Bergedorf. 1919 bis 1933: Bergedorfs beherzter Zeitungsstreit zwischen Sozialismus und „Nazi-Blatt“ bestimmt die ganze Zeit der Weimarer Republik.
Am 1. Oktober 1919 bekommt die Bergedorfer Zeitung einen wortgewaltigen Gegenspieler. Nach zwei Probenummern im September startet das Bergedorf-Sander Volksblatt als betont linke Tageszeitung. „Die Sozialdemokraten wollten endlich dem Kampfblatt der Bürgerlichen, der Bergedorfer Zeitung, einen Gegenpol bieten“, schreibt Christel Oldenburg in Bergedorfs SPD-Chronik „Unbeugsam und leidenschaftlich“.
Tatsächlich beginnt mit dem Erscheinen des Volksblatts auch in Bergedorfs Zeitungslandschaft der mehr oder weniger militant ausgetragene deutsche Streit um die beste Form der jungen Weimarer Republik: Ist der mit dem Ende des Ersten Weltkriegs eher spontan eingeschlagene Weg einer parlamentarischen Demokratie richtig?
Nach Abdankung des Kaisers: Adel und Bürgertum besser von Macht fernhalten?
Die große Sorge der auch selbst tief zerstrittenen SPD: Das gerade eingeführte gleiche Wahlrecht für alle Menschen ab 20 Jahren könnte samt freier, nur ihrem Gewissen verantwortlicher Abgeordneter im Reichstag, den Landesparlamenten und auch der Bergedorfer Bürgervertretung gleich in den nächsten Krieg führen. In jedem Fall aber ist so jederzeit eine Rückkehr der alten Mehrheiten möglich, und damit die gerade erkämpfte Macht der SPD und der Arbeiterschaft bedroht.
Ist es nach der Abdankung des Kaisers also besser, die alte Macht von Adel und Bürgertum dauerhaft zu verhindern? Dann wäre eine Räterepublik mit imperativem Mandat der richtige Weg, deren Abgeordnete allein dem Willen der Arbeiter verpflichteten wären. Oder genügt die schiere Masse der Werktätigen, um die parlamentarische Demokratie dauerhaft in die richtige Richtung zu bringen?
14 Jahre publizistisch-politische Scharmützel in Bergedorf
Genau das ist der Kern des Zeitungsstreits in Bergedorf, der vom Herbst 1919 bis zum Verbot des Volksblatts durch die Nazis im März 1933 dauert. Knapp 14 Jahre liefern sich die rechts-konservativen Redakteure unserer Zeitung nun mit dem sozialistischen Grundtenor der Volksblatt-Kollegen unzählige publizistisch-politische Scharmützel. Eine Trennlinie, die auch durch die Bevölkerung des 16.800-Einwohner-Städtchens Bergedorf verläuft sowie durch die rund 5000 Bürger zählende benachbarte Arbeitergemeinde Sande, die heute Lohbrügge heißt. Das belegen etliche, teils sehr scharf formulierte Leserbriefe im sogenannten „Sprechsaal“.
Los geht die verbalen Schlacht gleich im November 1919 nach einem etwas unsensiblen Beschluss des Sander Gemeinderates: Das von der SPD dominierte Gremium hatte entschieden, alle amtlichen Bekanntmachungen nicht mehr wie bisher in der Bergedorfer Zeitung, sondern ausschließlich im Volksblatt zu veröffentlichen. Immerhin verstand sich das junge Blatt als amtliches Organ, und Herausgeber war unter anderem der SPD-Landesverband Hamburg.
„Volksblatt wird von einem erheblichen Teil der Einwohner überhaupt nicht gelesen“
Das löste scharfen Protest in der Sitzung des Sander Bürgervereins vom 4. November aus, wie unsere Zeitung drei Tage später ausführlich berichtet: „In einer lebhaften Aussprache wurde darauf hingewiesen, dass das Volksblatt von einem sehr erheblichen Teil der Einwohnerschaft überhaupt nicht gelesen werde. Den wolle man durch diesen Beschluss wohl zwingen, gegen seinen Willen das Blatt zu halten. Man erblicke in dieser Tatsache den Ausdruck nackter Parteiherrschaft und Willkür, die jede Rücksicht auf das Gemeinwohl vermissen lasse.“
Tatsächlich scheint die Gemeinde Sande den Beschluss zurückgenommen oder nicht dauerhaft umgesetzt zu haben. Jedenfalls erscheinen diverse amtliche Anzeigen nach kurzer Unterbrechung auch wieder in der Bergedorfer Zeitung. Wie das Volksblatt reagierte, muss offen bleiben, weil nur sehr wenige seiner Ausgaben erhalten geblieben sind.
