Dr. Erich Gondefroy erschienen. Er lobt das von unserer Zeitung zu „Bergedorfs Sprung in die Moderne“ erhobene Projekt als Symbol der Schaffenskraft des Dritten Reiches. Tatsächlich haben die Nazis diesen Bahnhof damals außer mit den vielen Bergedorfern noch bekannten Wandmalereien über Eisenbahn- und Stadtgeschichte gleich noch mit etlichen fest installierten „Hoheitszeichen“ des Dritten Reichs „verziert“.
Gefeierter Neubau wird 2008 für die heutige Station Bergedorf abgerissen
Fazit der Bergedorfer Zeitung: „Der neue Bahnhof stellt gewissermaßen die Visitenkarte Bergedorfs vor, und er entspricht sicherlich viel mehr dem Bild, das unser aufstrebendes, blühendes Gemeinwesen bietet, als das alte Bahnhofsgebäude, von dem wir in diesen Tagen ohne irgendwelche wehmütigen Empfindungen Abschied nehmen.“
Der so gefeierte Neubau von 1937 soll nur 71 Jahre später ebenfalls fallen: Er muss 2008 der heutigen Station weichen – was samt Verlegung des Bergedorfer ZOB vom Bahnhofsvorplatz auf das Areal der ehemaligen BGE-Gleise über dem Eingangsportal erneut für ein dreijähriges Baustellenchaos im Zentrum Bergdorfs sorgen soll.
„Tag für Tag wuchs der Bahndamm – und mit ihm die Ungeduld der Bergedorfer“
Für umfangreichen Ärger hat übrigens auch die fast dreimal so lange andauernde Bahndamm-Großbaustelle in den 1930er-Jahren gesorgt – trotz aller Begeisterung über das Ende der langen Staus vor den Schranken. „Tag um Tag wuchs der Damm und mit ihm die Ungeduld der Bergedorfer und Lohbrügger. Ihnen kam diese Bauzeit entschieden zu lang vor“, schreibt unsere Zeitung in einem Rückblick am 28. Oktober 1937.
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Und weiter: „Die Zuschriften an die Bergedorfer Zeitung nahmen unglaubliche Formen an. Bergedorfer Bürger beschwerten sich darüber, dass die Pläne für das neue Bahnhofsgebäude zunächst in Lohbrügge ausgelegt wurden und verlangten Rechenschaft für ein derartiges Tun. Ganz Schlaue bewiesen, dass das Projekt unhaltbar sei und forderten ganz entschieden eine andere Lösung.“ Fazit: „Recht viele dieser Vorschläge waren nicht etwa gemacht worden, um nun tatsächlich positiv mitzuarbeiten, sondern hatten ihren Hauptgrund in einem gewissen Geltungsbedürfnis des einzelnen ,Ratgebers’.“