Die Panne im umstrittenen Kernkraftwerk an der Elbe drohte Hamburgs Versorgung mit Strom und Wasser lahmzulegen. Ein Image-GAU für Betreiber Vattenfall.
Am Anfang waren die Ampeln. An 1500 der 1800 Lichtzeichenanlagen in Hamburg tasteten sich verwirrte Autofahrer am Sonnabend vorsichtig über die Kreuzungen. Dann mussten Industriebetriebe ihre Produktion stoppen, Fahrstühle in Krankenhäusern fuhren nur noch bis zum Notstopp – und schließlich platzten die Wasserrohre. Eine Zehntelsekunde reichte aus, um die Versorgung Hamburgs mit Strom und Wasser ernsthaft zu gefährden. So lange nämlich war nach dem Kurzschluss im Kernkraftwerk Krümmel, 34 Kilometer vom Hamburger Rathaus entfernt, die Stromspannung im Netz abgefallen.
Schon die dritte Panne, seit der Reaktor vor zwei Wochen nach zweijähriger Pause und etlichen technischen Überprüfungen wieder hochgefahren war. Die Schnellabschaltung fuhr die Anlage herunter, Strom aus dem Fremdnetz anderer Unternehmen wurde zugeschaltet. Doch die Zehntelsekunde reichte aus, um für den Kraftwerksbetreiber Vattenfall zu einem Image-GAU zu werden und eine neue politische Debatte über die Sicherheit deutscher Kernkraftwerke zu entfachen. Störfall Krümmel. Zu augenfällig erschienen die Parallelen zu den Pannen vor zwei Jahren, als dass sie nur zufällig sein könnten. Wieder war der Tatort ein Transformator, wieder fand Vattenfall nicht die richtigen Worte, und wieder reagierte der Konzern zu spät.
Während sich Hamburger Polizisten darüber wunderten, dass mehr als drei Viertel aller Ampeln in der Stadt plötzlich ihren Dienst aufgaben, ahnte die Atomaufsicht in Kiel noch nicht einmal, dass irgendetwas in dem Pannenreaktor Krümmel nicht stimmen könnte. Die Folgen jedenfalls waren in ganz Hamburg zu spüren. Zwischen 18 Uhr am Sonnabend in der Kieler Straße und 12.45 Uhr am Sonntag in Langenhorn platzten in Hamburg zwölf Wasserrohre, „in der Nacht mehr oder weniger im Stundentakt“, sagte Matthias Sobottka, Leiter der Unternehmenskommunikation bei Hamburg Wasser. In den Straßen füllten sich Krater mit braunem Matsch, die Autos sahen aus, als hätten sie an der Rallye Dakar teilgenommen.
Zeitweilig waren mehrere Tausend Haushalte im Norden und Westen Hamburgs, besonders in den Stadtteilen Stellingen, Eidelstedt, Eppendorf und Schnelsen, ohne Wasser. Die Versorgung sollte bis zur vergangenen Nacht wieder sichergestellt sein. 300 Störungen bei Wasserpumpen waren nach den Stromausfällen gemeldet worden. Bei der anschließenden Wiederinbetriebnahme sei es dann zu den „Druckstößen“ gekommen. Die Stromausfälle betrafen Einkaufszentren (Alstertal und Elbe) mit geringen Auswirkungen, heftiger aber die Großindustrie. Bei ArcelorMittal (früher Hamburger Stahlwerke) stoppte die Anlage mehr als vier Stunden. Werksleiter Lutz Bandusch schätzt den Schaden auf gut 100 000 Euro. Bandusch: „Das ist absolut ärgerlich: Wir zahlen zwar acht Millionen Euro im Jahr – sind bei Stromausfällen aber wie jeder Privathaushalt nur bis zu 2500 Euro abgesichert.“
Der Ausfall im Netz sei kein Einzelfall. Probleme habe es auch nach einer Sprengung auf der Baustelle am Kraftwerk Moorburg und vor zwei Jahren nach Störfällen in Krümmel und Brunsbüttel gegeben. In den Hamburger Asklepios-Krankenhäusern streikten Patienten-Telefone und Fernsehgeräte, Kühl- und Wärmeanlagen schlugen Alarm. Das Atomkraftwerk Krümmel, das 1402 Megawatt erzeugen kann, gehört zu den störanfälligsten Meilern in Deutschland. Seit seinem Start 1983 gab es in jenem grauen Klotz an der Oberelbe, die sich hier idyllisch durch die Marschlandschaft schlängelt, mehr als 300 meldepflichtige Ereignisse, darunter einige Störfälle. Kritiker verweisen darauf, dass schon beim Bau des Reaktors ab 1974 nicht alle Vorgaben eingehalten worden seien. Dass 19 Kinder im Umkreis des Kraftwerks an Leukämie erkrankten, kann nicht zweifelsfrei dem Reaktor zugeordnet werden. Zweimal musste der Pannen-Meiler lange Zwangspausen einlegen. Im Spätsommer 1993 entdeckten Experten der Kieler Atomaufsicht Risse in Rohrleitungen.