Bergedorfer Zeitung schreibt mit süffisantem Unterton gegen neue linke Konkurrenz
Vor dem Eklat um die Sander Gemeinderatsbeschluss wurde die neue Konkurrenz in den Artikeln unserer Zeitung gänzlich ignoriert. Erst am 10. November 1919, nach mehr als 30 Ausgaben des Volksblatts, wird mit süffisantem Unterton über seine in Hamburgs SPD umstrittene Gründung berichtet: Das „in Bergedorf kürzlich ins Leben gerufene neue Parteiblatt“ könne „bei den ungeheuren Herstellungskosten, die heute eine Zeitung verursacht, kaum bestehen“.
Doch das Bergedorf-Sander Volksblatt sollte sich dank vereinter, genossenschaftlich organisierter Kraft der Bergedorfer Sozialdemokraten aus kleinen Anfängen sehr schnell zu einer echten Konkurrenz mit einer täglichen Auflage von 5000 Exemplaren entwickeln. Die Bergedorfer Zeitung brachte es zeitgleich allerdings auf mehr als das Doppelte.
Verein der Anteilseigner bildet wirtschaftliche Grundlage des Volksblatts
Die Idee, eine eigene Zeitung in Bergedorf herauszugeben, hatte die SPD schon 1914. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte das Projekt. Fünf Jahre später holten die Genossen die Pläne aber wieder aus der Schublade, sammelten die Hälfte des Gründungskapitals durch den Verkauf von Anteilsscheinen an Bergedorfer Sozialdemokraten ein. Die anderen 50 Prozent übernahmen je zur Hälfte die Hamburger SPD und die parteieigene Druckerei Auer & Co. in Hamburg, wo das Bergedorf-Sander Volksblatt in den ersten neun Monaten auch gedruckt wurde.
Gleichzeitig erwarb der Verein der Anteilsinhaber ein Grundstück neben dem heutigen SPD-Haus an der Vierlandenstraße, baute die dort stehende, in Konkurs gegangene kleine Brauerei Peters um und kaufte die Druckmaschinen. Ab 5. Juli 1920 entstand das Volksblatt hier, kaum 100 Meter Luftlinie entfernt vom Verlagshaus der Bergedorfer Zeitung, das seit 1884 am Bergedorfer Markt 6/7 stand, wo sich heute die Baugrube des einstigen kleinen Karstadt-Hauses erstreckt.
Den „Bürosklaven“ den wahren Weg zu Sozialismus und Demokratie zeigen
Schon im Juli 1920 soll das Volksblatt die Zahl von 5000 Abonnenten erreicht haben, wie die Chronik des Vereins der Anteilsinhaber 60 Jahre später schreibt. Die inhaltliche Ausrichtung des Bergedorfer SPD-Blattes formuliert die zweite Probenummer vom 10. September 1919 so: „Keine Diktatur einer Minderheit! Nicht durch Putsche können wir den jetzigen Zustand verbessern, durch wahre Demokratie wollen wir uns durchsetzen. Wir wollen alle Freunde und Kämpfer sammeln, die auf dem Boden der Sozialdemokratischen Partei stehen, sozialdemokratisch wird deshalb auch unsere Zeitung sein. Dem Industriearbeiter wie dem Bürosklaven, dem Handwerker wie dem kleinen Gewerbetreibenden werden wir, getreu unserem Grundsatz ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’, den wahren Weg zum Sozialismus und zur Demokratie zeigen.“
Tatsächlich bleibt das Volksblatt als eher gemäßigte linke Zeitung auf dem Boden der Demokratie, sorgt in den folgenden Jahren allerdings für zahlreiche markante Schlagzeilen gegen Nationalismus und soziale Ungleichheit. So titelt das Volksblatt im Juni 1922 zu blutigen Unruhen in Berlin „Der deutschnationale Bruderkampf“ und blickt 1928 mit „Weihnacht: Elend und Sorge“ auf die Folgen der Wirtschaftskrise.
„Alle Macht dem Volke! Nieder mit den Hitler-Baronen!“
Anfang der 1930er-Jahre geht es dann in den Kampf gegen den Siegeszug der Nazis: „Doppelmord einer Hitler-Bestie“ heißt es 1931 über ein Attentat in Berlin. Und im Juni 1932 wird die Nähe der rechten Adligen zur NSDAP getitelt: „Die Macht dem Volke! Nicht den Hitler-Baronen“.
