Tendenz in diesem Jahr: weiter steigend. Am Montag stoppte die Polizei einen Spezialtransporter - der Container war schrottreif.
Hamburg. Vertrauenerweckend sah der gelbe Auflieger mit dem schäbig-blauen Aufbau schon von Weitem nicht aus. Doch als die Gefahrgutexperten der Bremer Verkehrspolizei das Gespann am Montagmorgen gegen 11 Uhr auf dem Parkplatz "Ahlken" an der A 1 stoppten und näher betrachteten, trauten sie ihren Augen kaum. Tragende Teile des offenen Containers, der zur Urananreicherungsanlage in Gronau fuhr, waren komplett durchgerostet. Darauf festgeschnallt: ein weißer 15-Tonnen-Tank mit der Kennzeichnung 78/2978. Die Gefahrzahl 78 auf orangefarbenem Grund warnt vor Radioaktivität, 2978 vor Uranhexafluorid - eine hochgiftige Substanz, in Verbindung mit Feuchtigkeit ätzender als Salzsäure.
Die Polizei, in diesem Fall wahrlich nicht zu Übertreibungen neigend, sprach von "gravierenden Mängeln" und geleitete die brisante Fracht auf den Hof der Bremer Spedition. Auftrag: den Tank, der selbst in Ordnung war, sofort auf einen intakten Container umladen. Gegen den Spediteur wird ermittelt, ihm drohen bis zu 50 000 Euro Strafe.
Endstation Bremen. Das galt für den verrotteten Container, für das Problem keineswegs. Denn der Lkw kam aus Hamburg, genauer aus dem Hamburger Hafen, wo er per Schiff aus den USA angekommen war. "Dieser Container hätte niemals auf das Schiff kommen dürfen", sagte eine Sprecherin der Bremer Polizei dem Abendblatt. Folglich hätte er auch in Hamburg niemals auf einen Lkw verladen werden dürfen. Und das ist nicht der erste Fall: Vor zwei Jahren etwa stoppte die Polizei einen völlig überladenden Waggon mit Uran an der französischen Grenze, der ebenfalls aus Hamburg kam.
Das wirft Fragen auf: Wie können 15 Tonnen einer derartigen Substanz auf einem vergammelten Container quer durch die Stadt gekarrt werden, ohne dass es jemand merkt? Wie oft wird eigentlich radioaktives Material durch die Hansestadt transportiert? Von wem? Wohin? Mit welchen Transportmitteln? Wer überwacht das? Welche Risiken bestehen für die Bevölkerung?
Weil der Senat diese Daten größtenteils nur für die vergangenen drei Monate speichert, hat die Bürgerschaftsfraktion der Linken die Antworten in monatelanger Puzzlearbeit zusammengetragen. Dem Abendblatt liegen sie exklusiv vor. Ergebnis: 2009 wurden 135 Transporte der gefährlichsten Gruppe I, zu der auch Uranhexafluorid zählt, über Hamburg abgewickelt. 2008 waren es 113. Transporte der Kategorie II gab es im zweiten Halbjahr 2009 genau 49. Auf das Gesamtjahr hochgerechnet, dürften es etwa 100 sein. Daraus folgt: Insgesamt passierten 2009 etwa 235 Transporte mit radioaktiver Fracht die Hansestadt - im Schnitt alle 1,5 Tage einer. Tendenz: steigend. Nicht einmal eingerechnet sind dabei Transporte der Kategorie III: Dazu zählen schwach radioaktive Substanzen etwa für medizinische Zwecke.
"Die unglaublich hohe Zahl von 235 Atomtransporten pro Jahr über Hamburg bei völlig unzureichender Überwachung und Sicherung ist ein hochgefährliches Gemisch", sagt Dora Heyenn, Fraktionschefin der Linkspartei. Der Vorfall vom Montag "bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen. Wäre Uranhexafluorid ausgetreten, hätte das Menschen im Umkreis von mindestens fünf Kilometern in Gefahr gebracht". Heyenn: "Was das in Städten wie Hamburg und Bremen bedeutet hätte, mag man sich gar nicht ausmalen."
Wie groß die Gefährdung wirklich hätte sein können, ist allerdings umstritten. Nach Angaben der Umweltschutzorganisation Greenpeace reagiert Uranhexafluorid (Kurzform: UF6) "lebhaft" mit Wasser oder sogar Luftfeuchtigkeit. Dann bilde sich Flusssäure (Fluorwasserstoff), die bei Berührung oder Einatmung schwere Verätzungen verursache.
Greenpeace hat verschiedene Unfallszenarien durchgespielt und kommt zu der Erkenntnis: Tritt, zum Beispiel nach einem Lkw-Unfall, UF6 aus, "so bestünde im Nahbereich der Unfallstelle ... akute Lebensgefahr". Auch in 200 Meter Entfernung könnte ein einminütiger Aufenthalt "schwere Gesundheitsschäden" zur Folge haben. Bleibe der Behälter unbeschädigt, könnte auch ein Brand von 30 Minuten Dauer und Temperaturen von mehr als 800 Grad UF6 freisetzen. Auch dann bestünde akute Lebensgefahr. Die französische Strahlenschutzbehörde halte sogar "irreversible Schädigungen bei Menschen" noch in Entfernungen von 4,9 Kilometern für möglich. Das hält die Hamburger Polizei für maßlos übertrieben. Uranhexafluorid werde in ihrem "Gefahrgut-Informationssystem" (GEGIS) zwar als schwach radioaktiv eingestuft. Die viel gefährlichere ätzende Wirkung entfalte sich aber nur in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle. "Es muss nicht die ganze Umgebung evakuiert werden", sagte Polizeisprecher Ralf Meyer. Die Wasserschutzpolizei habe über GEGIS von dem Transport am Montag erfahren. Und hat sie ihn kontrolliert? "Nein", sagt Meyer, "sonst hätten wir den Container sichergestellt, wie unsere Bremer Kollegen."
"Jede Imbissbude unterliegt mehr Kontrollen", kritisiert die Innenexpertin der Linkspartei, Christiane Schneider. Und für Fraktionschefin Dora Heyenn sei die Konsequenz klar: "Die beste Lösung wäre, dass der Senat alle Atomtransporte durch Hamburg verbietet."
Pikant: Fachlich zuständig ist vor allem Umweltsenatorin Anja Hajduk (GAL), eine bekennende Atomgegnerin. In ihrer Behörde beobachtet man den steigenden Umschlag atomarer Güter nicht eben mit Freude. Ihr Sprecher verweist darauf, dass diese Transporte im Bund, nicht aber auf Länderebene genehmigt würde. Die grundsätzliche Haltung des Senats zu Kernenergie sei klar, teilt die Behörde mit: "Wir haben Stadtwerke gegründet, die Energie ohne Atomstrom bereit stellen sollen". Weniger Atommüll sei der beste Weg, um Transporte zu reduzieren.