Bergedorf. Die Rüstungspolitik von Kaiser Wilhelm II. führt direkt aufs Schlachtfeld. Alle Menschen erwarten den schnellen Sieg. Es kommt anders.
Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts wurde in Bergedorf mit Jubel und einem Massenauflauf begrüßt: „Alles eilte zum Bahnhof, um dort der Vorbeifahrt der Truppen zu harren“, berichtet unsere Zeitung am Sonnabend, 1. August 1914. Es ist der Tag des Ausbruchs vom Ersten Weltkrieg, der als Quelle aller folgenden Krisen einschließlich des Zweiten Weltkriegs gilt. In Bergedorf ahnte das noch niemand: „In kurzer Zeit hatte sich auf der Straße vor dem Bahnhof eine große Menschenmenge versammelt. Begeisterung und Sorge erfüllte die Gemüter.“
Die Bergedorfer waren nicht allein mit diesem Gefühl zwischen Glauben an einen schnellen Sieg, dem Stolz auf Kaiser und Vaterland, aber auch der Angst um das Leben der Söhne und Väter, die jetzt in den Krieg zogen. „Wo man ein Gespräch belauschte, ob hier am Bahnhof oder anderswo in den Straßen, galt es nur der inhaltsschweren Ahnung, die auf allen wie ein Alp lag“, beschreibt die Bergedorfer Zeitung das, was in die Forschung als „August-Erlebnis“ einging – eine Welle der Begeisterung, ja ein buchstäbliches, unheimliches Glücksgefühl, das die Menschen erfasste.
150 Jahre bz: Wie Bergedorf den Beginn des Ersten Weltkriegs erlebt
Der Krieg, der letztlich 17 Millionen Tote fordern sollte, fast drei Viertel der Weltbevölkerung erfasste und große Teile davon für Jahre in Hunger und Elend stürzte, kam tatsächlich nicht unerwartet: „Mit großer Ungeduld erwartete man jeden Tag das Erscheinen der Morgen- und Abendzeitungen mit den neuesten Nachrichten“, schreibt der Bergedorfer Rechtsanwalt und Notar Wilhelm Kellinghusen in seinem Buch „Kriegserinnerungen“. „Die Hoffnung, dass das drohende Ungewitter auch dieses Mal, wie schon vorher in den Jahren 1905, 1909, 1911 und 1913 noch vorübergehen würde, wurde von Tag zu Tag geringer.“
Tatsächlich hatte Kaiser Wilhelm II. in seiner seit 1888 andauernden Regierungszeit massiv aufgerüstet und die europäischen Nachbarn Frankreich, Russland und England seit der Jahrhundertwende mit seinen Reden und seinem Auftreten regelmäßig brüskiert. Statt auf Diplomatie basierte Deutschlands Außenpolitik allein auf der Demonstration von Stärke – und das in einer Zeit, wo alle diese Großmächte anderswo auf der ganzen Welt außerhalb Europas Vernichtungskriege führten, um ihre Kolonialreiche immer weiter auszubauen.
Moderne Waffentechnik machen alle Seiten siegessicher – ein fataler Irrtum
Ein Pulverfass, das ein eher unerwarteter Funke entzündete: Am 28. Juni 1914 erschoss ein serbischer Nationalist in Sarajewo den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Ehefrau Sophie. Es war der Höhepunkt in einem Regionalkonflikt, nämlich der 1908 erfolgten Annexion des eigentlich serbischen Bosnien durch Österreich, der einzigen europäischen Großmacht, die in keine Kolonialkriege verstrickt war.
Nur sechs Wochen später hatten sich die Militärs bei den teils ohnehin kriegsbegeisterten Herrscherhäusern durchgesetzt und durften die vielen neuen Erfindungen der Waffentechnik zu Lande, zu Wasser und jetzt sogar in der Luft ausprobieren. Der Erste Weltkrieg brach aus – und alle Seiten waren siegessicher, was auch an den Zügen nachzulesen war, die Anfang August Hunderttausende deutsche Soldaten an die Front brachten. „Auf zum Preisschießen“, stand auf den Waggons. Ein fataler Irrtum.
