Mit den Zwischenfällen im Atomkraftwerk Krümmel hat Betreiber Vattenfall der Atomkraft-Branche einen Bärendienst erwiesen.

Wozu braucht man eigentlich noch Greenpeace? Sicher, die Öko-Aktivisten waren nach dem Transformatorenschaden in den vergangenen Tagen am Atomkraftwerk Krümmel in Geesthacht und beim Betreiber Vattenfall Europe sofort zur Stelle. Das gehört zu ihrem Kerngeschäft. Doch mit keiner noch so ausgefeilten Imagekampagne hätte die Umweltorganisation einen so schönen Knalleffekt erzielen können, wie er Vattenfall selbst gelungen ist.

Fast genau zwei Jahre lang war das Atomkraftwerk südlich von Hamburg abgeschaltet, nachdem 2007 einer der beiden Transformatoren abgebrannt war, der das Kraftwerk mit dem Hochspannungsnetz verbindet. Und nun zerreißt marode Technik an fast derselben Stelle die Hoffnung des Unternehmens auf einen reibungslosen und vor allem leisen Neustart.



Dabei sollte alles ganz besonders gründlich vonstatten gehen. Anfang März besuchten Abendblatt-Reporter den Reaktor, um einen Eindruck von den umfangreichen Renovierungsarbeiten zu gewinnen. "Wir tauschen alles aus, was heute und in den kommenden Jahren fällig ist und werden würde. So ziehen wir die nächsten Revisionen teilweise mit vor", sagte damals Kraftwerksmeister und Krümmel-Veteran Joachim Kedziora, Mitarbeiter im Kraftwerk seit der ersten Stunde und nun Leiter des Besucherzentrums. "Man kann in Deutschland nicht von alten Kraftwerken reden, denn sie werden ja immer wieder nachgerüstet und modernisiert. Die deutschen Kernkraftwerke stehen in der Blüte ihrer Jahre." Wenn dies die Blüte ist, wie sehen dann die welken Zeiten aus?


Bittere Ironie für Vattenfall und die Strombranche insgesamt: Ein Transformator, wie er nun erneut versagte, ist Bestandteil eines jeden Kraftwerks. Er hat nichts mit der Erzeugung des Stroms im Atomreaktor zu tun, sondern dient der Übertragung. So wenig, wie ein gerissener Keilriemen über die Sicherheit der Bremsen im Auto verrät, so wenig hat der Transformator mit der Sicherheit des nuklearen Teils in einem Reaktor zu tun.


Mit solchen Details allerdings kommt man in der Brandung der Atomkraft-Debatte nicht gut voran. Wenn ein Betreiber nicht einmal die Peripherie seines Atomkraftwerks im Griff hat, dieser Eindruck verbreitet sich dieser Tage von Krümmel, wie soll er dann die Zuverlässigkeit in den hochsensiblen Bereichen des Reaktors jederzeit quasi blind gewährleisten? Bei der Schnellabschaltung. Im Kühlkreislauf. In der komplexen Sensorik.


Vattenfall steht massiv in der Kritik, weil die folgenreiche Panne nicht aus heiterem Himmel kam. Der Trafo AT02, der am Sonnabend ausfiel, ist baugleich mit dem Trafo AT01, der am 28. Juni 2007 nach einem Kurzschluss Feuer gefangen und Krümmel zur Notabschaltung gezwungen hatte. Der einzige Unterschied sei, dass es diesmal nicht gebrannt habe, bilanzierte die für die Aufsicht zuständige Sozialministerin von Schleswig-Holstein, Gitta Trauernicht (SPD).


Die Atomaufsicht hatte Vattenfall ausdrücklich auf das Trafo-Problem hingewiesen. In einer Auflage zum Wiederanfahren am 19. Juni wurde der Konzern dazu verpflichtet, die beiden Trafos im Auge zu behalten. "Wir hatten keine Hinweise, dass es einen Kurzschluss geben könnte", versicherte eine Sprecherin von Vattenfall Europe. Die Trafos seien zuvor von der Herstellerfirma gewartet worden: "Da war alles in Ordnung."


