Siegen/Netphen. Konnte der mordverdächtige Linkshänder die tödlichen Schnitte und Stiche mit rechts ausführen? Im Landgericht Siegen widerspricht die Nebenklage vehement.

Es gehe nicht darum, ob der Angeklagte der Täter ist oder nicht, stellt Verteidiger Andreas Trode klar. Sondern ob sein Mandant in der Lage gewesen wäre, der Getöteten von hinten mit der rechten Hand die Kehle durchzuschneiden. Daran knüpft die Staatsanwaltschaft das Mordmerkmal der Heimtücke. Wie berichtet möchte Trode von einem Gutachter feststellen lassen, dass der Beschuldigte Linkshänder ist - und, wie er am Freitag, 7. Juni, im Siegener Landgericht seinen Beweisantrag präzisiert, dass „dieser Angeklagte mit der rechten Hand nicht in der Lage war, der Getöteten die zugefügten Verletzungen ins Hals und Nacken zuzufügen“. Der Mordprozess vor der 1. Großen Strafkammer könnte womöglich in eine weitere Verlängerung gehen.

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Eigentlich war für diesen Freitag die Urteilsverkündung geplant, mit dem Beweisantrag zur Linkshändigkeit musste das aber verschoben werden. Über den hat das Gericht noch nicht entschieden. Zunächst soll der Rechtsmediziner, der den Leichnam der 23-Jährigen obduzierte, ein weiteres Mal vor Gericht aussagen (voraussichtlich am Dienstag, 25. Juni, eigentlich sind hier die Plädoyers geplant) und genauere Angaben zu den Wunden machen; insbesondere ob sie von vorn oder hinten, mit der rechten oder linken Hand zugefügt wurden. In einem Telefonat mit der Kammer hatte der Gutachter bereits bestätigt, dass seiner Einschätzung nach auch ein Linkshänder sehr wohl in der Lage gewesen wäre, die Schnitte und Stiche mit der schwächeren rechten Hand durchzuführen - zumal das Tatgeschehen dynamisch gewesen sei, die Personen ihre Position verändert hätten, auch das Messer in die andere Hand habe wechseln können. Letztlich sei das anhand der Spurenlage aber sehr schwierig festzumachen, da die tiefen Wunden ineinander übergingen - es lasse sich nicht einmal sagen, um wie viele einzelne Schnitte oder Stiche es sich handle.

Landgericht Siegen: Im Mordprozess sollen noch diverse Fragen geklärt werden

Der Angeklagte bestätigt auf Nachfrage der Kammer: Er sei Linkshänder. Dagegen hält die Nebenklage: Das sei falsch. Sie legt Fotos vor, die den Angeklagten zeigen, wie er sein Handy mit rechts bedient, unter anderem bei einem Selfie mit dem späteren Opfer und ihrer Familie. Dafür brauche es eine gewisse Feinmotorik, die Verteidiger Trode in seinem Beweisantrag für seinen Mandanten bestritten hatte: Tätigkeiten die Kraft, Schnelligkeit, Komplexität erfordern, führe er ausschließlich mit links aus. Dagegen hält die Nebenklage auch, dass der Beschuldigte Muslim ist: Im Islam gelte die rechte Hand als „reine“ Hand, die für wichtige Tätigkeiten verwendet werde. „Ein Ehrenmord mit links ist nicht plausibel.“ Der von der Verteidigung bevorzugte Gutachter könne zudem kaum in so kurzer Zeit ein Gutachten erstellen; zumal er nicht mehr bei bei der Charité angestellt sei und dort auch nicht mehr als Gastwissenschaftler arbeite. Vielmehr sei er mit einer Veranstaltungsreihe zur Rechtsmedizin auf Tour. Auch die Staatsanwaltschaft hält diese Begutachtung für „nicht beweiserheblich“: Auch wenn der Mann Linkshänder sei: Das bedeute nicht, „die rechte Hand kann gar nichts“.

