Vor 19 Jahren wurde das Atomkraftwerk Lubmin im Nordosten Deutschlands abgeschaltet. Jetzt wird der letzte Reaktor abtransportiert.

Lubmin. Langsam, ganz langsam schiebt sich das Stahltor vor dem Block vier im früheren Atomkraftwerk Lubmin auf. Ein mächtiger grau-blauer Stahlkoloss taucht aus dem Dunkel der Halle auf. Scheinbar friedlich schlummert der letzte Reaktor des einst größten Atomkraftwerks der DDR auf einem Spezialwagen, der am Dienstag seine letzte Reise in das benachbarte Zwischenlager Nord angetreten hat. Doch die Ruhe trügt. In seinem Inneren gibt der Metallgigant 19 Jahre nach seiner Abschaltung noch immer radioaktive Strahlung ab. Ein 13 Zentimeter dicker Abschirmzylinder, der das vier Meter breite Reaktorgefäß umhüllt, hält die unsichtbare Gefahr in Zaum.

Der Stahlmantel soll verhindern, dass in den nächsten Jahrzehnten der Zwischenlagerung der Grenzwert von 100 Mikrosievert außerhalb des Reaktors überschritten wird. Der Atomausstieg, für die Atomkraftwerke in den Altbundesländern heftig diskutiert, wurde im Osten schlagartig mit der Wende Realität. Mit den Demonstrationen für Freiheit und Demokratie formierte sich 1989 ein erster sichtbarer, wenn auch zaghafter Bürgerprotest gegen die Atomkraft. Obwohl anderer Bauart als die gefährlichen Tschernobyl-Reaktoren, konstatierte die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit 1990 erhebliche Sicherheitsrisiken bei den in Rheinsberg und Lubmin verwendeten Druckwasserreaktoren des russischen Typs WWER 440. Noch im selben Jahr gingen beide Kraftwerke vom Netz – ein Industrieprojekt und rund 4000 Beschäftigte standen mit einem Mal vor einer unsicheren Zukunft.

1995 machte die Stilllegungsgenehmigung den Weg für den 3,2 Milliarden Euro teuren Rückbau frei. Inzwischen sind rund 85 Prozent des Kraftwerks demontiert, ohne dass es dabei zu einer erhöhten Strahlenbelastung eines Mitarbeiters gekommen ist, wie der Chef der Energiewerke Nord (EWN), Dieter Rittscher, sagt. Der letzte DDR- Reaktor wird am Donnerstag nach dem Umbau der Hubeinrichtung endgültig ins Zwischenlager geschoben. Mit dem Transport des letzten DDR-Reaktors in das Zwischenlager geht ein Stück Energiegeschichte im Osten Deutschlands endgültig zu Ende. Von der gedrückten Stimmung, die jedoch Anfang der 1990er Jahre die Belegschaft beherrschte, ist heute wenig zu spüren. „Dafür haben wir keine Zeit“, sagt der 61-jährige Christian Rohde. Der leitende Ingenieur, seit 1971 im Betrieb, verantwortet heute die Planung der einzelnen Stilllegungsschritte.

Die EWN als hundertprozentige Tochter des Bundes haben aus dem Rückbau von kerntechnischen Anlagen inzwischen ein einträgliches Exportgeschäft gemacht. Sie beschäftigen Mitarbeiter in Jülich, in der Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe oder in Murmansk, wo unter ihrer Leitung ein Zwischenlager für ausrangierte russische Atom-U- Boote entstanden ist. Vor wenigen Wochen zogen die EWN den Auftrag für den Abbau des stillgelegten Reaktors in Obrigheim (Baden- Württemberg) an Land. Rund 1000 Mitarbeiter beschäftigen die EWN. „Unsere Arbeit in Lubmin ist erst beendet, wenn der Atommüll entweder sicher im Endlager untergebracht oder nach dem Abklingen der weniger kontaminierten Abfälle wieder dem Wirtschaftskreislauf zugeführt ist“, sagt der EWN-Chef. 1999 wurden die ersten von 5283 in Castorbehältern verpackten abgebrannten Brennelementen eingelagert.

Das 235 Millionen Euro teure Zwischenlager Nord hat eine Genehmigung bis 2039.Wann die hochradioaktiven Brennstäbe jedoch ihren Weg in ein Endlager antreten können, ist derzeit ungewisser denn je. Nach dem Streit um das Endlager Gorleben schließt Rittscher eine längere Lagerung im Zwischenlager Lubmin nicht mehr aus. Umweltverbände und die Partei Die Linke befürchten inzwischen, dass das Zwischenlager gar zu einem Endlager ausgebaut werden könnte, was vom Innenministerium in Schwerin kategorisch zurückgewiesen wird. Eine Endlagerung in Lubmin wäre nicht genehmigungsfähig, sagt Innenminister Lorenz Caffier (CDU).