Deutschland mit Österreich gegen Frankreich, England, Russland und die USA
Deutschland bildete mit Österreich-Ungarn die Allianz der sogenannten „Mittelmächte“, denen sich unter anderem Bulgarien und das Osmanische Reich, die spätere Türkei, anschlossen. Ihnen standen Russland, Frankreich, England, verschiedene weitere Verbündete und ab April 1917 schließlich auch die USA gegenüber. Zusammen bildeten sie die „Entente“.
Wie kriegslüstern Deutschland im Sommer 1914 war, zeigt ein Blick in die Ausgaben unserer Zeitung. Wir hatten zwar schon seit Anfang des Jahres über die sich anbahnenden Konflikte berichtet, allerdings mit inhaltlicher Distanz, wie etwa die Überschrift „Das europäische Rüstungsfieber“ vom 5. Februar zeigt. Selbst der Doppelmord von Sarajewo wird zwar mit einer Extra-Ausgabe bedacht, bleibt aber mit der Schlagzeile „Ein schwarzer Tag für die Donaumonarchie“ eher nachrichtlich.
Es hält sich das Gerücht, Deutschland müsse sich gegen einen Angriff verteidigen
Das ändert sich, als Deutschland aktiv in den sich anbahnenden Krieg hinein steuert. Und zwar von einem Tag auf den anderen: Ab 28. Juli 1914 wird jede Titelseite von einer riesigen Überschrift dominiert, durchziehen Artikel voller Begeisterung und Nationalstolz sowie der Überzeugung, Deutschland müsse sich gegen einen bevorstehenden Angriff verteidigen, die Bergedorfer Zeitung. An diesem Tag, einem Dienstag, titeln wir: „Die weltgeschichtliche Stunde“.
Noch hat der Kaiser den Krieg nicht erklärt, weshalb dem Nationalismus der Sprung in den Titel verwehrt bleibt, zumindest für vier Tage: „Der Ruf nach Vermittlung“ lautet die Schlagzeile am Mittwoch, 29. Juli, „Die Kriegserklärung der Donaumonarchie“ am Donnerstag und „Der Höhepunkt der europäischen Krisis“ am Freitag. Zum Wochenende gibt es für die Leser der Bergedorfer Zeitung dann keinen Zweifel mehr: Mit „Deutschland im Kriegszustand“ wird die Kriegserklärung des Kaisers an den russischen Zaren bekannt gemacht.
„Kopf und Herz waren zum Bersten voll von Gedanken und Empfindungen“
Zeitzeuge Wilhelm Kellinghusen hat diesen Tag so erlebt: „Man fühlte, dass endlich eine Entscheidung kommen musste und sehnte sie mit allen Fasern des Herzens herbei“, schreibt der damals frisch verheiratete Vater einer kleinen Tochter, der im Alter von Mitte 20 gerade als Rechtsanwalt in eine Kanzlei in Bergedorf eingetreten war. „Die ganze Bevölkerung hatte nur den einen Wunsch, endlich aus dieser qualvollen Ungewissheit herauszukommen. Kopf und Herz waren zum Bersten voll von Gedanken und Empfindungen.“
Doch das sollte sich an diesem Tag ändern: „Da, um 6 Uhr nachmittags, hörte ich vom Balkon unseres Hauses in Bergedorf dumpfe Glockenschläge unserer alten Kirche herauf klingen. Das war die Erlösung! Denn als Reserveoffizier wusste ich, dass dieses Läuten ,Mobilmachung’ bedeutete. Ich schmetterte sofort ein freudiges ,Hurra’ vom Balkon hinunter. Jetzt war der Augenblick gekommen, den als Student, Soldat und Offizier so oft geleisteten Schwur, dem Vaterlande mit Blut und Leben zu dienen, in die Tat umzusetzen. Warum sollte mir da das Herz nicht höher schlagen!“
Titelseiten der Bergedorfer Zeitung setzen auf Theatralik: „Sein oder Nichtsein!“
Die Bergedorfer Zeitung schaltete jetzt auf theatralische Überschriften um: „Deutschlands letztes Wort“ heißt es auf der Titelseite vom Sonntag, 2. August, mit Blick auf die Mobilmachung. Weiter geht es mit „Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ und „Das deutsche Volk steht auf wie ein Mann“ am Dienstag, „Gegen Frankreich und Russland“ am Mittwoch und „Des deutschen Volkes große Stunde“ am Donnerstag. Und am Sonnabend, 8. August 1914, heißt es auf der Titelseite sogar: „Sein oder Nichtsein!“
Auch im Innenteil unserer Zeitung dominiert jetzt natürlich das stark nationalistisch eingefärbte weltpolitische Geschehen bis hin zur wörtlich abgedruckten Thronrede des Kaisers, in der er den Krieg zur „Notwehr“ stilisiert und dem gesamten Reichstag den Treueschwur abverlangt. Auch im Anzeigenteil greift der Krieg immer mehr Raum. Einerseits indem die Sparkasse, die Bergedorfer Bank, die Eisenbahn und diverse Geschäfte darauf hinweisen, dass trotz der äußeren Umstände bei Warenbeständen, Fahrplänen und der Sicherheit der Geldeinlagen alles bleibe wie bisher.