Das ist völliger Schwachsinn!
Verteidiger Andreas Trode - über Religion und Linkshändigkeit

Verteidiger Trode regt das auf: Der Gutachter sei seiner Erfahrung nach sehr wohl in der Lage, innerhalb einer Woche ein Gutachten zu erstellen und sich live ins Gericht schalten zu lassen. Der Hinweis auf den Islam „ist völliger Schwachsinn“: Linkshändigkeit sei nicht von der Religion abhängig oder beeinflussbar, sondern genetisch bestimmt. Medizinisch könne eindeutig geklärt werden, ob sein Mandant mit rechts in der Lage sei, einen bestimmten Stich zu machen, einen bestimmten Schnitt zu führen.

In Siegen lernt der Angeklagte seine Lebensgefährtin kennen und lässt sich von ihr aushalten

Bevor die öffentliche Hauptverhandlung für zweieinhalb Wochen unterbrochen wird, verliest die Vorsitzende Richterin, was aus den Akten zum Angeklagten hervorgeht, der weiterhin keine Angaben zu seiner Person machen will. Das deckt sich halbwegs mit dem, was der 24-Jährige selbst dem psychiatrischen Gutachter in der Haft erzählt hat. Demnach ist er syrischer Kurde, mit 7 Jahren in die Schule gekommen, hat diese mit 9 aufgrund von Gewalterfahrungen und weil er Geld verdienen wollte abgebrochen. Er arbeitete demnach als Automechaniker, bis er 2013 allein in die Türkei floh, wo er sich als Hilfsarbeiter durchschlug und keinen Kontakt zur Familie hatte, da er sich kein Handy leisten konnte. Als die Familie dann nachkam, flohen sie 2016 in einem kleinen Boot mit 40 Insassen nach Griechenland und weiter nach Deutschland. Die Fahrt übers Meer habe ihn nachhaltig traumatisiert.

2017 landete der Angeklagte zunächst in Siegburg, mangels Pass ohne Schulbesuch, zog dann nach Siegen, wo er bis Ende 2018 aufs Berufskolleg ging und das dann abbrach, weil es ihm „nicht gefiel“ und er lieber Geld verdienen wollte, um so zu leben wie andere junge Leute. Das Jobcenter schickte ihn zur Handelsschule und zu einer Leiharbeitsfirma, diese Stelle verlor er aber nach Auseinandersetzungen mit seiner Chefin. Wieder schlug er sich als Hilfsarbeiter durch, bis er diesen Job wegen der Corona-Pandemie verlor. Seine Lebensgefährtin, die er in Siegen kennengelernt hatte und die als Produktionshelferin arbeitete, „unterstützte ihn in jeglicher Hinsicht, auch finanziell“.

Angeklagter klaut in City-Galerie Siegen Kopfhörer und schiebt‘s anderem in die Schuhe

Seit 2017 habe der Angeklagte Cannabis konsumiert, da er die „Bilder des Krieges nicht aus dem Kopf bekam“ und sich selbst verletzte, durch die Drogen sei es ihm besser gegangen. Die Behörden wurden auf ihn aufmerksam, als er in der City-Galerie Kopfhörer klaute - was er dem Ladendetektiv gegenüber abstritt - und der Polizei falsche Personalien nannte, weshalb ein Unschuldiger vor Gericht gestellt und dann freigesprochen wurde.

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Außerdem wurde er mit größeren Mengen Cannabis in Verkaufs-Tütchen erwischt, in seiner Wohnung in Netphen fanden sich 144 weitere solcher Tütchen. Bei einer anderen Gelegenheit wurden knapp 80 Gramm Cannabis sowie Ecstacy-Pillen in seinem Auto gefunden, zusammen mit einem Einhandmesser und einer Softair-Pistole „zur Verteidigung“. Er erhielt eine Verwarnung und vier Wochen Dauerarrest, musste 200 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten und wurde unter Betreuung gestellt. 2020 erhielt der Angeklagte einen Strafbefehl über 250 Euro, weil er Polizisten beleidigt und herabgewürdigt hatte: Neben Kraftausdrücken sagte er zu einem Beamten, dieser wäre ohne die Uniform „nur ein Mädchen“.