Am 28. Juni 2007 brannte nach einem Kurzschluss der Haupttransformator des Reaktors. Schon vier Tage nach dem Neustart am 19. Juni 2009 fiel ein elektronisches Bauteil aus, am 1. Juli schalteten sich nach dem Fehler eines Mitarbeiters erst ein Transformator, dann das gesamte Kraftwerk ab. „Das war für mich ein echtes Déja-vu“, sagte Vattenfall-Sprecher Ivo Banek. In der Tat schien sich die Geschichte zu wiederholen: Wie schon am 28. Juni 2007 legte auch an diesem Sonnabend, um 12.02 Uhr, ein Kurzschluss einen der beiden Transformatoren lahm, die das Kraftwerk mit dem Stromnetz verbinden, der Reaktor wurde automatisch heruntergefahren. Vor zwei Jahren war auch Vattenfall von Panne zu Panne gestolpert. Diesmal wollte es das Unternehmen besser machen und trat sogar am Sonntag vor die Medien. „Wir haben daraus gelernt“, sagte Banek. Ernst Michael Züfle, Geschäftsführer der Nuklearsparte, musste dann aber doch wieder Kommunikationspannen einräumen.
Die zuständige Atomaufsicht, das Sozialministerium in Kiel, war nicht von Vattenfall informiert worden, sondern hatte erst über drei Ecken – Objektschutz am Kraftwerk, Polizei, Innenministerium – vom Störfall erfahren. „Das ist völlig inakzeptabel“, sagte Züfle zerknirscht, „unser Anspruch ist, die Behörde als Erste zu informieren. Diesem Anspruch sind wir gestern nicht gerecht geworden.“ Nach dem Störfall vor zwei Jahren war die halbe Führungsriege ausgetauscht worden, darunter Deutschland-Chef Klaus Rauscher. Auch diesmal hatte es Pannen gegeben. An einem der 205 Steuerstäbe, die die Abschaltung bewirken, lief eine Mutter, die den Stab fixiert, nicht wie vorgesehen nach. „Dafür war ein defektes Elektronikteil verantwortlich“, so die Erklärung. Außerdem sei die Kühlung des Reaktorwasserreinigungssystems für vier Stunden ausgefallen. Wegen eines defekten Brennelements „erhöhte sich die Radioaktivität im Reaktorwasser“, hieß es lapidar. Es sei aber keine Radioaktivität ausgetreten. Züfle kündigte an, man wolle das Kraftwerk noch „acht bis neun Jahre“ betreiben. Kein Wunder: Seit Juni 2007 hat der Konzern 300 Millionen Euro in den Meiler gesteckt, jeder Tag, den Krümmel stillsteht, kostet Vattenfall „über den dicken Daumen“, so Züfle, etwa eine Million Euro. Künftig werde noch mehr Wert auf Transparenz gelegt, technische Berichte – wie über die jüngsten Störfälle – sollen sogar im Internet veröffentlicht werden.
Ganz so einfach wird es nicht werden. Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), zuständig für Krümmel, sagte dem Abendblatt: „Eine Entschuldigung und das Einräumen von Fehlern reicht nicht. Das Verhalten von Vattenfall zeigt einen Mangel an Qualifikation und Professionalität.“ Sie äußerte Zweifel, ob Vattenfall für den Betrieb von Atomanlagen geeignet sei. Auf jeden Fall dürfe Krümmel nicht ohne Zustimmung der Behörde wieder ans Netz. „Vattenfall muss klar sein, dass es sich hier um einen Störfall handelt, der intensiv analysiert werden muss.“