Der Krieg beginnt mitten in der Erntezeit: Droht sofort eine Hungersnot?
Andererseits gibt es einen riesigen Aufruf für die Landwirtschaft: „Helft die Ernte einzubringen!“ steht über der halbseitigen Anzeige, die ein ganzer Kreis von Initiatoren geschaltet hat. Auslöser ist ein Drama: Der Kaiser hat den Krieg ausgerechnet zum Beginn der Ernte ausgerufen. Durch die sofort startende Mobilmachung fehlen überall Helfer.
Schon im ersten Kriegswinter droht so eine Hungersnot, machen die Initiatoren der Anzeige deutlich: „Helft unseren Landwirten, das in die Scheunen zu holen, was der Himmel so üppig wachsen und reifen ließ. Keiner, der arbeiten kann und will, halte sich aus falscher Scham fern! Körperliche Arbeit ehrt auch den Geistesarbeiter!“
„Alle wurden von dem Gedanken getragen, das Deutschlands Sache gerecht sei“
Wie die Bergedorfer die Nachricht vom Kriegsausbruch aufgenommen haben, beschreibt Wilhelm Kellinghusen: „Die sonst so stille Hauptstraße unserer Stadt war am Nachmittag des 1. August 1914 wie umgewandelt, schwarz voll von Menschen. Alle waren froh, dass endlich die Entscheidung da war. Die Stimmung war ernst, aber auch zuversichtlich. Alle wurden von dem Gedanken getragen, dass Deutschlands Sache gerecht sei und dass Gott unseren Waffen beistehen würde.“
Kellinghusen ging zusammen mit seiner Frau ins heutige Sachsentor, „um meine Gedanken und Empfindungen auszutauschen mit Freunden und Bekannten. Unser erster Gang war zur Post, um dort den Mobilmachungsbefehl mit eigenen Augen zu sehen. Auf rotem Papier war er angeschlagen.“ Weitere Befehle fanden sich „an den Anschlagsäulen der Stadt“.