Auch mit der Bergedorfer Zeitung geht das Volksblatt immer härter ins Gericht. So schreiben seine Redakteure am 26. Januar 1931 unter der Überschrift „Die Bergedorfer Zeitung als Nazi-Stütze“ vom „Nazi-Blatt“, das Tatsachen gegen die SPD verdrehe und den „Spießbürgern Bergedorfs“ nach dem Mund schreibe. Fazit des Volksblatts: „Werdet Leser der sozialdemokratischen Presse, agitiert für das Volksblatt!“
Bergedorfs SPD erreicht ihren Achtungserfolg von 47,5 Prozent aus 1919 nie wieder
Derweil hat es die SPD bei den Wahlen zur Bergedorfer Bürgervertretung in den 1920er-Jahren nicht leicht. Ihren Achtungserfolg von 47,5 Prozent der Stimmen bei der ersten Nachkriegswahl vom 13. April 1919 wird sie in den folgenden Jahren niemals mehr erreichen. So rutscht sie nach er großen Inflation von 1923 auf unter 30 Prozent ab und verliert die Mehrheit klar an die Bürgerliste. Auch anschließend geht es für die SPD nie höher als 38 Prozent.
Die wirtschaftliche Entwicklung des Volksblatts scheint in den 20er-Jahren dagegen überwiegend eine Erfolgsgeschichte gewesen zu sein. So heißt es in den Jahresberichten der SPD, dass die Zeitung 1921 auf eigenen Beinen steht und ohne weitere Zuschüsse aus Hamburg auskommt. 1925 werden neue Maschinen angeschafft und das Gebäude erweitert, was „eine verbesserte Aktualität“ des Volksblattes bedeutete, das werktags nun acht und am Sonnabend sogar zwölf Seiten hat.
Lob aus Hamburg für „außerordentlich intensive“ Wahlkampfarbeit des Volksblatts
Großes Lob der Hamburger SPD gibt es 1929 für die „außerordentlich intensive“ Wahlkampfarbeit des Volksblatts bei den Bürgerschafts- und Reichstagswahlen von 1927 und 1928, die es „mit Umsicht und Takt“ geleistet habe. „Es hat seine Aufgabe als Parteiorgan für das hamburgische Landgebiet und die preußischen Kreise Stormarn und Lauenburg gut erfüllt. Die Zahl der Leser ist beträchtlich gestiegen und weiter in der Zunahme begriffen.“
Doch mit dem Siegeszug der Nazis ist das Ende des Volksblatts besiegelt – und wird in unserer ebenfalls seit 1930 immer weiter nach rechts gerückten Zeitung ganz nüchtern vermeldet: „Wie wir kurz vor Redaktionsschluss erfahren, ist jetzt als letzte sozialdemokratische Zeitung im Hamburger Staatsgebiet das Bergedorfer Volksblatt verboten worden. Die noch nicht zur Ausgabe gelangten Exemplare der heutigen Nummer verfielen der Beschlagnahme“, heißt es in einem kurzen Text am 4. März 1933.
- „Flamme von Neuengamme“ – das große Geschäft mit dem Erdgas
- Streik im Hafen – Bergedorfer sind schockiert
Zwei Tage später wird unter der Überschrift „Hakenkreuzfahnen über Bergedorf“ aber noch mal nachgetreten. In dem umfangreichen Artikel wird die letzte Reichstagswahl vor dem Dritten Reich am 5. März 1933 als „großer Tag“ gepriesen, an dem ganz Bergedorf – und vor allem das Villengebiet – gefeiert habe. Auch wenn die linken Kräfte geschockt waren, „kam es zu keinerlei Reibereien oder ernsteren Zusammenstößen. Das Volksblatt-Verbot scheint seine ersten Früchte zu zeitigen“.
Die Nazis lassen sofort das gesamte Eigentum der SPD-Zeitung beschlagnahmen, die aus gesetzlichen Gründen zunächst nur für fünf Tage verboten werden konnte, aber nie wieder erschienen ist. Den Verein der Anteilseigner lösen sie am 10. April 1934 auf, Gebäude und Grundstück der Druckerei werden ebenso wie das benachbarte, ebenfalls im Eigentum der Volksblatt-Anteilseigener befindliche SPD-Haus im Oktober 1935 zwangsversteigert. 1952 geht nur das Gewerkschaftshaus zurück an den Verein.