Beide Trafos sind Oldtimer. Der AT01 wurde 1975 gebaut, der Trafo AT02 1982. Vattenfall hatte ihn 2007 aus dem Atomkraftwerk Brunsbüttel herangeschafft. "Das war unser Pool-Trafo, ein Ersatz-Trafo für alle Fälle", sagte die Sprecherin. Solche Vorratshaltung macht Sinn, weil es derartige Trafos nicht im Baumarkt gibt. Sie sind Ungetüme, groß wie ein Lastwagen und fast 400 Tonnen schwer.


Gebaut werden sie zum Stückpreis von acht bis neun Millionen Euro nur auf Kundenwunsch. Vom Auftrag bis zur Ablieferung können ein bis zwei Jahre vergehen. Das erklärt, warum Vattenfall 2007 nicht gleich zwei neue Trafos bestellte. Damals ging der Konzern noch davon aus, Krümmel in einigen Monaten wieder anfahren zu können.


Die neuen Pannen in Krümmel heizen die Diskussion um die Zukunft der Atomkraft in Deutschland unmittelbar an. Die Atomkraftgegner, angeführt von Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD), machen sich das Ereignis politisch zunutze und fordern, zumindest die ältesten deutschen Reaktoren möglichst schnell stillzulegen.


Für die politische Strategieführung der deutschen Stromwirtschaft bedeutet das einen herben Rückschlag. Die Versorgungskonzerne und ihre Lobbyorganisation, das Deutsche Atomforum, spürten zuletzt deutlichen Auftrieb in dem Begehr, den im Jahr 2000 vereinbarten Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland zu kippen. Damals hatte sich die rot-grüne Bundesregierung mit der Branche auf einen geregelten Rückzug aus der Atomkraft-Nutzung bis um das Jahr 2020 herum geeinigt, nach jahrzehntelangem Streit um die Technologie.


Starke Schwankungen beim Öl- und Erdgaspreis, vor allem aber der fortschreitende Klimawandel ließen die Kernspaltung zumindest als "Brückentechnologie" zuletzt wieder attraktiver erscheinen, als Übergangshilfe in ein solares Energiezeitalter. Zumal auch in anderen europäischen Staaten wie Schweden oder Italien alte Vorbehalte gegen die Atomkraft mittlerweile als überwunden galten. Union und FDP wollen, wenn sie nach der Bundestagswahl eine neue Regierung bilden können, den Atomausstieg sofort rückgängig machen.


Der Fall Krümmel wird daran vermutlich nichts ändern. Aber ebenso wie der miserable Zustand des niedersächsischen Atommüll-Lagers Asse verschaffen die Pannen in Geesthacht den Gegnern der Atomkraft in Deutschland neuen politischen Schwung. Die Stromwirtschaft geht derweil erst einmal in Deckung. 50 Prozent der Anteile am Atomkraftwerk Krümmel gehören Vattenfall Europe, die anderen 50 Prozent dem größten deutschen Energiekonzern E.on. Verantwortlich allerdings ist Vattenfall als Betreiber: "Der Betreiber hat die gesamte operative und technische Verantwortung. Es wäre uns gar nicht erlaubt, Stellung zu nehmen", sagte ein E.on-Konzernsprecher gestern dem Abendblatt. Man stehe aber in "intensivem Kontakt" zu Vattenfall. Welche Informationen das erbringt, blieb unklar, denn auch Vattenfall Europe hatte keine neuen Erkenntnisse über den Kurzschluss im Transformator.


Bei der Konkurrenz, die im Falle der Atomkraft-Debatte grundsätzlich eher Mitstreiter ist, zeigt man sich angesichts der Pannen in Krümmel schmallippig: "Wir bedauern den Störfall, ohne irgendjemandem einen Vorwurf zu machen", sagte ein Sprecher des RWE-Kraftwerksbetreibers RWE Power. "Der Vorgang ist natürlich nicht das, was man sich wünscht."


So geht der endlose Streit um die Nutzung der Atomkraft in Deutschland munter weiter. "Atomkraftgegner überwintern bei Dunkelheit und kaltem Hintern", dichteten die Befürworter der Technologie in den 1980er-Jahren. In der vergangenen Woche hat Hamburg erlebt, wie es sich anfühlt, wenn die Lichter ausgehen. Allerdings nicht wegen des Atomausstiegs - sondern weil Vattenfall Europe den Wiedereinstieg geprobt hatte.