Bergedorfer feiern die ersten Siege mit Flaggen an ihren Häusern
„Man spürte bereits einen Hauch von der wunderbar durchdachten und arbeitenden Maschine der Mobilmachung“, schreibt Wilhelm Kellinghusen über diesen Sonnabendnachmittag. „Die angeschlagenen Befehle wurden von der gesamten Bevölkerung, auch den Arbeitern, mit Ruhe und Genugtuung gelesen. Mit erhobene Herzen kehrten wir zum Abendessen in unsere Wohnung zurück.“
Zwei Tage später, am Montagnachmittag, folgte er seinem Einberufungsbescheid nach Osnabrück und ging vom Villengebiet zum Bahnhof: „Die alte Hauptstraße Bergedorfs prangte Haus für Haus in vollem Flaggenschmuck, weil eben die Nachricht von einem großen See-Siege unserer Schlachtflotte über die russische Ostseeflotte bekannt geworden war.“
Herzzerreißende Abschiedsszenen am Bergedorfer Bahnhof
Die Lage an der Station beschreibt unsere Zeitung in ihrer Ausgabe vom 4. August 1914 so: „Herzzerreißende Abschiedsszenen am Bahnhof, wo die Menge den ganzen gestrigen Tag über bis in die Nacht hinein aushielt und die Scheidenden mit begeisterten Hurrarufen begrüßte.“
Zur allgemeinen Stimmung in Bergedorf heißt es: „Im Nu war die Kunde der Mobilmachung in alle Straßen und Häuser gedrungen, auf den Straßen ging sie von Mund zu Mund. Tiefer Ernst und Ergriffenheit malten sich auf die Gesichter. Aber hellauf tobte die Begeisterung, als der erste Eindruck gewichen war, als es Wahrheit wurde, dass der Kaiser alles unter die Fahne rief, dass auch der Landsturm, jung und alt, sich bereithalten sollte. Durch die Straßen wogte die Menge in ständigem Gewühl. Überall hörte man fragen: ,Musst Du auch mit?’ Und stolz und fest ward die Antwort gegeben.“
Bürgermeister Paul Walli spricht von „unbesiegbarer deutscher Rasse“
In der Sitzung von Bergedorfs Magistrat und Bürgervertretung übte sich Bürgermeister Dr. Paul Walli in einer Form von Patriotismus die zeigt, dass vieles nicht erst 20 Jahre später von Hitlers Nazis erfunden wurde: „Von allen Seiten angegriffen haben wir das feste Vertrauen zu unserem Volk und unserem Heer, dass es gelingen wird, den Angriff der Feinde niederzuschlagen. Und dass es sich zeigt, dass die deutsche Rasse unbesiegbar und unsterblich ist. Am deutschen Wesen soll einmal die Welt genesen.“
Sofort bereitete er zusammen mit der Politik die damals noch eigenständige Stadt Bergedorf auf die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Krieges vor. So wurden 100.000 Mark für das Anlaufen einer „Kriegsfürsorge“ für Arbeitslose und die schnell wachsende Zahl bedürftiger Familien bereitgestellt. Gleichzeitig wird Arbeitskräfte-Vermittlung für kriegswichtige Betriebe wie die Pulverfabrik Düneberg bei Geesthacht eingerichtet Zudem organisiert Bergedorf neben der Kontrolle der deutschlandweit festgelegten Höchstpreise für alle Lebensmittel auch die Lebensmittelverteilung über den hiesigen Frauenverein, das Rote Kreuz und eine Fürsorgestelle im Bahnhof.
Auf dem Titel feiert die bz Kriegserfolge, hinten ballen sich Todesanzeigen
Sehr schnell füllt sich der Familienanzeigen-Teil unserer Zeitung mit Todesnachrichten. Während auf dem Titel von immer neuen Erfolgen der Truppen berichtet wird, kehren schon ab September auf den letzen Seiten immer mehr Gefallene zurück.
Für die Bergedorfer Zeitung bedeutet der Krieg zusätzliche Aufmerksamkeit und damit Auflage. Sie steigt rasant – vor allem auch deshalb, weil zahlreiche Soldaten sie als zweites Abonnement neben ihrer Familie in der Heimat mit der Feldpost an die Front bekommen. Entsprechend selbstbewusst lautet unsere Eigenwerbung zum Abonnement im Dezember 1914: „Der Krieg“, steht dort in großen Lettern, „hat die Bedeutung der Tagespresse für alle Kreise des Volkes in das beste Licht gerückt.“
- Mondlandung 1969 – in einem Bergedorfer Treppenhaus
- Bismarcks Tod: Große Trauer – und ein handfester Skandal
- Staatsbesuch der Queen 1965: Royaler Charme für Hamburg
Ohne Fernsehen, Radio und natürlich ohne Internet waren die Zeitungen die einzige, wenn auch überschwänglich patriotisch eingefärbte Informationsquelle in diesen turbulenten Zeiten. Wir formulierten das damals so: „Wer möchte in diesen großen Tagen die Zeitung entbehren, die ihn dauernd über die weltgeschichtlichen Ereignisse auf dem Laufenden hält, deren Zeugen wir sind.“ Redaktion und Verlag seien „überzeugt, dass sich in dieser großen Zeit das Band zwischen unserem Leserkreise und der Bergedorfer Zeitung noch fester schlingen wird“.